Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Der neunte Tag im Danach: Termin beim Bestatter und Selbsthass

4. Februar 2021. Donnerstag. Es bildet sich ein Schlafmuster: Eindösen während der Tagesschau. Dann ins Bett legen, etwas schauen/ hören oder lesen. Einschlafen zwischen neun und zehn. Bis kurz vor zwölf schlafen. Umdrehen. Bis zwei schlafen. Lange wach liegen. Blöde Gedanken. Mich richtig aufwecken, um die Gedanken kurz zu analysieren und als substanzlose Nachtschatten zu identifizieren. Mich beruhigen. Wieder einschlafen. Bis vier. Kurz wach, die Gedanken wegschieben, einschlafen. Bis fünf, dasselbe. Mit Glück nochmal eine kleine Schlafrunde bis sechs, dann aufstehen.

Ich habe die ganze Zeit versucht, meinen normalen Morgenrhythmus beizubehalten, und das tut mir gut und geleitet mich in den Tag:
Aufstehen, aufs Klo, einen Nescafé machen. Fenster auf, Rechner an. Kurzer Check, ob morgens irgendein Termin ansteht, den ich möglicherweise vergessen habe: eine Mail, die raus muss, eine Information, die ich brauche, ein Telefontermin. Meistens ist da nichts.
Dann meine Bilder-Rategruppe bei Flickr aufrufen, Aktivitäten zu meinen Fotos ansehen, Nachrichten: tagesschau.de, rbb24.de, swr.de. Jetzt manchmal noch wie H. inforadio.de und rhein-zeitung.de.
Feedreader.
Irgendwann dazwischen der ersten „richtigen“ Kaffee aus der Maschine. Meist stand H. um diese Zeit auf und holte sich auch den ersten Kaffee, dann machten wir die Maschine gemeinsam an. Er ging dann mit dem Kaffee wieder ins Bett, nahm das Netbook mit und verfolgte seine eigene Morgenroutine: Webcams mit Wetterbildern verschiedener Orte, Nachrichtenseiten, Mails, Kontostand. Oft schlief er darüber nochmal ein.
Ich beginne in der Zwischenzeit mein Tagwerk, hole mir den zweiten „richtigen“ Kaffee und erledige Mails, meine Tagesplanung und Kleinkram.

Momentan findet um neun Uhr das Frühstück statt, das ist für M. wichtig (sie steht unterschiedlich auf, mal um sechs, mal um acht). Ich habe da noch gar keinen Hunger, passe mich aber an. Ich will meinen Rhythmus noch nicht umstellen, ich möchte erstmal in Ruhe alleine von dem gemeinsamen Leben mit H. Abschied nehmen; momentan lebe ich in einer Parallel-Realität, so als wäre er (oder ich) im Urlaub.
Ich muss erstmal wieder unser Leben spüren, mich von ihm verabschieden, und dann kann ich für mich neue Routinen finden.

Da nach wie vor viel zu erledigen ist und die Gedanken oft wandern, steht das Tagwerk momentan noch komplett unter dem Motto „H.“: Dinge, die zu erledigen oder zu planen sind, Informationen, die ich brauche, Gedanken, die ich denke. Anrufe und Mails beantworten.

So auch heute:
Ich warte auf die Freigabe der Trauerkarte, um sie in Druck geben zu können.
Mittags habe ich einen Termin mit dem Bestatter: Die erste persönliche Begegnung. Wir wollen besprechen, was jetzt ansteht, ich habe tausend Fragen, und vielleicht können wir uns Grabstellen ansehen. Außerdem braucht er die Geburtsurkunde fürs Standesamt, wo er morgen hin will.
Und dann muss ich langsam mal den Brief für H.s Kunden aufsetzen. Verschicken tue ich nächste Woche.

Von acht bis zehn ist heute im Krankenhaus „Abholung“, da können Bestatter „ihre“ Leichen abholen. Auch H. soll heute abgeholt und zu Gustav Schöne nach Neukölln gebracht werden. Am liebsten würde ich mich da wie ein Groupie drei Stunden ans Tor stellen, um zu sehen, wie der Transporter auf den Hof fährt. Aber das tue ich nicht; wenn ich ihn nicht sehen kann, nicht weiß, ob er wirklich in diesem oder jenen Transporter liegt (man arbeitet mit verschiedenen Bestattern zusammen) – wozu soll das dann gut sein, außer mir einen Schnupfen zu holen? Vielleicht gehe ich die Tage mal vorbei, wenn ich weiß, er ist da.

Gestern Erstkontakt zu einer Floristin. Mit ihr werde ich über die Möglichkeit einer floralen Urne mit Zweigen von H.s geliebten Sträuchern aus unserem Garten sprechen.

* * * * *

Ich sollte mir überlegen, was ich tue, wenn ich am Samstag M. zurück nach Hause umgezogen habe. Ich werde ja dann nachmittags, wenn es gerade dämmert (und vermutlich bei Schmuddelwetter) in eine leere dunkle Wohnung kommen.

„Normalerweise“ würde bei meiner Rückkehr H. am Wohnzimmertisch sitzen und irgendetwas am Laptop arbeiten. Ich würde mir/ uns einen Kaffee machen, vielleicht eine Kleinigkeit zu essen und würde erzählen: wie es war, was M. noch gesagt hat, was wir gemacht haben. Dann würde ich ihn weiterarbeiten lassen, vielleicht würde er sich nochmal „ein Stündchen“ hinlegen, ich würde mich an meinen Rechner setzen und entweder auch etwas arbeiten oder Privatkram erledigen: Feedreader lesen, Fotos bearbeiten, Rechner aufräumen.
Vielleicht auch die Waschmaschine anstellen oder in der Küche aufräumen, je nachdem, wie sehr mich das Unternehmen geschlaucht hätte.

Aber nun?

Und Sonntag drohen „anhaltende Schneefälle mit eisigen Sturmböen“ – also kein Wetter für einen Erinnerungsspaziergang oder zum Auslüften. Oder vielleicht gerade.

Tausend Fragen: Wo werde ich schlafen? Weiterhin in seiner Hälfte des Bettes oder nun in meiner? Was mache ich mit der anderen Betthälfte? Wie werde ich abends einschlafen? Mit Fernseher? Ohne? Mit Licht an? Werde ich überhaupt schlafen? Oder erstmal abends lange sitzen, bis mir die Augen zufallen? Ziehe ich abends mit dem Laptop ins Wohnzimmer (wie er bzw. wie ich als er krank war)? Wie mache ich das mit dem Essen? Weiterhin zum Frühstück den Tisch decken oder die Brote in der Küche fertig machen? Koche ich „richtig“ oder schnell? Stelle ich mir vor, er wäre da und lebe „unseren“ Alltag weiter oder tue ich so als wäre er verreist und lebe meinen H.-ist-abwesend-Alltag? Oder bin ich schon bereit, einen eigenen, neuen Weg zu finden?

Es ist die übliche emotionale Gemengelage vor einer neuen Situation: Wie wird es sein? Wie wird es mir gehen? Was werde ich weitermachen (können), was nicht? Werde ich das schaffen? Was wird schwierig? Wie kann ich mich darauf vorbereiten?

Ich muss auf vertraute Strategien zurückgreifen, was anderes habe ich nicht:
Mich so gut es geht vorbereiten, ohne mich verrückt zu machen. Die Situation vorab visualisieren. Überlegen, was mögliche Fallstricke oder schwierige Momente sein können. Mögliche Auswege aus diesen Momenten überlegen: Kann ich aus der Situation herausgehen? Kann ich mir vorab Rückzugsmöglichkeiten schaffen? Welche Alternativen habe ich?
Und dann in der Situation ruhig bleiben, beobachten, mir Zeit nehmen. Nicht unter Druck setzen oder hetzen lassen. Aussprechen, wie es mir geht, nachspüren, was ich in diesem Moment brauche.
Ich werde sicher sehr viel schreiben müssen…

* * * * *

Telefonat mit der Lieblingskundin, eine Stunde Privates, eine halbe Stunde Arbeitsdinge. Mein Schicksal nimmt sie und ihren Mann mit, bringt sie zum Nachdenken. Mir und H. wäre es umgekehrt nicht anders gegangen. Nur haben die beiden schon viel Vorsorge getroffen, während es bei uns immer beim „müsste man wirklich mal machen“ blieb.

Das Gespräch tut wie immer gut, hilft mir, Dinge zu verbalisieren, die ich mit anderen Menschen so nicht besprechen kann, räumt mich auf im Kopf.

Danach muss ich mich auch fertig machen und los, denn ich habe einen Termin beim Bestatter.
Es ist einer der alternativen Bestatter, die seit ein paar Jahren ins Geschäft einsteigen und eine andere Trauerkultur erreichen wollen: Selbstbestimmter, individueller, näher dran am Verstorbenen und seinen Zugehörigen. Menschlicher. Liebevoller. Nachhaltiger.

Auch diese Begegnung tut mir unglaublich gut. Was mich allerdings die ganze Zeit irritiert, bin ich selbst: Ich gehe in dieses Gespräch wie in ein erstes Treffen mit jemandem, mit dem ich aus persönlichen Gründen ein bestimmtes Projekt durchziehen will, aber das ganze Vorhaben ist positiv gestimmt. So etwas wie ein Hochzeits- oder Partyplaner.

Überhaupt fühle ich mich die ganze Zeit, als plane ich eine Überraschungsparty für H., etwa zu einem runden Geburtstag. Als habe mir jemand einen Scheck über ein paar tausend Euro in die Hand gedrückt und gesagt: „Organisiere für H. einen schönen Geburtstag, an den er sich immer erinnern wird!“ Wobei das sicher etwas gewesen wäre, was mich in Stress versetzt hätte, weil ich das, was er wirklich gewollt hätte, schwer hätte organisieren können: Eine Riesen-Party mit vielen Menschen aus seiner Vergangenheit und Gegenwart, mit Alkohol und Drogen, mit Grill und Buffet, mit Live-Musik (nicht zuletzt mit Auftritten von ihm selbst), einer Jam-Session und Überraschungsgästen.

Nun aber organisiere ich eine Veranstaltung mit ganz anderem Charakter, versuche, ihr trotz aller Konventionen und Rituale einen individuellen Anstrich zu geben, die Interessen vieler Menschen unter einen Hut zu bringen, unter Corona-Bedingungen etwas zu schaffen, was einerseits als würde- und pietätvoll durchgeht, andererseits nicht in Schmerz und Traurigkeit versinkt.

Was mir dabei zwar extrem fehlt, ist H.s schräger Kopf und Humor, seine ungewöhnlichen Ideen, aber dennoch genieße ich es. Es macht mir Spaß. Ich fühle mich aktiv, erfolgreich – es macht mich auf eine Art high wie sonst ein erfolgreiches lukratives Projekt, das ich für einen Kunden abgeschlossen habe. Es macht mich stolz.
Und so verhalte ich mich auch beim Bestatter: Als wäre das alles nur eine interessante Aufgabe, die ich managen muss und die zu managen mir Spaß macht.

Auf dem Rückweg wird mir dies in aller Deutlichkeit bewusst: Ich benutze H.s Unglück, um für mich Selbstbestätigung aus der Situation zu ziehen, um mich gut zu fühlen. In meinem Kopf sitzt ein H., mit dem zusammen ich eben beim Bestatter war, um jemand anderes Beerdigung zu organisieren, und plötzlich sehe ich mich mit den Augen des trauernden H. – und schäme mich zutiefst. Wie konnte ich mich so selbstgerecht, so selbstzufrieden verhalten?
Selbst er hätte in dieser Situation wenig Verständnis für mich gehabt. Er hätte es anders ausgedrückt und tut dies auch in meinem Kopf: „Na ja, so besonders angemessen war das nicht…“ Er hätte mich deswegen wohl nicht verachtet, aber er hätte es auch nicht für einen besonders liebenswerten Zug gehalten (wir hatten solche Situationen, deshalb bin ich mir sicher).

Ich schäme mich abgrundtief. Habe ich H.s Tod benutzt, um mich selbst eine Stunde großartig zu fühlen? Um mich selbst zu fühlen wie eine, die alles im Griff hat, die heroisch ihren tiefen Schmerz beiseite drückt, um für die Liebe ihres Lebens gegen alle Widerstände eine angemessene Trauerfeier zu organisieren? Wi. Der. Lich.
Mich ekelt vor mir selbst angesichts dieses Verrats.

Auch den Rest des Abends geht diese Gemengelage von Gefühlen weiter: Einerseits die Befriedigung, „alles“ im Griff zu haben, der Mangel an Traurigkeit und Schmerz, das rauschhafte Gefühl, das aus dem „ich schaffe das“ entsteht. Andererseits die Scham, der Selbstekel, die Fassungslosigkeit angesichts derartiger narzisstischer, selbstgerechter Gefühlskälte.

Kann denn Richtiges im Falschen existieren, Gutes im Schlechten?
Darf es sein, dass ich aus dieser Situation, die doch schrecklich und schockierend und zerstörend und sinnlos und existenziell bedrohlich ist, so etwas wie Befriedigung ziehe?
Nach meinem moralischen Kompass nicht.
Und dennoch habe ich genau diese Gefühle, und das verwirrt und erschreckt mich zutiefst.

* * * * *

Abends Telefonat mit der Schwester und dem Schwager. Die Krankenkasse hatte einen Brief an H. geschrieben, mit der Bitte, die Anträge zu unterschreiben; beigefügt die drei Seiten, die ich den beiden geschickt hatte, ohne Datum und Unterschrift. Hatten sie etwa die falschen Zettel an die Krankenkasse geschickt? Ich mag das kaum glauben, aber woher sollten diese Zettel sonst stammen?
Sie werden es klären müssen.

Dann Vorschlag des Bestattungstermins, auf den ich mich mit dem Bestatter geeinigt hatte. Sie sind sofort einverstanden, Hauptsache es gibt einen Termin.

Sie sind mit meinem Kartenentwurf einverstanden. Wir klären noch die Schreibweise der Enkelinnen-Namen und legen fest, den Termin gleich in die Karte zu schreiben, dann kann ich sie heute noch beauftragen.

Kurze Information zur geringen Grabgröße (50 x 50 Zentimeter), damit sie vor Ort nicht erschrecken. „Ja, wolltest Du lieber was Größeres?“ fragt die Schwester. Die Antwort ‚Ja klar, aber das ist mir nicht 800 oder 1000 Euro mehr wert‘ verkneife ich mir natürlich. „Nein, nein, größer ist es eben in Berlin nicht, Platz ist knapp. Ich wollte nur nicht, dass ihr Euch wundert, wenn Ihr herkommt und es das erste Mal seht – weil ihr einfach anderes gewohnt seid.“

Was hätte H. gemacht? Auch er hätte ja nicht das Geld für ein Riesengrab gehabt – oder ausgeben wollen – und anderen deswegen auf der Tasche liegen, hätte ihm noch weniger behagt. Das auf diesem Mini-Grab auch nicht im Ansatz etwas wie Grabgestaltung nach unseren Vorstellungen möglich ist, hätte er wohl genauso zähneknirschend akzeptiert wie ich.
Oder?

* * * * *

Abends dann noch den Termin in die Karten eingetragen und den Auftrag abgeschickt.
Später im Bett fällt mir ein, dass ich die Korrektur des Namens der Enkelin vergessen habe. Für 60 Euro nochmal 25 Karten mit der richtigen Schreibweise nachbestellt, die die Schwester zum Verschicken haben wollte. Nun habe ich 25 Karten ohne passenden Umschlag übrig, wie bescheuert ist das denn? Hätte ich auch für sieben Euro noch die Umschläge nachbestellen können.
Kopp nur zum Haareschneiden, und momentan nicht mal das.

* * * * *

Zum Abendbrot gesammelte Reste; im Fernsehen Dokus über Viren und Gartenvögel, während M. im Sessel schläft, bis die Sendung anfängt, die sie sehen will.

Ich kann nicht schlafen und lese noch.

Woran ich mich erinnern will:
Mich nicht von der Begeisterung treiben lassen. Innehalten, einen Schritt zurücktreten, schauen: Ist das jetzt angemessen oder eine Form von Hysterie? Wirkliche Kontrolle behalten und nicht Euphorie mit Kontrolle verwechseln.

What I did today that could matter a year from now:
Gespräch mit dem Bestatter.

Was wichtig war:
Nachdenken.
Reflektieren.
Dinge voranbringen.
Dinge erledigen.
Rausgehen.
Frieren.
Nass werden.
Fotografieren.
Erzählen.

Begegnungsnotizen:
M. (aktuelles Haushaltsmitglied).
Bestatter (ohne Maske, in einem sehr großen und güt belüfteten Raum).

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2 Gedanken zu “Der neunte Tag im Danach: Termin beim Bestatter und Selbsthass

  1. Es ist, glaube ich, zutiefst menschlich, sich den wichtigsten Dingen zuerst zu widmen. Da sind Aufgaben, die fordern und die Trauer so erst einmal ein wenig zurück drängen. Das „erledigst“ du auf deine dir eigene Weise. Es geht nichts verloren, die Trauer findet ihren Weg und hat ihre Zeit. Sei nicht so streng mit dir.

    Herzlichst, Reiner

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