Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Der zweite Tag im Danach: Starke Wächter

28. Januar 2021. Donnerstag. Entschuldigung für die langen mäandernden Texte hier. Für mich ist das momentan eine Art Schreibtherapie, ich haber vollstes Verständnis, wenn das niemand lesen möchte. Einfach scannen oder später wiederkommen. Danke.

Zum ersten Mal seit zwei Wochen etwas besser und fast durchgeschlafen. Die üblichen Panikträume kamen zwar, wurden aber aufgelöst, indem Dinge geregelt wurden und einfach mal gut ausgingen und nicht in Katastrophen endeten.

Ich spüre zwei sehr starke Wächter vor meiner Seele, sie heißen „Die Angst um ihn ist jetzt vorbei“ und „Du bist stark und wirst irgendwann ohne ihn leben können“.

Die Angst um ihn ist jetzt vorbei.

Die Angst begann Neujahr, als es ihm so furchtbar schlecht ging und wir nicht wussten, was ist und was wir tun sollen. Als ich paralysiert und verstört da saß und nur dachte: Was geschieht hier? Was soll ich tun?!
Dann hielt sie mich dreieinhalb Wochen umklammert, denn selbst an den Tagen, an denen es ihm besser ging, er kaum noch Schmerzen hatte, war die Angst riesengroß, denn er war schlapp, müde, antriebslos, schwach. Wir dachten an alles mögliche: Erschöpfung? Ein Infekt?? Corona??? Ans Herz dachten wir nicht oder nur sehr theoretisch, es fühlte sich für ihn nicht so an.

Und nun muss ich keine Angst mehr haben. Keine Angst davor, mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen zu werden, weil es ihm plötzlich schlechter geht. Keine Angst, dass er zusammenbricht und ich die Feuerwehr holen und um ihn bangen muss. Keine Angst vor dem Hiobsanruf aus dem Krankenhaus. Keine Angst vor Ämterablehnungen. Keine Angst vor einem Schuldenberg, der uns, ihn, das Häuschen kostet. Keine Angst vor Auseinandersetzungen mit seinen Kund:innen und ihren Wünschen.

Das Schlimmste ist bereits geschehen.
Mehr kann jetzt nicht kommen, und um alles andere kümmert sich der Schwager. Mir bleiben Anstrengungen, die ich bewältigen kann: Die Wohnungsauflösung, Organisatorisches, die Sorge um die Trauerfeier, der Kontakt zu Freund:innen und Kund:innen.
Und dann das Weiterleben, das Trauern.

Du bist stark und wirst irgendwann ohne ihn leben können.

Ich habe seit Jahren Angst, ihn zu verlieren.
Er hat wild gelebt, das konnte nicht ohne Folgen bleiben: Das jahrelange Nachtleben, alle möglichen Drogenexperimente in seiner Jugend, jahrzehntelanges Rauchen, das viele Bier, das er trank, die Nächte, die er sich bis zuletzt regelmäßig um die Ohren schlug, die Arbeitsbelastung mit kaum mal einem Wochenende frei, und immer, immer Geldsorgen, mal mehr, mal weniger.

Und jedes Mal, wenn wir uns verabschiedeten, egal, ob er auf große Fahrt ging, nach K. zur Mutter oder nach F. zur Schwester, oder ob er nur für den Arbeitstag rüberging in seine Wohnung, wirklich jedes einzelne verdammte Mal spürte ich zumindest einen kleinen Stich der Angst: „Hoffentlich kommst Du gesund zurück. Hoffentlich kommst Du zurück.“
Die Angst, ihn zu verlieren, war immer da.

Und gegen diese Angst bildete ich im Laufe der Jahre ein seelisches Bollwerk: Malte mir aus, wie es wäre, allein zu sein. Analysierte, welche Dinge mir schwer fallen würden, wenn er nicht mehr da ist, welches Wissen mir fehlen würde. Begann, mir Sicherheitsnetze zu spinnen: Befragte ihn vor zwei oder drei Jahren nach seinen Passwörtern, seiner ungefähren Datenstruktur auf seinem Rechner, hörte zu, wenn er von Kund:innen und seinen Projekten sprach, machte mir Gedanken über Testamente, Heirat, Verfügungen, sprach bei günstigen Gelegenheiten mit ihm über Wünsche und Vorstellungen zu Themen wie Tod, Beisetzung, Gerätemedizin, Organspende usw.
Im Grund bereitete ich mich zumindest in den letzten sechs, sieben Jahren auf seinen möglichen Tod vor.

Das in dieser Zeit erworbene Wissen, die Erkenntnisse stellen jetzt einen wichtigen Schutz meiner Seele dar: Ich kann ohne ihn überleben und weitermachen. Ich will das vielleicht nicht, und höchstwahrscheinlich wird es schrecklich werden und neue Ängste gebären, aber ich werde daran – erstmal – nicht zerbrechen.

Der Tag:

Natürlich kommt die Angst wieder.
Angst davor, die Trauer um ihn nicht aushalten zu können. Angst davor, die Trauer nicht empfinden zu können, weil die Schutzmechanismen zu stark sind. Angst, nach außen kalt(herzig) zu erscheinen. Angst vor Zurückweisung, vor Isolation. Angst vor Erinnerungen. Angst vor dem Alleinsein.

Babyschritte.

So langsam sickert das Wissen ein.

Ich lese eine Nachricht und weiß, dass ich ihm nicht davon erzählen, sie nicht mit ihm besprechen kann. Nicht nachher beim Frühstück, nicht später am Telefon, nicht morgen, nicht nächste Woche oder irgendwann, wenn mal die Sprache auf das Thema kommt. Nie mehr.

Ich drücke auf den Knopf der Kaffeemaschine und weiß, dass wir nie mehr über Kaffee sprechen werden, nie mehr gemeinsam an einer frisch geöffneten Tüte Kaffeebohnen schnuppern und uns darüber austauschen werden, was wir riechen. Nie mehr.

Eine Mail kommt bei H. an vom Anbieter seiner Musiksoftware, mit der er in den letzten Monaten so unglaublich viel Freude und Pläne hatte: Die letzte Erinnerung, das kostenlose Weihnachtsgeschenk herunterzuladen, irgendein Instrumentensatz für eine chinesische Zither. Er hatte das natürlich gleich Weihnachten heruntergeladen, als das Geschenk erstmalig in seiner Mailbox lag und war begeistert. Sofort kamen ihm wieder tausend neue Ideen, was man mit diesen Klängen Schräges anstellen könnte…
Nie mehr.

Nie mehr wird er morgens im Bett sitzen in dieser unmöglichen Haltung, das Netbook auf dem Schoß, und die Webcams von allen Orten erkunden, zu denen er Zuneigung hat, um zu sehen wie das Wetter ist: In Berlin, in den Brandenburger Pilzecken, an der Ostsee, in K., an der Mosel, in Bayern, in den Alpen.
Nie mehr wird er dort Nachrichten und Mails lesen, mich beim Reinkommen ins Zimmer fragen: „Hast Du heute schon Tagesschau gelesen?“ und nie wieder werde ich antworten: „Ich habe die heute Morgen gelesen – worum geht es Dir denn?“ Und nie mehr werden wir gemeinsam über eine von irgendwem geäußerte Absurdität lachen oder über eine Ungeheuerlichkeit den Kopf schütteln.

Bisher waren das nur Worte: H. ist tot. Er kommt niemals wieder. Ich bin jetzt allein.
Ganz langsam bekommen diese Worte Farbe, Geruch und Gefühl.

Der Energieversorger fürs Dorf schickt eine korrigierte Rechnung: keine 130 Euro Guthaben, sondern 95 Cent Nachzahlung. Die Nachbarn hatten die aktuellen Zählerstände mitgeteilt. Wie soll ich mich künftig um all den Hauskram kümmern? Ich weiß gar nicht, was da wann alles fällig ist; wir waren nicht mehr dazu gekommen, dass er mir das alles aufdröselt.
Angst.

Langes Telefonat mit der Lieblingskundin. Neben M. und Freund B. die einzige in meinem Umfeld, der ich davon erzählen kann, dass H. nicht krankenversichert war. Wir reden lange, sie ist eine sehr empathische und klare Person, das Gespräch tut mir gut. Ich weiß nicht, ob ich ihr eine so gute Zuhörerin wäre, wäre die Situation umgekehrt. Sie hätte das von mir aber vielleicht auch nicht so gebraucht, sie hat einen größeren Kreis von Freunden und Verwandten als ich.

Ich schleppe mich zur Bank (Geld einzahlen) und zum Discounter. Einkaufen fällt mir unglaublich schwer, denn Einkaufen war bisher ebenso wie Kochen und Essen extrem eng mit H. verknüpft: Welchen Aufschnitt hatten wir länger nicht? Die Wurst, die mag er doch so gern! Ach schau, es gibt Rosenkohl im Angebot, den nehme ich mal mit! – Und packe ihn zurück als mir einfällt, dass M. Rosenkohl nicht mag.
Trauer. Schmerz. Atmen.

Die Schwester denkt darüber nach, die Erbschaft auszuschlagen. Der Schwager hat gerechnet, und es wäre „rein wirtschaftlich“ günstiger. Am Ende stünden dann für sie ein paar Tausend Euro Verlust. aber auch der Verkauf des Häuschens, das allein aufgrund steigender Bodenpreise jährlich an Wert gewinnt.
Ich bin etwas ratlos, hoffe auf ein klärendes Gespräch später am Tag.

Das Gespräch bringt ein wenig Klarheit aber keine endgültige Entscheidung. Der Schwager wusste nicht, von welchen Schulden er bei H. ausgehen musste. Anscheinend hatte H., obwohl er darauf sehr stolz gewesen war, dem Schwager vor einigen Jahren nicht mitgeteilt, dass alle „Altlasten“ aus einer früheren Geschäftsgründung getilgt sind. So belaufen sich die aktuellen Schulden lediglich auf die Krankenhausrechnung (die inzwischen auf 33.000 Euro gestiegen aber noch nicht fertiggestellt ist) und die laufenden Kosten für die Wohnung. Diese muss jetzt innerhalb eines Monats gekündigt werden; es gibt eine Sonderkündigungsfrist von drei Monaten.

Immerhin versuchen sie jetzt den Weg zu gehen, den der Sozialdienst vorgeschlagen hatte, um H. zurück in die Krankenversicherung zu bringen. Sollte das nicht funktionieren, bliebe da halt die dicke Rechnung, aber das Haus könnte in der Familie bleiben und die Schwester würde zusätzlich ihr Darlehen an uns bezahlt bekommen.

Ich bereite alle Anträge vor, der Schwager ist sekretärinnen-gewohnter Computer-Analphabet, die Schwester sowieso.

Immerhin wird er „meinen“ Bestatter beauftragen (Danke an alle für die Tipps – ich habe mir alle Angebote angesehen – was es da alles gibt!), es gibt da persönliche Berührungspunkte, die ausschlaggebend waren, und ich hoffe, das klappt so gut, wie es sich momentan anfühlt.

Das Paket mit den bestellten Schuhen kommt an; teils Weihnachtsgeschenk von M., teils von mir an mich selbst. Nach den Klamotten von der verstorbenen Frau von H.s Freund B. sind das die nächsten Stücke, die mich künftig begleiten werden und die H. nicht mehr kennenlernen konnte.
Ich weiß, was er zu ihnen sagen würde: Die einen seien „schön, aber empfindlich, aber ich habe da noch Imprägnierspray“, die anderen seien „ach ja, interessante Farbe, die sind ja ungewöhnlich, ja, nett, schön“. Und das in diesem Tonfall, mit dem er andeutete, ich entwickle mich mit all meinen bunten Sachen langsam in Richtung Kindergartenkind.

Ich beginne, H.s Telefonbuch durchzusehen und zu entscheiden, wen ich zeitnah von seinem Tod benachrichtige. Ich muss auch überlegen, ob ich eine Todesanzeige drucken lasse und verschicke – für die Verwandtschaft wäre das vielleicht ganz schön? Vielleicht auch für Freunde, Nachbarn im Dorf und enge, befreundete Kunden…

H.s Cousin aus A. ruft an. „Wie geht es Dir? Was machst Du jetzt?“ Was sind das für Fragen? Wie soll es mir gehen? Was soll ich machen? Mich irritiert das, hat doch seine Tochter vor wenigen Jahren ebenfalls überraschend ihren Lebensgefährten verloren, da müsste er doch wissen, wie es einem da geht?
Aber ich antworte brav: Die Tage gehen, da bin ich beschäftigt, aber die Nächte sind die Hölle, ebenso wie die ganzen Alltäglichkeiten, die mich mit H. verbinden. „Ach so, ja klar.“
Letztendlich will er nur nochmal aus erster Quelle hören, wie das nun genau abgelaufen ist im Krankenhaus, wann welche Komplikationen aufgetreten sind und was letztendlich die Todesursache war. Also bediene ich sein Informationsbedürfnis, mir tut es gut, darüber zu sprechen, immer wieder.

Einerseits fühle ich mich von H.s Familie sehr an- und aufgenommen, andererseits wird davon über die Zeit vermutlich nicht viel bleiben, denn sie kennen mich praktisch nicht, akzeptieren mich, weil H. sich für mich entschieden hatte und sie ihn mögen und schätzen. Mit mir allein verbindet sie nichts, es gibt keine tiefergehenden Sympathien. Mit der Lieblingscousine könnte das vielleicht anders sein, ebenso mit der Nichte, die ich öfter getroffen habe, als sie noch in Berlin lebte, aber sonst? Selbst der Kontakt zur Schwester wird sich wohl künftig auf einen oder zwei Pflichtanrufe im Jahr beschränken – es sei denn es geht ums Häuschen.

Zum Abendbrot essen wir den Rest Broccoli mit Käsesoße als Suppe, dazu eine Scheibe Brot. Wir sind beide satt vom Mittagssalat und der halben Streuselschnecke zum Kaffee. Werde ich irgendwann wieder „normale“ Mengen essen? Oder ist das jetzt das „neue Normal“?

Im Fernsehen „Der Staat gegen Fritz Bauer„. Den hatte ich schon zusammen mit H. gesehen und als gut in Erinnerung – so sieht M. auch mal einen Spielfilm, das vermeidet sie sonst.

Natürlich schlafe ich wieder dabei ein und verpasse so die nächsten drei Folgen der ersten Staffel von „Mystery Road“ auf ARTE

Woran ich mich erinnern will:
Zum ersten Mal keine Panikträume, sondern welche, in denen sich alles löst.
Traurigkeit spüren.

What I did today that could matter a year from now:
Versuchen, einen unangenehmen Ausgang abzuwenden.

Was wichtig war:
Kraft spüren.
Traurig sein.
Ablenken.
Tun.
Mich stellen.

Begegnungsnotizen:
M (aktuelles Haushaltsmitglied).
Kund:innen und Personal im Discounter (Maske, Abstand, Spuckschutz).
Menschen auf der Straße, die oft unangenehm eng an mir vorbeigehen.
Paketbote (kurzer Kontakt an der Tür).

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6 Gedanken zu “Der zweite Tag im Danach: Starke Wächter

  1. rein informativ – du wirst wieder normal essen, aber erst einmal abnehmen. Ist nicht so schlimm, die Reserven hat jeder Mensch. Bei mir hat es ein Jahr gedauert, bis ich wieder richtig essen konnte. Nimm dir die Zeit, nimm dir deine Zeit, die ist nicht die der Anderen. Du bist stark, du schaffst das! Mein Respekt, dass du das hier schreibst, ist dir jedenfalls sicher.

    • Ein Jahr, oh je, daran möchte ich gar nicht denken…
      Essen war uns beiden so wichtig – aber vermutlich wird das als integraler Bestandteil unserer Beziehung auch am meisten Trauerarbeit bedeuten, dazu ein neues Verhältnis zu bekommen.

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