Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Der zehnte Tag im Danach: Ruhe kehrt ein und Erinnerungen bekommen Raum

5. Februar 2021. Freitag. Eingeschlafen gegen Mitternacht (bis dahin noch gelesen), aufgewacht gegen drei und fünf, jeweils nur kurz. Die Angst um drei erfolgreich zurückgedrängt. Die Angriffe werden schwächer, leichter durchschaubar. Aufgestanden um sechs. Sechs Stunden ist gut, damit kann ich leben.

Weiter Selbstzweifel und Selbsthass wegen meines Gefühls der Selbst-Zufriedenheit im Angesicht all der Dinge, die ich „heroisch“ erledige. Wie ich mich in der Zuwendung suhle, die mir von allen Seiten entgegengebracht wird, als hätte ich selbst irgendwas vollbracht, und sei es nur „Tapferkeit bewahrt“.
Und bei alldem vergieße ich kaum eine Träne um H., sondern stecke alle Energie ins Machen, für das ich dann soziale Anerkennung einheimse.
Bin ich wirklich emotional so kalt?

Ich habe mich das schon bei früheren Gelegenheiten gefragt – und dann auch mit H. besprochen. Seine Antwort: „Quatsch, Du bist nicht kalt. Schau doch mal, was momentan alles ansteht, was Du alles zu stemmen hast. Das ist doch kein Wunder. Das kommt schon, wenn der Druck nachlässt. Wir müssen jetzt eben funktionieren.“ – „Ja, aber Du gehst damit ganz anders um, viel mitfühlender. Dir merkt man Deine Trauer an.“ – „Na ja, da reagiert halt jeder anders. Aber ich kenne Dich, ich weiß, dass Du alles andere als kalt bist.“
Ich versuche, mich damit zu trösten, dass er hoffentlich Recht hatte.

Jemand sagt mir: Das ist normal. Menschen machen – und fühlen – erstmal normal weiter, bis der Schock wirklich angekommen ist. Ich hoffe das sehr, ich möchte mich nämlich eigentlich wieder mögen können.

* * * * *

Die Erinnerungen und die Trauer können überall lauern:

Eine Mail von PayPal an H.: Ihre Kontoübersicht im Januar. Ich logge mich ein, um zu schauen, ob da noch etwas ist, worum ich mich kümmern muss. Sehe die letzte Abbuchung vom 8.12.2020 – für eine Musik-Software. Irgendetwas rührt sich dunkel, und ich schaue in meine Zeiterfassung: tatsächlich, an diesem Tag brachte er abends ein Piccolo Sekt mit, weil er sich endlich entschlossen hatte, die Vollversion einer Aufnahme-Software zu kaufen. So war er: Feiern mit Sekt, weil er sich ein Programm für 61 Euro „gegönnt“ hatte.
Und wie er sich darüber gefreut hatte!
Und wie wenig er Zeit er letztendlich hatte, um es zu nutzen und sich daran zu erfreuen.
ES IST SO UNGERECHT!!!

* * * * *

Ich bereite die Umsatzsteuer-Voranmeldung für H.s Firma vor. Zum Glück hatte er fürs letzte Quartal schon alles gebucht. Jetzt noch alles für Januar buchen und ein bisschen herumrechnen. Zahlen an den Schwager mailen, da ich offiziell keinen Kontozugriff mehr haben darf. Soll er überweisen.

Und wieder dankbar für H.s Ordnung und seinen strukturierten Kopf. Manches hätte ich anders gemacht, vieles ist extrem schlau gelöst. Aber in allem sehe ich ganz deutlich seine Handschrift, höre seine Stimme. Seine Formulierungen. Seine Abkürzungen. Kryptisch für einen Außenstehenden, vollkommen logisch, wenn man ihn kennt.

Wenn ich jetzt noch wüsste, wo er alle Papierbelege aus dem letzten Jahr versteckt hat (Fahrscheine usw.) wäre ich zufrieden…

* * * * *

H. hat sich immer gut Namen und Zusammenhänge gemerkt, seien es Musiker, Regisseure oder Set Designer beim Film. Das fällt mir angesichts der Ankündigung einer Online-Ausstellung der Deutschen Kinemathek zum 100. Geburtstag von Ken Adam wieder auf. Er wusste auch immer genau, wer mit wem in wessen Band gespielt oder zusammen welchen Film gedreht hat. Zumindest wenn es sich um Leute „von früher“ handelt. Mit den Namen aktueller Schauspieler:innen zum Beispiel tat er sich schwer.

Er hatte auch ein gutes Gedächtnis für Gesichter und grüßte auf der Straße dauernd Menschen, von denen ich sicher war, sie noch nie gesehen zu haben. Wenn er dann sagte, diese Frau wohne bei mir im ersten Stock, und jener Mann bei ihm im Haus, und den würden wir doch andauernd treffen, schämte ich mich immer ein bisschen. Ich bin nicht direkt gesichtsblind, aber lose Bekanntschaften oder Menschen, mit denen ich nur kurze beiläufige Begegnungen im Treppenhaus habe, brennen sich mir nicht unbedingt ein.
Ob ich das lernen kann?

* * * * *

Ruhe kehrt ein. Ein Vorgeschmack auf einsame Abende und Wochenenden. Keine Mails, die nach Aufmerksamkeit schreien, keine Anrufe, keine superdringenden Erledigungen. Dafür eine ellenlange To-Do-Liste mit Dingen, auf die ich keine Lust habe.
Und gleich um die Ecke lauern die Erinnerungen…

* * * * *

Was er mit ins Grab genommen hat und was ich nun wohl nie erfahren werde:

Wie genau das beim Tod seiner Mutter gelaufen ist; warum er damals mit den Ärzten gehadert hat.
Was sie ihm über ihr Leben während der NS-Zeit erzählt hat.
Wie er seine Kindheit und Jugend nach dem Tod des Vaters empfunden hat.
Was P. ihm über Erbstreitigkeiten mit seinen Geschwistern nach dem Tod der Eltern erzählte.
Wer seine erste Liebe war. Und wer seine zweite, dritte…
Was er mit seiner Musik ausdrücken wollte.
Was ich ihm bedeutete.
Was er so dachte in seinen langen Nächten vor dem Computer, die Flasche Bier neben sich, die Kopfhörer auf den Ohren.
Seine Alpträume.
Seine Träume.

* * * * *

Erinnerungs-Fallen:

Das Fernsehprogramm.
Die Nachrichten.
Der Feedreader.
Fotos.
Spaziergänge.
Einkauf.
Kochrezepte.
Ein Name.
Mails.
Ein Wort oder ein Thema, das in einem Gespräch oder einer Fernsehsendung zur Sprache kommt.

* * * * *

„An einem „normalen“ Freitag würde ich um diese Zeit…“ – Ist nicht allein schon die Tatsache, dass ich über „normale“ Tage nachdenke, ein erstes Anzeichen, dass der gehetzte Wahnsinn langsam zu einem Ende findet – und ich zu mir?

* * * * *

Eine BekannteKundinFreundin ruft an. Ich hatte mich vor Jahren etwas distanziert, weil sie mir zu viel zu ausdauernd zu begeistert von sich selbst sprach. Heute denke ich: Vielleicht höre ich mich auch oft so an? Und was spricht eigentlich gegen ein gesundes Selbstvertrauen? Ich finde es trotzdem anstrengend, wie sie mir in ihrem Beileidsanruf begeistert von ihrer „neuen“ (seit einigen Jahren andauernden) Liebe erzählt.
Aber ich weiß, H. mochte sie ganz gerne und hatte den Kontakt immer gepflegt, auch weil er über sie mit zwei anderen Kundinnen verbunden war.

* * * * *

Zum Abendbrot gibt es Dosensuppe: Die letzte Konserve, die ich im letzten Frühjahr als „Corona-Vorrat“ gekauft hatte, falls wir doch mal in Quarantäne gemusst hätten, damals wusste man ja noch nicht, wie das alles laufen würde.

Jede Dose in meinem Vorrat erzählt eine Geschichte, und bei fast jedem Kauf hatte ich irgendwie an H. oder an uns gedacht, nichts einfach so gekauft.

Im Fernsehen Reiseberichte, die wir vor gar nicht allzu langer Zeit gemeinsam gesehen haben. Ich stelle mir vor, wie H. im Sessel sitzt und schaut, während ich schon im Bett liege und langsam einnicke. Wie er später noch zappt, und wobei er vielleicht hängenbleiben würde.

Denn natürlich kann ich nicht schlafen, als es Zeit ist, das Licht auszumachen (M. ist schon vorher im Sessel eingeschlafen und vor zehn ins Bett gegangen). Also zappe ich auch und sehe das Programm mit H.s Augen – soweit das möglich ist. Er ist oft bei ganz seltsamen Sachen hängengeblieben, oder hat eine Weile irgendwas geschaut und dann später noch einen Film gefunden, der interessant aussah. So lange halte ich nicht durch.

Ich stehe am Fenster und sehe ins Schneegestöber. Und ich spüre, dass die Bewusstmachung der Ungeheuerlichkeit kurz bevorsteht.
Lass mich das schaffen und gesund am anderen Ende wieder herauskommen…

Woran ich mich erinnern will:
Es wird ruhiger. Die Tränen kommen häufiger. Warme Töne im Gespräch mit P.

What I did today that could matter a year from now:
H.s Buchhaltung/ Steuer

Was wichtig war:
Runterkommen.
Abbremsen.
Geldzeug regeln und planen.
Kontrolle behalten.
Vorbereitung auf die nächsten Tage.

Begegnungsnotizen:
M. (aktuelles Haushaltsmitglied).

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