Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Der elfte Tag in der Hölle: Es räumt sich auf

22. Januar 2021. Freitag. Gestern Abend noch bis halb eins ferngesehen, während M. neben mir schon schnurchelte.

Ich stelle mir vor, wie dieser Abend mit H. und mir gelaufen wäre: Wir hätten natürlich „vernünftig“ gegessen, nicht nur ein Brot; H. hätte sich entweder in den Sessel gesetzt, um mit mir fernzusehen, oder sich mit dem Laptop an den Tisch gesetzt. Er hätte vielleicht Projektnotizen zu Kundenanfragen gemacht oder etwas für Kunden recherchiert, sich mit den Grundrissen des Häuschens beschäftigt, um die nächste(n) Baumaßnahme(n) zu planen, Materiallisten aufgestellt. Oder er hätte sich die Knopfhörer ins Ohr gesteckt und auf YouTube Musik gehört, Bands, Songs, Aufnahmen gesucht. Vielleicht hätte er e-Mails geschrieben an Leute, zu denen er/ wir eine Weile keinen Kontakt hatten oder aus einer Quatschlaune heraus eine Scherzmail an diverse Leute geschickt.

Es war seltsam wohltuend, sich diese Normalität auszumalen, die ja noch gar nicht so weit weg ist, gerade mal vier Wochen, dann kam Weihnachten, die Zeit zwischen den Jahren mit ihren eigenen Routinen, dann Silvester, dann die Erkrankung (Rücken, vielleicht schon das Herz, wer weiß), dann die vorsichtige Erholung, die aber noch nicht zu einem normalen Alltag gereicht hatte, dann der Big Bang.

Ich merke, wie sehr die Psyche hinterherhinkt, um mit all diesen Veränderungen und den damit einhergehenden Anstrengungen und Herausforderungen klar zu kommen. Der Kopf funktioniert so gut es geht, der Körper tut, was er kann, aber die Psyche läuft noch wie ein aufgescheuchtes Huhn herum und weiß nicht, wohin mit sich.
Sie produziert Gefühle, Gedankenfetzen, Bilder in rasender Abfolge. Als Gefühle bevorzugt sie Angst und Überforderung, teilweise gewürzt mit Traurigkeit. Die Gedankenfetzen drehen sich gerne darum, wie es war und ganz sicher (weiß die Angst) nie wieder wird, und vor allem um: WieSollIchDasAllesSchaffen, DasKlapptDochNie, IchWeißNichtWieIchDasMachenSoll.

Aktuell größte Brocken und meine Beruhigungsstrategie:

H.s Firma. Angst davor, dass Kund:innen anrufen und ein Problem haben und ich kann ihnen nicht helfen, weiß nicht, was ich ihnen raten soll, will sie aber auch nicht wegschicken und für H. verlieren.
Strategie: Heute Kontakt zu diesem Bekannten aufnehmen. Wenn er auch nur annähernd geeignet und bereit ist, das zu übernehmen, die Kunden an ihn weiterreichen. Ob sie dann bei ihm bleiben, wird sich zeigen. Wenn ich sie jetzt schlecht betreue oder zu lange vertröste, sind sie ohnehin weg.

H.s laufende Kosten. Angst, nicht rechtzeitig oder ausreichend finanzielle Unterstützung zu bekommen. Ich kann seine Ausgaben nicht mitfinanzieren, seine Familie wird es nur bedingt wollen. Wenn dann aber mit der Miete oder anderen Dingen etwas anbrennt, haben wir noch mehr Probleme. Nicht wir, ich.
Strategie: Am Montag beim Sozialamt anrufen und mich informieren, ob ich schon etwas tun kann, solange die Betreuung nicht durch ist. Auch beim Sozialdienst nachfragen, ob es Möglichkeiten gibt. Noch mehr Rechnungen schreiben, um die Zeit zu überbrücken, bis Hilfen fließen können.

H.s Krankenhauskosten und die Krankenversicherung. Für mich momentan der unlösbarste Brocken. Die Angst: Aus Unwissenheit nichts erreichen, Kosten ansteigen lassen, H. in einer verzweifelten Situation zurücklassen.
Strategie: Einen Beratungstermin habe ich am 1. Februar. Momentan setze ich hauptsächlich auf den Sozialdienst, dass die irgendetwas bewegen können.

Das Haus. Wenn wir es verlieren oder er aus Gesundheitsgründen dort nicht mehr sein kann, wird ihn das umbringen sehr schwer treffen und vermutlich den Lebensmut rauben. Und: Wie sollen wir uns künftig die Raten leisten, falls er nicht mehr arbeiten kann?
Strategie: Es ist viel zu früh, sich darüber Gedanken zu machen. Aus finanziellen Gründen sollte das Haus aber erstmal erhalten bleiben., das muss ich im Hinterkopf behalten.

Was, wenn er stirbt? Wie komme ich mit noch einem schweren Schlag klar? Ich habe das Gefühl, dass nicht mehr viel Kraft vorhanden ist.
Strategie: Das Mantra. Im Moment lebt er, also kümmern wir uns um die Dinge, die aktuell wichtig sind. Alles andere kommt, wenn es kommt und wird dann gelöst werden.

Was, wenn er nicht mehr er selbst ist? Eine große Unbekannte. Ist das Hirn geschädigt? Gibt es durch die schwere Erkrankung eine Persönlichkeitsveränderung? Gedächtnisverlust? Wird er, falls er sein Leben nicht mehr weiterführen kann wie bisher, schwer depressiv werden? Was kommt noch alles auf mich zu?
Strategie: Auch hier gilt: Wir haben aktuell zu wenig Daten, das kann alles nur Spekulation sein, und ich kann mich nicht vorher auf jeden möglichen Ausgang vorbereiten. Aktuell zählt nur die Alternative: Wird er leben oder sterben? Dann geht es weiter.

Daneben laufen dann natürlich noch die Standards ab: Wie soll ich meine Rechnungen bezahlen? Wie soll ich meine anstehenden Arbeiten für meine Kunden schaffen? Woher nehme ich die Zeit, um mich um all diese Dinge zu kümmern? Woher die Kraft?

Der Tag.

Nachdem der braune Paketdienst gestern um elf schrieb, die Sendung an H. würde heute zwischen 12:30 und 15:30 Uhr zugestellt werden, sehe ich heute, dass sie gestern um 14:57 bei einem Nachbarn abgegeben worden ist. Wissen die nicht, welche Pakete sie im Auto haben?
Immerhin muss ich nun heute nicht den halben Tag in H.s Wohnung sitzen und auf den Paketdienst warten.
Aber die Stunde, die ich gestern mit deren Interface verbracht habe, um einen Serviceaccount einzurichten, hätte ich mir sparen können. Nun, es wird nicht die letzte vergeudete Stunde in Sachen H. sein.

Ich begleite H. zum Haus der Ärztin und gehe dann zu H.s Wohnung: Briefkasten leeren, das Paket bei den Nachbarn abholen und hoch in die Wohnung bringen, lüften, noch ein paar Papiere raussuchen, gewaschene Wäsche zusammenfalten.

Der Aufenthalt dort ist nicht schlimm; mit der Wohnung verbinde ich nur wenige Erinnerungen, und in seinem Arbeitszimmer habe ich schon einmal Geister ausgetrieben, als vor einigen Jahren der Mitbewohner starb und eine vollgemüllte Messie-Höhle hinterließ. Damals war H. nach der groben Räumung zu seiner kranken Mutter gefahren, und ich hatte in seiner Abwesenheit als Überraschung das Zimmer von oben bis unten geschrubbt und einigermaßen nett hergerichtet.

Im strömenden Regen zum Briefkasten und zum Schreibwarenladen, um Briefmarken zu holen. OP-Masken in der Apotheke gekauft. M. ist vor mir zu Hause gewesen.

Kurzer Austausch, dann endlich den Bekannten wegen H.s Firma angerufen: Er macht es! Er übernimmt vorübergehend eine Art Krankheitsvertretung, das heißt, ich kläre anfragende Kunden über die Situation auf und biete ihnen an, den Kollegen anzurufen und mit ihm etwas zu vereinbaren. Er rechnet dann auch (zu seinen Bedingungen) mit den Kunden direkt ab. So fließt zwar kein Geld in H.s Firma, aber die Kunden werden weiter versorgt und können wieder von H. betreut werden, falls und wenn er jemals wieder arbeiten sollte.

Mir fällt ein Mount Everest vom Herzen und ich kille spontan das Piccolo-Fläschchen Sekt, das H. am Sonntag vom Kiosk für mich/uns mitgebracht hatte. Er würde das gutheißen, das jetzt zu diesem Anlass zu trinken.

Nachmittags etwas für einen Kunden zusammengedengelt, womit er erstmal arbeiten kann; den Rest muss ich dann im Laufe des Wochenendes fertig machen.

Der Anruf im Krankenhaus am Spätnachmittag bringt schlechte Nachrichten: Das Herz hat wieder Rhythmusstörungen/ Kammerflimmern, und sie wissen nicht, warum. Es hat wohl doch mehr abbekommen als gedacht.
Die Lunge hält sich wacker und ist etwas kräftiger geworden, ich hoffe, sie bekommen das mit dem Herzen in den Griff.
Und wieder Bangen.

Wider besseres Wissen schaue ich nochmal in H.s Mails und finde neben sehr netten Nachrichten auch die Mail einer Kundin, für die H. noch kurz vor seinem Zusammenbruch tätig gewesen war.
Sie empfindet die von mir gestellte Rechnung als unangemessen hoch, würde das jetzt in der besonderen Situation zwar zahlen, aber quasi unter Protest.

Es geht um eine Rechnung von 280 Euro.
Ich hatte mitbekommen, wie aufwändig das war; er hat sicher 20 Stunden Zeit investiert, am Ende sogar eine stundenlange Installation am Sonntag (!) gemacht und nur die Hälfte der Zeit überhaupt aufgeschrieben bzw. berechnen wollen.
Nun kommt sie um die Ecke, 280 Euro seien aber ganz schön viel, die meiste Recherchearbeit habe sie doch selber gemacht, und überhaupt.
Gut, sie kann das nicht absetzen, und für eine Privatperson, die „eigentlich“ nur einen neuen Drucker haben wollte, klingt das viel. Vor allem wenn der Drucker selber nur 230 Euro gekostet hat.
Aber sie sieht eben nicht, dass H. mehrere Male lange mit ihr telefoniert hat, dann 2-3 Stunden nach Druckern recherchiert hat, Verfügbarkeiten geprüft hat usw., dann von ihr hört, dass sie sich irgendwo einen bestimmten ausgeguckt hat, dann wieder geprüft hat, ob der passt, ob er überhaupt lieferbar ist usw.
Dann für die Installation der Druckersoftware erstmal Platz auf ihrem rappelvollen Rechner schaffen musste, also nachforschen, welche Daten verzichtbar wären, die Daten auf einem anderen Gerät sichern und dann löschen.
Dann einen All-In-One (Drucker/Fax/Kopierer/Scanner) per Fernwartung einrichten, weil man wegen Corona keinen Hausbesuch riskieren will; auch dazu musste etliches recherchiert und vorbereitet werden, und natürlich gab es bei der Installation Fehlermeldungen am Gerät, zu denen er schnell eine Lösung finden musste, ohne das Gerät zu sehen und ohne zu wissen, welche Knöpfe die Kundin gerade gedrückt hatte.
Und dann kommt diese Schnepfe und mault rum, weil sie einem professionellen Dienstleister letztendlich einen Stundenlohn von 14 Euro zahlen soll.

Ich glaube, ich werde ihr etwas in diesem Stil schreiben, vielleicht hilft das beim Einordnen.

Zum Abendbrot kochen M. und ich uns Gemüsesuppe aus diversen Resten (Zwiebel, Lauch, Frühlingszwiebel, Kohlrabi samt Blättern, Möhren, 1/2 Zucchini, Stangensellerie, Rettich, Kartoffeln, dazu Wiener).

Auf ARTE „Laura wirbelt Staub auf„, wobei ich schon wieder einnicke. M. geht noch vor Ende des Films (21:45) ins Bett und schläft, ich schaue ihn noch und schlafe dann eine halbe Stunde.

Dann wecken mich schon wieder blöde Gedanken und verhindern jeden Schlaf.
H. taucht in meinem Kopf auf und macht mir Vorwürfe, ich würde ohne Not sein ganzes Geschäft in fremde Hände geben, dabei könnte ich einige Sachen doch locker selber machen und mit geringem Aufwand noch etwas Geld dazuverdienen, um z.B. seine Miete usw. zu decken.

Ich erkenne in ihm mein schlechtes Gewissen und gewisse Selbstzweifel, ob ich es mir nicht zu einfach mache. Diese Schuldgefühle würde ich am liebsten in einen Sack stecken und mit dem Knüppel draufschlagen, aber sie entwinden sich geschickt dem Zugriff.

So stehe ich also auf und diskutiere eine Stunde mit H. bzw. meinem schlechten Gewissen und lege ihnen und mir dar, warum ich das mache und warum ich nicht anders kann.
Dann geht es wieder.

Dabei glaube ich, er würde mir nie im Leben einen Vorwurf machen, sondern darauf vertrauen, dass ich tue, was ich kann, und anerkennen, dass ich versuche, den für alle Seiten besten Weg zu finden.

Da ich nun mal wach bin, räume ich mein Mail-Postfach auf, beantworte Mails der Lieblingskundin und schreibe Zustandsberichte an seine und meine Familie und enge Freunde.
Gegen halb zwei stellt sich wieder eine leichte Müdigkeit ein und ich versuche es nochmal mit dem Bett.

Woran ich mich erinnern will:
H.s Sekt auf sein Wohl getrunken.

What I did today that could matter a year from now:
Ein wichtiges Gespräch geführt.

Was wichtig war:
Rausgehen.
Anrufen.
Position beziehen.
Jemandem nicht in den Rücken fallen.
Arbeiten.
Pause machen.
Reden.
Schreiben.
Aufräumen.

Begegnungsnotizen:
M (aktuelles Haushaltsmitglied).
Zwei Frauen im Hausflur bei der Ärztin (alle Maske, Abstand schwierig).
Verkäufer und Kunden im Zeitungsladen (alle Maske und Abstand).
H.s Nachbar an dessen Wohnungstür (Abstand, ich Maske).
Verkäuferin im Schreibwarenladen (ich Maske, sie Spuckschutz).
Apotheker und Apothekerin (dito)

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2 Gedanken zu “Der elfte Tag in der Hölle: Es räumt sich auf

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