15. Januar 2021. Freitag. Unerwartet schlechter Nachtschlaf.
Ich war beim Zubettgehen überraschend guter Dinge. Ich hatte mich zu der Haltung durchgerungen: „Ich tue jetzt nicht so als sei H. schon tot, denn noch lebt er, und wo Leben ist, ist Hoffnung. Außerdem ist er in guten Händen bei Menschen, die ihren Job verstehen und wissen, was sie tun, und denen überlasse ich jetzt die Sorge um seinen Zustand. Ich hingegen kümmere mich nun um die Dinge, die ich tun kann. Natürlich habe ich Angst um ihn, und natürlich fehlt er mir in jeder Sekunde meines Tages, aber ich muss jetzt durchhalten. Wenn er stirbt, habe ich noch genug Zeit, um ihn zu trauern, aber jetzt ist er noch am Leben.“
Ich höre sehr stark H.s Lebenseinstellung aus diesen Gedanken heraus, und irgendwie tröstet mich das: Auch wenn andere mein Verhalten vielleicht für herzlos halten mögen – ich handele in seinem Sinne, da bin ich sicher.
Beim Zubettgehen um elf bald eingeschlafen und bis 1:15 auch gut durchgeschlafen. Dann lag ich zweieinhalb Stunden wach, hörte M. aufs Klo gehen, ging selber aufs Klo, stellte mich eine Weile ans offene Fenster und sah in die Nacht hinaus, wie H. in seinen durchgemachten Musiknächten es wohl sehr oft getan hatte tut, wenn er zwischendurch am Fenster eine Zigarette rauchte.
Ich war hellwach den Kopf voller Gedanken, aber es waren keine schlechten Gedanken, keine Ängste, keine Horrorvisionen, eher Aufmunterung, Bestätigung, Selbsttrost.
Ich schlief dann nochmal anderthalb Stunden bis fünf, wälzte mich eine Dreiviertelstunde hin und her, nickte dann nochmal ein und schreckte mit einem Gefühl schrecklicher Angst wieder hoch. Eine Panikattacke. So würde ich eh keine Ruhe mehr finden, also stand ich widerwillig um sechs auf, obwohl ich hundemüde war.
Die Angstklammer blieb fast zwei Stunden erhalten, dann ebbte sie langsam ab, wohl auch, weil M. kurz nach sieben aufstand und Leben in die Wohnung, ins Haus, in die Straße kam.
Christian gefragt, wie er mit solchen Situationen umgeht – er spricht ja recht offen von seinen Angstattacken. Vielleicht hat ja eine:r von Euch, geschätzte Leser:innen auch Tipps für mich, wie man gut durch eine solche Attacke hindurchkommt? Habt Ihr ein Mantra? Eine Art inneres Protokoll, das Ihr durchlauft?
Schreibt mir gerne an annamathilde@gmx.de
Morgens ein paar Arbeitsmails; Anruf eines Kunden von H., dem ich vielleicht sogar helfen kann. Termin am Montag, bis dahin kann ich mich vorbereiten, wenn ich den Kopf zusammenbekomme.
Am mitteleren Vormittag mit M. aufgebrochen, die sich von zu Hause ein paar Sachen holen will. Bei der Gelegenheit gleich mal ein paar Updates auf ihrem PC einspielen.
Ich rufe im Krankenhaus an, aber es ist gerade kein Arzt verfügbar; er rufe zurück.
Der Rückruf kommt, als wir gerade im Supermarkt an der Kasse stehen. Die Nachrichten klingen erstmal nicht so gut; erst viel später wird mir klar, dass er im Grunde dasselbe sagt wie die Ärzte vorgestern, nur mit anderen, ernsteren Worten.
Meine Gefühle fahren Achterbahn: Zweckoptimismus, reale Hoffnung, Angst, Trauer, Wut, Enttäuschung, dann wieder vorsichtige Hoffnung.
Nachmittags sitze ich lange mit M. zusammen und rede mit ihr über H.: Warum er nicht krankenversichert ist. Warum er bestimmte Dinge tut und andere nicht, und warum er sie auf seine eigene Art und Weise tut. Was unsere Lebensplanung war ist. Wie es mit uns weitergehen könnte. Mit dem Haus. Mit meinem eigenen Alter. Was passiert, wenn ich arbeitsunfähig werde. Warum wir leben, wie wir leben.
Welche Optionen es gibt. Was passiert, wenn er stirbt. Was, wenn er weiterlebt, aber schwer krank ist. Was, wenn er Gehirnschäden davongetragen hat.
Ich glaube, sie versteht nun einige Dinge und Entscheidungen besser.
Mir wird klar: Die Basis unserer Beziehung ist „Wir leben, wie wir es müssen, und wenn Probleme auftauchen – zusammen finden wir einen Weg.“
Ein Gespräch mit dem Sozialdienst der Klinik macht mir Mut: Da H. früher mal krankenversichert war, gibt es eventuell die Möglichkeit, ins System zurückzukehren. Wir verabreden das nächste Gespräch am Dienstag. Bis dahin werde ich versuchen herauszufinden, welche Krankenkasse das war, denn er war mit ziemlicher Sicherheit mal versichert.
Ähnliches berichtet der Schwager beim abendlichen Telefonat. Sie hatten mit einer befreundeten Sozialarbeiterin telefoniert, die Ähnliches andeutet. Außerdem solle ich überlegen, mich als ehrenamtliche rechtliche Betreuerin H.s zu bewerben.
Hat damit jemand von Euch/ Ihnen Erfahrungen? Wäre das eine gute Lösung, H.s Angelegenheiten zu regeln? Wäre damit für mich ein juristisches oder finanzielles Risiko verbunden?
Ich kann normalerweise gut solche Dinge recherchieren, aber im Moment traue ich meinem Kopf nicht – wer also Tipps hat, gerne in die Kommentare, damit auch andere davon profitieren können, oder an annamathilde@gmx.de DANKE!
Abends zwei Pellkartoffeln von gestern und etwas Sahnehering; zum Nachtisch Obstsalat.
Nasenbluten.
Woran ich mich erinnern will:
Es gibt wahrscheinlich Möglichkeiten, zurück in die KV zu kommen und das Ganze ohne einen gigantischen Schuldenberg zu überstehen.
What I did today that could matter a year from now:
Kontakte knüpfen, fragen, zuhören, Informationen zusammentragen.
Was wichtig war:
Rausgehen, unterwegs sein.
Ablenkung.
Möglichkeiten.
Perspektive.
Aufrecht halten.
Begegnungsnotizen:
M (aktuelles Haushaltsmitglied).
Apotheker (Maske, Abstand), Fahrgäste in der U-Bahn (dito), Apothekerin (dito), Imbissverkäufer (dito), Kund:innen und Personal im Supermarkt (dito), Fahrkartenkontrolleur (dito)
Deine Haltung finde ich nicht herzlos, sondern realistisch. Du wendest Dich ja nicht von H ab, sondern tust Deinen Teil für eine Zukunft, die es hoffentlich geben wird. Viel Glück mit der Krankenkasse, hoffentlich klappt das.
Wenn es mir nur gelingen könnte, dieses Wissen über die Nacht zu retten. Mein Lebensmotto scheint zu sein „Sowohl als auch“. Es fällt mir immer schwer, eine klare Position für mich zu finden, denn die andere Seite hat ja auch „irgendwie“ Recht. Und die Zweifler in mir sagen: Da passiert gerade etwas ganz Furchtbares! Du „solltest“ heulen und Zähne klappern! Du solltest am Boden zerstört sein, wenn Dir dieser Mensch wirklich so viel bedeutet, wie Du behauptest!
Und haben sie nicht auch irgendwie Recht?
Jede*r geht mit so einer Situation anders um. Ich glaube, da gibt es kein „richtig“ oder „falsch“. (Als meine Patentante, sozusagen meine zweite Mutter, gestorben ist, habe ich ein Jahr keine Träne vergossen. Nach ziemlich genau einem Jahr kamen die Tränen, und ich konnte ein Wochenende lang nicht aufhören zu weinen.)
Ich denke auch, so lange ich funktionieren muss, lasse ich dem Schmerz und der Angst gar keinen Raum – schon aus Selbstschutz. Die Gefühle werden kommen, wenn sie den Raum haben und ich die Sicherheit, dass ich ihnen nachgeben kann.