Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Der dritte Tag in der Hölle: Kontrolle zurückgewinnen

14. Januar 2021. Donnerstag. Kein nächtlicher Anruf vom Krankenhaus, wie gut. Ich wache mit Kopfschmerzen auf, das ist weniger gut, das kann ich jetzt nicht gebrauchen. Sie verschwinden zum Glück im Laufe des Vormittags.

Von 22:00 Uhr bis kurz vor drei geschlafen, dann wach gelegen bis um vier. Viele Gedanken, natürlich. Nochmal eingeschlafen bis um sechs, kurz herumgewälzt und dann nochmal bis um sieben. Insgesamt gute sieben Stunden, das ist großartig. Erholt fühle ich mich natürlich nicht, aber vielleicht reicht es, dem Körper ein wenig davon zu geben, was er braucht.

Um sieben Uhr aufgestanden und bis neun mit M. gesessen und geredet: wie es mir geht, wie ich ticke, wie anders H. und ich an Dinge rangehen. Ich habe relativ schnell intuitiv einen Überblick über die möglichen und die sinnvollen Optionen, er geht Probleme eher linear und systematisch an, filtert keine Option von vornherein aus. Oft kommen wir zum selben Ergebnis, nur braucht er länger dafür, dafür steht es dann auch fest, während ich oft nochmal ins Zweifeln komme. Vom Gespräch mit H.s Schwester gestern. Versuch einer groben Tagesplanung.

Ich erlaube ihr, an H.s Laptop, mit dem ich seine Mails abrufe, ins Internet zu gehen. Später baue ich ihr meinen Laptop auf – es ist mir zu heikel, dass sie auf H.s Rechner aus Versehen etwas ändert, löscht oder ein Programm schließt, das unbedingt offen bleiben muss, weil ich das entsprechende Passwort zum Öffnen nicht habe. Aus diesem Grund darf jetzt auch keins von H.s Geräten ausgehen – mir fehlen noch sämtliche Passwörter, PINs usw.

Ich versuche mich an der Aufrechterhaltung gewohnter Strukturen: Nachrichten lesen, Feedreader lesen, Zeiterfassung nachtragen. Es geht mäßig, mein Kopf ist ein Sieb. „Kopp nur zum Haareschneiden!“ ist einer von H.s Lieblingssprüchen, und der geht mir mehrmals am Tag durch denselbigen, wenn ich wieder irgendwo stehe und vergessen habe, was ich da wollte.

H.s Nichte hat eine SMS aus Schottland geschrieben, ich antworte ihr. Sie waren sich eine Zeitlang sehr nah, als sie noch in Berlin lebte und es H. sehr schlecht ging (Schulden, Trennung von einer großen Liebe – das war kurz vor meiner Zeit).

9:45 Frühstück mit M. und wieder reden: Essensplanung, was ich mit der Unmenge Raclettekäse anfange, die ich von Silvester eingefroren habe, warum mir die Essensplanung gerade so schwer fällt – weil ich noch die gemeinsame Planung von H. und mir und unsere Routinen der letzten Zeit im Kopf habe und bei jedem Stück Gemüse oder Fleisch überlege: Was hatten wir damit noch vor? Ach ja, ach, das geht ja jetzt nicht.
Und jedes Mal ist es ein Stich ins Herz.

Von elf bis zwölf etwas Arbeit: eine Zustandsmail an die eine Kundin, ein paar Antworten auf Fachfragen und ein Zustandsbericht an die Lieblingskundin, ein Anruf der Agentur des GroßenGrausigen Projekts: Große Betroffenheit, weil man H. ja persönlich seit Jahren kennt, Zusage voller Unterstützung. Gott, wie gut das alles tut! Danke, danke, danke!

Aber natürlich auch die geschäftsmäßige Überlegung, ob ich denn überhaupt in der Lage bin, die Kunden jetzt angemessen zu betreuen, und ob ich nicht doch lieber vorübergehend jemand anderen ins Boot holen soll… Ich verstehe das, aber ich brauche jetzt auch die Aufgaben, glaube ich. Und vor allem das Geld – wovon soll ich denn leben, wenn meine Arbeit jetzt andere machen? Es muss irgendwie gehen, es muss.

Anruf in der Station, dort ist die Hölle los, ich solle meine Nummer hinterlassen, eine Ärztin rufe zurück.
Das geschieht nie, ich rufe nachmittags nochmal an, auch da hat kein Arzt Zeit – ein Notfall auf der Station.
Die Ansage des Pflegers: Die Situation ist unverändert, H. sei vielleicht ein wenig schwächer, aber „minimal“, und alles sei stabil. Beruhigen tut mich das natürlich nicht, denn dies ist ein „stabil“ auf dem niedrigsten Niveau.

Den Nachmittag über beschäftige ich mich mit H.s Firma: Ich höre seinen AB ab, nehme Kontakt zu der Kundin auf, rede mit ihr ziemlich offen. Hinterher denke ich, ich muss da etwas diskreter sein, solange die Situation noch so unklar ist, sonst sind die Kunden alarmiert und suchen sich sofort Ersatz. Besser man hält den Laden jetzt erstmal irgendwie am Laufen bis klarer ist, ob und wie es eventuell weitergehen könnte.

Ich wühle mich durch seinen Rechner, finde Informationen zu Kunden und Projekten sowie die Buchhaltung für die Steuer. Sehr gut. Besonders freue ich mich über die Datenbank, in der er immer seine Arbeiten aufgelistet und gleich mit Preisen versehen hat. Wahrscheinlich sind das nicht die Preise, die er dann tatsächlich berechnet, das muss ich noch prüfen. Aber mit dieser Datei kann ich mir einen Überblick verschaffen, mit wem er zuletzt zu tun hatte und welche Arbeiten noch in Rechnung gestellt werden können. Die letzte Eintragung stammt vom letzten Sonntag, und das stimmt; am Montag hatte er keinen wesentlichen Kundenkontakt mehr.
Zur Sicherheit kopiere ich die wichtigsten Daten auf meinen Rechner.
Ich bin erstmal sehr erleichtert: Es besteht die Chance, dass ich mit diesen noch zu stellenden Rechnungen wenigstens einen Teil der laufenden Kosten decken kann.

Um zwei gehe ich kurz raus, rüber zu H.s Haus, schaue in den Briefkasten (nix), treffe den Nachbarn J., den ich vage kenne. Ihm erzähle ich nur noch die abgespeckte Version: Dass H. seit dieser Woche im Krankenhaus ist und es ihm „nicht so gut geht“, nein, kein Corona, das Herz. Oh je, na dann alles Gute, aber wenigstens kein Corona. Das Schreckgespenst wirkt. Dass H.s Zustand von dem eines Corona-Patienten im Endstadium nicht so weit entfernt ist, lasse ich unerwähnt.

Dann zum Drogeriemarkt und zum kleinen Supermarkt. M. braucht ein paar Dinge, und ich hole noch Ergänzungen für unsere geplanten Essen.

Dann wieder an H.s Rechner. Ich beantworte die Mails einer gemeinsamen Kundin an uns, erzähle ihr auch nur noch die Hälfte, ich will die Leute jetzt nicht verschrecken, nachlegen kann ich immer noch.

Gegen vier essen M. und ich zu „Mittag“: Pellkartoffeln, dazu Hering mit Sahnesoße. Ich bekomme zwei Kartöffelchen und einen Schnipsel Hering runter. Mir ist übel.

Ich kopiere weiter Daten von H.s Rechner auf meinen, fahnde in seiner Adressdatenbank nach Hinweisen auf eine frühere Krankenversicherung.

Damit ich nicht alles vergesse und später die Chronologie nachvollziehen kann, beginne ich eine Art Protokoll: Wann habe ich in welchem Zusammenhang mit wem gesprochen und was wurde gesagt? Das umfasst in erster Linie medizinische Informationen, aber auch Kontakte mit H.s Kunden sowie Freunden und Verwandten.
Ich merke, wie dringend ich Struktur und Ordnung brauche. Zum Glück verfüge ich über die notwendigen Techniken, und zum Glück verlassen sie mich gerade nicht.

Kurzes Telefonat mit Freund B., der Sorgen mit seinem (natürlich lange erwachsenen) Sohn hat: In den letzten Wochen dreht er zunehmend ab, nimmt wohl auch alle möglichen Drogen, hat paranoide und/ oder psychotische Zustände. Er schläft sich durch die Keller des Viertels, weil keiner es länger als ein, zwei Tage mit ihm in einer Wohnung aushält.

Eine SMS von Nachbarin S. von oben: „Die J.“ habe mir was vor die Tür gestellt… Ich gehe nachschauen, da steht ein Teller mit zwei Muffins und einem Zettel des Mädchens, auf dem steht in bunten Druckbuchstaben „Für Anna Mathilde von J…“ Ich bin sehr gerührt, vermute aber die Initiative der Mutter dahinter, denn das Kind sehe ich vielleicht einmal im Jahr, da grüßt sie nie, sie kennt mich gar nicht.
Es ist trotzdem eine nette Geste und nicht das Schlechteste, das man seinen Kindern beibringen kann.

Abends Telefonat mit H.s Schwester, ich berichte vom gestrigen Arztgespräch. Sie sind froh, einen Zeithorizont zu haben (Sonntag) und erzählen von anderen Verwandten, die mich mit Fragen kontaktieren werden. Ich habe ja sonst auch nichts zu tun. Natürlich verstehe ich die Sorge bestens, deshalb werde ich wohl proaktiv ein paar Mails schreiben und bitten, die Kontaktaufnahme erstmal auf diesem Weg zu nutzen und bei Bedarf einen Termin zum Telefonieren zu vereinbaren.

Abends gelingt es mir, H.s Passwörter-Datei finden und zu entschlüsseln, damit habe ich die Login-Daten fürs Online-Banking und alle Angaben zu Diensten, Lizenzen usw.
Gott. Sei. Dank. Ich bin sehr erleichtert und erlaube mir einen kurzen Moment der Freude und Euphorie.

Ich stand den ganzen Tag unter Strom, war verhältnismäßig leistungsfähig und konnte das Grauen immer wieder vorübergehend vergessen. Nach außen wirkte ich gefasst und kompetent; das Drinnen wurde weitestgehend abgekapselt.
Gegen Abend bekam ich zunehmend Angst, das könnte sich nun Bahn brechen, aber das tat es nicht. Ich blieb in Anbetracht der Umstände verhältnismäßig „entspannt“, konnte mit M. über normale Themen reden und sogar Anteil am Fernsehprogramm nehmen (Maischberger auf tagesschau24).

Woran ich mich erinnern will:
Daten und Infos finden. Abeitsdinge regeln. Ein Stück Kontrolle zurückgewinnen.

What I did today that could matter a year from now:
Daran arbeiten, dass H.s Firma erstmal weiter betrieben werden kann.

Was wichtig war:
Mich beschäftigen.
Kontrolle.
Überblick.
Planung.
Struktur im Chaos.
Klarheit gewinnen.

Begegnungsnotizen:
M (aktuelles Haushaltsmitglied).
H.s Nachbar J. (Hausflur, ohne Maske, Abstand)
Kund:innen und Personal im Drogerie- und im kleinen Supermarkt.

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