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Lots Frau

Kurt Vonnegut schreibt in Slaughterhouse Five über Sodom und Gomorrah und Lots Frau:

„And Lot’s wife, of course, was told not to look back where all those people and their homes had been. But she did look back, and I love her for that, because it was so human.
She was turned to a pillar of salt. So it goes.
People aren’t supposed to look back.“

In meiner Wahrnehmung wird Lots Frau immer wegen ihres Ungehorsams, ihres eindeutigen Verstoßes gegen ein göttliches Gebot ihres Unglaubens verachtet, ihre Strafe als nicht nur gottgegeben sondern auch verdient angesehen.
Vonnegut bewertet das anders, sieht ihren Wunsch zurückzuschauen als menschlich.

Und ich frage mich: Warum sollen Menschen nicht zurückschauen? Warum soll es immer nur vorwärts gehen? Was ist mit den Lehren, die wir aus der Geschichte ziehen können und doch auch sollen?
Warum schaut Lots Frau (die in der Bibel keinen Namen trägt) zurück? Neugier? Sensationslust? Oder vielleicht auch Mitgefühl? Denn auch wenn diese Orte der Sünde und die Sünder in ihnen zerstört werden mussten (?), waren es doch auch Menschen. Und wer von Euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Und schließlich haben Lot und seine Familie lange in dieser Stadt (Sodom) gelebt, hatten dort Freunde, Verwandte, Wohlstand, Annehmlichkeiten, eine Geschichte.

Und Gott ließ sie zu Salz erstarren, sie war also verdammt, bis ans Ende der Tage zurückzuschauen auf diesen schrecklichen Ort.
Ist das die Lehre? Dass es irgendwann an der Zeit ist, nicht mehr zurückzuschauen, sondern weiterzugehen? Wenn man genug aus der Vergangenheit gelernt hat?

Kann man je genug gelernt haben? Kann man je verstehen?

Man rät das ja auch Menschen nach einer schmerzhaften Trennung oder einem Todesfall: Du muss nach vorne schauen. Das Leben geht weiter.

Aber kann es für manche Menschen vielleicht doch richtig sein zurückzuschauen? Einfach weil sie noch nicht bereit sind, weiter zu gehen? Weil sie noch etwas aus der Vergangenheit zu lernen haben? Weil da noch unbeantwortete Fragen sind?

Und ist es nicht nach wie vor für eine Gesellschaft wie für den einzelnen Menschen wichtig zu wissen, woher sie kommt, wo ihre Wurzeln sind? Kann man Orientierung für die Zukunft gewinnen, ohne die Vergangenheit zu verstehen?

Dr. Rüdiger Sachau, Direktor der Evangelischen Akademie zu Berlin, hat eine ermutigende Sicht auf die Geschichte:

„Könnte es nicht vielmehr sein, dass Gott vor dem sich Umwenden warnt, um die Menschen auf der Flucht zu schützen. Es geht nicht um eine Gehorsamsprüfung sondern um die Fürsorge Gottes, der Lot und seine Familie vor dem schrecklichen Anblick der brennenden Stadt bewahren möchte. Das Verbot soll die Menschen schützen, die Gott retten möchte.

Gott wollte nicht nur keinen Beobachter des unermesslichen Schreckens bei der Auslöschung der beiden Städte, sondern er wusste, dass Menschen den grauenvollen Anblick seines Strafgerichts nicht überstehen können. Die Salzsäule wäre dann für den Leser der Geschichte nicht der Beleg, dass Gott die Missachtung seines Verbots auf der Stelle und mit aller Härte geahndet hat, sondern dass der Anblick des Grauens dem Menschen nicht nur für einen Moment, sondern für immer den Atem verschlägt.

(…) Es fällt mir nicht besonders schwer, mir vorzustellen, warum Lots Frau zurück geschaut hat, als sie und ihre Familie Sodom gerade eben fluchtartig verlassen hatten. Vielleicht ging es ihr zu alles viel zu schnell? Wahrscheinlich hat sie keiner gefragt, als ihr Mann beschloss zu fliehen? Männer übergehen das Innenleben ihrer Frauen gerne. Vielleicht hat sie sich dem einfach widersetzen wollen, wenigstens für einen Augenblick. Und so hat sie heimlich, hinter dem Rücken ihres Mannes, noch einmal zurückgeschaut auf das Leben, das ihr gerade genommen wurde.

War es Mitleid mit ihren Nachbarn und Freunden –die Töchter wollten bald heiraten. Was sollte aus all den Menschen werden, die ihr nahe standen? Die Kinder von Gegenüber, der Kaufmann, die nette Nachbarin, die Schwiegersöhne und ihre Familien?

Hat sie die Liebe zu den Menschen dort zurückschauen lassen? Auch wenn in der Nacht schreckliche Dinge geschehen waren, ich verstehe, dass die Liebe zu den Menschen, selbst den aggressiven Sodomern, größer sein kann als die Weisung der Engel nicht zurück zu schauen.

Sie konnte noch nicht die Konturen der Zukunft sehen oder ahnen, die uns in den Bildreden Jesu vom kommenden Reich vor Augen gemalt werden. Zu frisch waren die Verletzungen, zu tief der Schock, diese Erlebnisse und Erfahrungen konnte sie in diesem Augenblick noch nicht als Vergangenheit hinter sich lassen.

Stattdessen war ihr Herz voller Anteilnahme mit denen, die verbrannten, voller Erinnerungen an die guten Zeiten.

Ich meine, Frau Lot ist ein Vorbild der Anteilnahme und Empathie. Sie nimmt Anteil am Schicksal der Stadt, die niederbrennt und vergisst dieMenschen nicht, die gerade zu Tode kommen – sie erweist sich als menschlich.

Und sie hat den Preis für ihr Mitleid gezahlt.

Gott wollte sie schonen, aber sie hat sich selbst nicht geschont.

Sie ist erstarrt im Angesicht des Leidens der anderen.

(…) Die Frau hat zurückgeschaut. Sie hat das Leid und das Elend der Menschen in der Stadt gesehen, das Gericht Gottes, unter anderem auch über ihre Schwiegersöhne. Es war so furchtbar, dass das Salz ihrer Tränen sie innerlich erstarren ließ, zur Salzsäule, wie es in der Bibel heißt.

So zahlreich waren die Salzkörner der Tränen der Frau Lot, dass sie eine Salzsäule aufhäuften. Sie ist innerlich gestorben.

(…) Ihre Sehnsucht nach denen, die sie ungefragt verlassen musste, der Mangel, der sich bei ihr daraufhin eingestellt hat, die Sehnsucht, der sie nachgegeben hat, hat sie am Ende verbittern und erstarren lassen.

Sie konnte nicht mehr weiter auf derFlucht.

(…) Frau Lot aber blickte zurück und erstarrte vor Entsetzen zur Salzsäule.

Dieser Satz bringt eine Erfahrung zur Sprache: Der Anblick einer Katastrophe vermag uns zu versteinern.

Ich lese da keine Strafe für einen verbotenen Blick, sondern die Folgedes getanen Blicks, Ausdruck einer Erfahrung, Folge der Rückschau: Der Blick auf die Katastrophe kann überfordern und zu Stein werden lassen.

(…) Die Katastrophen in der Welt sind wirklich, aber sie sind nicht die ganze Wirklichkeit. Wer nur das Unheil sieht verhärtet sich, wird unfähig, sich und andere zu retten. Wird zynisch, depressiv, wie auch immer.“

Quelle: Dr. Rüdiger Sachau: Zur Rehabilitation von Frau Lot. „Sommerpredigt“ des Freundeskreises der Evangelischen Akademie zu Berlin in der Evangelischen Kirche Neuhardenberg. 28.6.2015

Und ich denke, Vonnegut hat das auch gesehen: Das zutiefst Menschliche am Verhalten von Lots Frau. Und nur die schwarze Pädagogik patriarchaler Systeme konnte das anders werten.

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