Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Erstes Eis

8. Mai 2020. Freitag. 75 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs. Erst- und wohl auch einmalig ein Feiertag in Berlin.
Meine Oma war damals im sechsten Monat schwanger mit ihrem ersten Kind, ein Brot musste für zwei Personen drei Tage reichen, Fett und Fleisch gab es nicht, die Wohnsituation war erbärmlich, die Stadt zerstört, die Angst vor „den Russen“ übermächtig, und man fühlte sich nach wie vor als Spielball der Politik.
Ich habe wenig Verständnis für die Jammerlappen, die derzeit zu „Hygienedemos“ rennen und Verschwörungstheorien verbreiten. Die Realität ist viel, viel schlimmer.

Ausgeschlafen aufgewacht um 5:45, es ist feiertäglich still, mittlerweile spürt und hört man schon wieder einen Unterschied zwischen den Tagen. Die Sonne scheint, die Amsel singt und die Spatzen tschilpen. So war es vor Ostern jeden Tag, und ich wusste, ich würde mich danach zurücksehnen.
Später am Tag hören wir, dass rund um Berlin Staus herrschen, weil die halbe Stadt anscheinend Richtung Brandenburg „ins Grüne“ fährt.

Wir machen nach dem Frühstück einen Spaziergang in den benachbarten Stadtteil. Dort haben sie es nicht so mit dem Abstandhalten, wohl auch weil die Bürgersteige schmaler sind und es damit generell anstrengender ist, sich aus dem Weg zu gehen. Lange Schlangen (immerhin mit Abstand zueinander) vor Bäckern und kleinen Läden, drinnen setzt niemand eine Maske auf. Mir erscheint die zweite Welle derzeit so sicher wie das Amen in der Kirche. Wartet mal ein, zwei Wochen ab.

Zum Abschluss des Spaziergangs gönnen wir uns ein Eis, das ist schön.

Ich verbringe den restlichen Tag vor dem Rechner, allerdings nicht arbeitend, sondern lesend, sammelnd, sortierend. Nachrichtenbeiträge, Artikel, wissenschaftliche Studien zu Corona – es ist ganz schön viel aufgelaufen in der vergangenen Woche, das will ich sichten. Der Kopf will Futter, und davon gibt es momentan mehr als genug.

Eine Stunde Fotos bearbeitet, gelesen, Kuchen gegessen, Abendbrot gemacht (Spargel). Nichts im Fernsehen, also Quality Time mit H. und Maibowle.

* * * * *

[Update 9.5.2020: Nach der Lektüre von Juna Grossmans großartigem Text Gedanken, nicht nur zum 8. Mai sehe ich, dass man den ersten Absatz als Selbstmitleid interpretieren kann. So war er nicht gemeint. Er entstand nach der Lektüre der Tagebucheinträge meines Großvaters zu den Tagen Anfang Mai 1945, in denen er sachlich konstatierte, was ist. Er analysierte nicht die Gründe und Ursachen. Vielleicht war ihm sogar irgendwo bewusst, dass das alles irgendwie „verdient“ war.

Dass das so war (also verdiente Konsequenz eigenen Unrechts) steht für mich überhaupt nicht zur Diskussion, daher kam mir der Gedanke auch nicht, dass man meine Äußerung auch anders verstehen kann. Das ist das Problem: Mein Gegenüber weiß ja nicht, was ich im Kopf habe, und ich war nachlässig.

Es ist unbestritten, dass die Kriegserfahrung für die Zivilbevölkerung traumatisch und schrecklich war. Ebenso unbestritten ist, dass der Nationalsozialismus von einem großen Teil der Bevölkerung gewollt und von einem ebenso oder noch größeren gutgeheißen oder hingenommen wurde.

Auch meine Großeltern waren Anhänger des Nationalsozialismus. Sie waren nicht Parteimitglieder, aber sie passten sich an, wo es ging, um zu profitieren, selbst wenn es nur im Kleinen war. Sie waren auf keinen Fall „dagegen“. Auch waren sie Antisemiten. Sie waren nicht selbst gewalttätig gegen Juden (oder andere Opfer), aber wohl eher wegen mangelnder Gelegenheit/ Macht als aus Überzeugung. Sie waren Teil der schweigenden (und gutheißenden) Mehrheit. Kleine Leute.

Ob sie deshalb „verdient“ haben, wie es ihnen ging? Auf einer globalen, historischen, moralischen Ebene wahrscheinlich. Auf einer individuellen? Ich bin mir nicht sicher. Aber wahrscheinlich schon. Auch Nichtstun, Geschehenlassen beinhaltet Schuld. Wer nicht zum Widerstandskämpfer taugt, muss mit der Schuld und dem schlechten Gewissen, nichts getan zu haben, leben.

Was mich ansprach an den Tagebucheinträgen war im Moment eher die Erkenntnis, bei wie wenig heute gejammert und geschrieen wird und wie viel – auch und gerade heute – anderswo Menschen aushalten mussten und müssen. Demut und Dankbarkeit empfinde ich angesichts der Tatsache, dass es uns so gut geht wie wenigen Menschen auf der Welt und in der Menschheitsgeschichte. Und dennoch sind wir chronisch unzufrieden und quengelig. Das regt mich über die Maßen auf.

Der Nationalsozialismus ist ein schlechter Ansatzpunkt für derartige Gedanken. Ich könnte daher diesen ersten Absatz löschen, weil ich einsehe: Das war nicht glücklich gedacht, und ich sollte es besser wissen, so etwas auch noch aufzuschreiben.
Manchmal braucht man einen Anstoß von außen, um das zu erkennen.
Ich lasse ihn stehen, weil ich die Auseinandersetzung damit wichtig finde. Ich muss da noch weiter drüber nachdenken.]

Woran ich mich erinnern will:
Im Schatten unterm Baum sitzen und Eis schlecken. Kleine Fluchten.

What I did today that could matter a year from now:
Rausgehen.
Lernen.

Was wichtig war:
Rausgehen.
Anerkennen, wie nervös und unter Druck ich bin.
Alte Tagebücher lesen (Mai 45).
Ausruhen.
Den Kopf füttern.

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