Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Angst essen Seele auf

2. Februar 2020. Sonntag. Schlecht geschlafen, denn in der Nachbarwohnung wird gefeiert und H. schnarcht. Die Feier ist gar nicht so schlimm, es wird keine Musik gespielt, nur laut geredet und gelacht, das könnte ich wegignorieren, aber mein Gehirn kann nicht Hintergrundgeplauder und Schnarchen ausblenden, also weckt mich immer das andere, wenn ich mich auf eins eingetunt habe. Sehr anstrengend.
Aufgestanden um sechs.

Morgenroutine, Frühstück, dann geht’s los in den Berliner Südwesten. H. hat dort zu tun, ich schaue mich um.
Und werde schon nach 100 Metern von einem Abgesandten der örtlichen Bürgerwehr höflich angesprochen, warum ich hier, bitteschön, von jedem Haus ein Foto machen würde?

Für jemanden, der in einem Viertel wohnt, das für historisch und architektonisch interessante Villenarchitektur leidlich bekannt ist,sollte ein solches Verhalten nicht allzu überraschend sein, ist es nun aber offensichtlich doch.
Der junge Mann (wirklich sehr höflich, nichts auszusetzen) wirkt dann völlig konsterniert, als ich ihn mit historischen Fakten und Banalitäten zuschwalle, die belegen sollen, dass mich wirklich „nur“ die Architektur interessiert und ich nichts Böses im Sinn habe.
Als ich ihn frage, welcher übler Absichten ich denn verdächtigt werde, meint er nur, „Sie könnten ja eine Einbruchsserie planen oder so etwas“.

Das ist nun auf so vielen Ebenen absurd, dass ich mir das Lachen verkneifen muss. Im Laufe meines weiteren Spaziergangs komme ich aber darüber ins Grübeln, denn: man (er)kennt sich im Viertel, und ich gehöre ganz eindeutig nicht hierher, entsprechend misstrauisch werde ich beäugt; an vielen Gartenzäunen prangen Schilder „Bewacht durch…“ und dann der Name irgendeines Sicherheitsunternehmens; an Gartentoren oder Eingangstüren hängen Videokameras; man hat eine Vorliebe für große, kräftige Hunde…
Die Menschen in diesem Viertel haben Angst. Wie berechtigt diese Angst ist, kann ich nicht beurteilen, ich fürchte aber: nicht in dem Maße, wie sie zur Schau gestellt wird. Und zum wirklich allerersten Mal spüre ich in „meiner“ Stadt deutlich, welche Stimmung zu Misstrauen, Ausgrenzung, Hass, Verfolgung und letzten Endes auch Vernichtung führen kann. Und ich bin eine mittelalte, mollige, weiße Frau – entspreche also in keinster Weise irgendeinem Gefährder-Feindbild.
Es gruselt mich sehr.

H. treffe ich nach gut zwei Stunden wieder, wir kehren noch kurz in einem Café ein, und als wir gehen, beginnt es zu regnen. Wir schaffen es gerade noch zum S-Bahnhof, dann schüttet es wie aus Eimern. Timing!
Als wir in Kreuzberg auf die Straße treten, hat es aufgehört und wir kommen trocken nach Hause.

Ich bin sehr müde, aber auch aufgedreht und kann nicht schlafen, halte aber wenigstens eine kurze Mittagsruhe.
Für Arbeit reicht die mentale Kapazität dann nicht mehr, also beschäftige ich mich noch eine Weile mit Internetlesen und Denkspielen.

Und abends gibt es Sauerbraten!

Woran ich mich erinnern will:
Zum ersten Mal wirklich gespürt, wie Angst die Basis für totalitäre Regimes bilden kann.

What I did today that could matter a year from now:
Spaziergang durch ein mir bis dahin unbekanntes Viertel.
Trotz allem nett und offen mit misstrauischen Menschen umgegangen.

Was wichtig war:
Mich nicht ins Bockshorn jagen lassen.
Bewegung.
Etwas neues.

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Ein Gedanke zu “Angst essen Seele auf

  1. Pingback: Emo-Blues | Annas Miniaturen

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