10. November. Sonntag. Endlich mal wieder Sonnenschein, das hebt doch gleich das Gemüt. Die Kopfschmerzen habe ich weggeschlafen, die schlechte Laune auch.
Heute Vormittag endlich in den Frosch gebissen und Das. Letzte. Angstprojekt. angegangen und mir erstmal einen Überblick verschafft, wo wir stehen. Es ist – Überraschung, Überraschung – gar nicht so schlimm wie befürchtet, die To-Do-Liste übersichtlich. Gut, es wird viel Fleißarbeit nötig sein (Bilder finden und bearbeiten, Texte umbauen, Portfolio befüllen), aber im Moment sehe ich nichts wirklich Grässliches oder Schwieriges.
Ich glaube, der Knoten lockerte sich langsam, als ich letztens im Gespräch mit H. beschloss, die Kundin weitestgehend außen vor zu lassen, nachdem sie auf Nachfragen immer so genervt reagiert hatte. Anscheinend will sie sich nicht damit beschäftigen, also mache ich jetzt mal.
Und sonst: Ein bisschen rumlesen, spielen (str8ts); spätes Frühstück, weil H. vormittags noch einem Kunden am Telefon was erklären musste.
H. bewundert, dass dieser Kunde sich wochentags voll auf seine Klienten einlässt und alles übrige frühmorgens, abends und am Wochenende erledigt. Dass er damit die Arbeitszeit seiner Dienstleister ganz schön beansprucht, wird von H. klaglos hingenommen, schließlich setzt er selbst sich kaum Grenzen, was seine Ansprechbarkeit für Kunden angeht. Die Bewunderung ist also folgerichtig, aber irgendwie ist das alles absurd.
Den herausragenden Kurzfilm Elle pis son char (Französisch mit englischen Untertiteln) gesehen. Es ist das Videotagebuch einer Frau, Lucie Tremblay, die viele Stunden fährt, um dem Mann, der sie als Kind sexuell missbraucht hat, einen Brief zu überbringen. „Ich habe viele Jahre seine Scham getragen, jetzt will ich sie ihm zurückgeben.“ Ihr Sohn Loïc Darses, inzwischen Filmemacher, fand zehn Jahre später die Bänder und machte daraus diesen Film. Sehr stark.
Kurz vor drei aufgebrochen zum Brandenburger Tor. Ich musste Visions in Motion anschauen, die Installation von Patrick Shearn, die anlässlich der Feierwoche zum 30. Jubiläum des Mauerfalls auf der Straße des 17. Juni aufgebaut worden war.
Fuhr also mit dem Bus zum Potsdamer Platz, von dort zu Fuß vorbei am Holocaust-Mahnmal zum Brandenburger Tor, wo sie für die gestrige Feier eine gigantische Bühne aufgebaut hatten.
Dann mitten ins Kunstwerk hinein, hindurch, Farben, Licht, Menschen, gedämpfte Straßenmusik, eine unglaubliche Stimmung. Die Botschaften auf den bunten Bändern, alle wünschen sich doch Friede, Freiheit, Glück, ein paar auch Gleichberechtigung, mehr Fairness, mehr Umeinander-Kümmern. „Go vegan“ steht auf einem Band, auf einem anderen „Berlin Love“, „Peace for Everyone“ auf einem dritten. Auch fremde Schriftzeichen sind zu sehen, asiatische, arabische, hebräische. Hier haben 30.000 Menschen ihre Vision, ihren Wunsch für die Zukunft auf bunte Bänder geschrieben, die zwischen vielen tausend weiteren unbeschrifteten Bändern von einem Netz herabhängen, einen farbigen Teppich bilden, sich im Wind wiegen und die Wünsche hinaustragen in die Welt.
Es ist ein archaisches Kunstwerk, das die Sinne auf vielen Ebenen anspricht, und wohl deswegen funktioniert es so gut.
Ich wandere die 150 Meter hindurch und dann weiter, nochmal dieselbe Strecke, zum sowjetischen Ehrenmal, das heute die Touristen verwirrt: Wieso steht das hier? War die Mauer nicht dort hinten? War hier nicht Westen? Ja genau, liebe Kinder, und so einfach war es eben alles nicht damals mit der Mauer und den Blöcken und den Russen und den Amis. You are leaving the American Sector, und dahinter, was?
Ich setze mich auf die Betonplatten, die eine Fahne halten, die auf einen Ausgang zum Park, zum Tiergarten weist, und warte. Warte darauf, dass die Sonne untergeht, dass sie den Himmel hinter der Siegessäule orange färbt, diesen Himmel über Berlin, dass der Fernsehturm hinter dem Brandenburger Tor verblasst, seine Spitze im Nebel verschwindet, die angebrachten Scheinwerfer die bunten Bänder zum Leuchten bringen.
Dann gehe ich nochmal hindurch, diesmal auf das Tor zu, auf den leuchtenden Erdball, den man aufgebaut hat, und auf den weitere Wünsche projiziert werden, die Besucher in der letzten Woche auf der Website des Festes hinterlassen haben.
Und nun kommt ein Windchen auf, und die Bänder wiegen sich, rascheln wie Gras, und die tausenden Menschen befinden sich plötzlich nicht mehr in der Berliner Innenstadt, sondern in der Steppe, Auge in Auge mit ihren Ängsten, ihren Wünschen, ihren Träumen, ihren Göttern und Dämonen.
Und darüber leuchtet der türkise Bänderhimmel, die tiefblaue Bändersee.
Es ist magisch, und ich bin sehr dankbar, dass man es den Menschen möglich macht, dieses Kunstwerk wirken zu lassen und uns nicht durch laute Spaßmusik aus den haushohen Lautsprechertürmen beballert. Stattdessen steht alle hundert Meter ein Straßenmusikant, einer lässt zarte Klänge aus seiner E-Geige in den Berliner Himmel strömen, ein anderer spielt archaische Rhythmen auf einem Schlagzeug aus Farbeimern, Kochtöpfen und Pfannen, der Dritte lässt sein Saxophon klagen.
Ich will noch zum Alexanderplatz, dort projizieren sie Filmausschnitte auf Häuserwände, die die Zeit von den ersten Demonstrationen im Oktober 1989 bis zum Mauerfall und danach zeigen. Also suche ich mir meinen Weg ums Brandenburger Tor und die Bühnenlandschaft herum, und als ich auf den Pariser Platz trete, hängt mitten über Unter den Linden ein großer, gelber Fast-Vollmond.
This night is magic.
Alles ist voll, ein Bus zum Alex macht keinen Sinn, also tief hinunter in die U-Bahn, die „Kanzlerlinie“, und die zwei Stationen zum Hauptbahnhof gefahren, dort gelaufen und gelaufen und die erste Treppe hoch und weiter gelaufen und die nächste Treppe hoch und noch ein Stück und die letzte Treppe hoch zur S-Bahn und mit der zum Alexanderplatz gefahren und dann geschaut und wiedererkannt: Da ist Bärbel Bohley und dort Stefan Heym, und die hastig selbstgemalten Transparente und das Neue Forum, und es ist alles unendlich weit weg und doch so nah. Und als die Massen durch die offenen Grenzübergänge stürmen, wende ich mich ab und gehe zurück zur U-Bahn und fahre nach Hause, eine Träne im Augenwinkel.
Danke.
Woran ich mich erinnern will:
Nicht weißen, hassenden Männern die Welt überlassen!
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