Anna schreibt, Texte

Unterströmung

Sie war eine Mörderin, da gab es nichts zu beschönigen. Schlicht und ergreifend eine Mörderin. Sie hatte gemordet durch Unterlassung, und damit würde sie von nun an leben müssen.

A. fröstelte, als sie aus der Tür des Krankenhauses in den sonnigen Februartag hinaustrat. Aus der Tür des Krankenhauses, in dem C. soeben, durch schwere Medikamente betäubt, gestorben war – in ihren Armen gestorben war. Sie zog die Jacke fester zu, obwohl keine Jacke der Welt etwas gegen die Kälte in ihr ausrichten konnte. Sie war wie betäubt.

Als sie vor wenigen Stunden in Panik mit C. ins Krankenhaus gefahren war, war sie noch sicher gewesen, man könnte irgendetwas für ihn tun, eine Infusion, eine Operation, Medikamente – man kann doch immer irgendetwas tun! –, aber nach einer ausgiebigen Untersuchung machte der Arzt ihr keine Hoffnung. Und kurz darauf war C. tot. Durch ihre Schuld.

Blind lief sie durch die wohlbekannten Straßen. Die Sonne schien – wie kann die Sonne einfach weiter scheinen?! – und die Menschen saßen eingemummelt in Decken vor den Cafés und genossen ihren Latte Macchiato. Wie können sie nur einfach alle weitermachen als wäre nichts geschehen?!

Als sie schließlich vor dem Friedhofstor stand – wie war sie hierher gekommen? – öffnete sie ohne groß nachzudenken die Pforte und trat ein. Reihe um Reihe standen hier die Grabsteine wie Soldaten unter alten Bäumen. Bisweilen war wohl ein Soldat müde vom Strammstehen geworden und eingenickt, dann neigte sich ein Stein der Erde zu. Sie schlenderte die Reihen auf und ab, nahm die Truppe ab, wie ein General schritt sie endlose Reihen von Steinen ab, ein müder, desillusionierter General. Hier und da las sie eine Widmung, die Zeile eines Gedichts oder Psalms. Auf manchen Gräbern blühten Schneeglöckchen, sie sah sie und vergaß sie augenblicklich.

Sie war nicht hier und nicht woanders, sie war nirgendwo, sie war sich selbst verlorengegangen in diesen Stunden, in denen sie ziellos herumwanderte.

Tot. Weg. Durch meine Schuld. Mea culpa. Mea maxima culpa.

Fünf Jahre später war es wieder ein sonniger Tag, und wieder saßen die Menschen vor den Cafés.
Sie hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass die Sonne einfach schien, egal, wie es den kleinen Menschenwesen auf diesem blauen Ball, der sie umkreiste, eben gerade ging. Sie schien auf Schlachtfelder ebenso wie auf blühende Gärten, auf Todeslager ebenso wie auf Wochenbetten. So ist es halt. Ebenso, dass für alle anderen das Leben weiterging – wie oft hatte sie in den vergangenen fünf Jahren den Moment genossen, gelacht, über einen albernen Witz, während vielleicht die Frau neben ihr gerade innerlich starb? – so ist das Leben.

Nur eins änderte sich nicht: Das Bewusstsein ihrer Schuld. Die Schuld, von der keine Beichte, keine Therapie, weder Mensch noch Gott sie je befreien konnte. Die Schuld brannte immer noch genauso stark in ihrer Seele wie vor fünf Jahren.

Mea culpa. Mea maxima culpa.

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