6. Februar 2021. Samstag. Mit Fernsehen und Lesen wach gehalten bis etwa halb zwölf, dann geschlafen bis kurz nach drei, dann wieder Angstattacke. Sie lassen sich auflösen, diese Attacken, aber es kostet Kraft. Wieder eingeschlafen bis um fünf, dann halb wach, halb dösend bis kurz nach sechs gelegen. Fünf Stunden oder wenig mehr waren es heute Nacht.
Es liegt gar nicht so viel Schnee, obwohl es gestern Abend ganz schön heftig geschneit hatte. Der Bürgersteig gegenüber ist frei, auf unserer Seite liegt eine dünne Schicht überfrorenen Matsches, die Straße glänzt vor Glatteis. Kalt und knirschend klingt es, wenn Menschen darüber gehen.
Mit der Morgenroutine durch. Es ist kurz vor acht. Und nun?
M. will um neun frühstücken, danach brechen wir wohl bald auf, um sie heim zu bringen.
Was tue ich jetzt die Stunde bis dahin?
Was würde ich an einem „normalen“ Samstag tun, wenn H. noch schläft oder auch schon mit dem Netbook im Bett sitzt? Mein Kopf ist leer, mir fällt es nicht ein.
Ich setze mich bewusst und vorsichtig und mit psychischem Sicherheitsabstand einzelnen Erinnerungen aus: Lese im Tagebuch, was wir vor einem Jahr gemacht haben. Schaue mir die Webcams auf seinem Computer an – aktuelle Bilder von Orten, an denen wir zusammen waren.
Will den Schmerz spüren, der leise und beharrlich in meiner Magengrube nagt.
* * * * *
M. nach Hause begleitet, dort für sie und mich das nötigste eingekauft, den Rechner up-to-date gebracht, die Pflanzen ins Bad unter die Dusche getragen, Altglas weggebracht, zurückgefahren.
Zum ersten Mal seit dreieinhalb Wochen allein zu Hause (abgesehen von den zwei Stunden, in denen M. vor zwei Wochen mal beim Röntgen war). Schon komisch.
Als erstes verwische ich ihre Spuren und richte alles wieder so her, wie es war: seine Pullover über die Stuhllehne gehängt, die Hausschuhe unter den Tisch gestellt, seinen Laptop auf den Tisch.
Ich will hier kein Museum errichten, aber ich brauche Zeit, um die Sachen endgültig wegräumen zu können.
Ich muss erstmal wirklich realisieren, was überhaupt passiert ist, bevor ich weitermachen kann.
Die Nichte schreibt und schickt Fotos von der Familie. Ich möchte mich revanchieren und ihr aktuelle Bilder von H. schicken – sie waren sich so nahe. Am Ende sind es fast alle Fotos, die ich seit Januar 2020 von ihm gemacht habe – 31 Stück. Weniger als ich dachte, mehr als ich verkraften kann.
Ich bearbeite sie quasi aus dem Augenwinkel, versuche, mich nicht auf die Bilder und die festgehaltenen Situationen einzulassen. Denke nur zwischendurch: Der letzte Sommer, das war wirklich unser bester. Diese viereinhalb Wochen im Juni/Juli, als wir im Haus waren – was hatten wir es schön! Vielleicht war überhaupt das letzte Jahr unser bestes. Es war so harmonisch, wir haben sehr viel Zeit miteinander und im Haus verbracht, wir haben aufeinander achtgegeben.
Und das erscheint mir nicht nur jetzt beschönigend im Rückblick so, dieselben Gedanken hatte ich schon zu Weihnachten, als ich auf das Jahr zurückblickte.
Als ich die Fotos rausgeschickt habe, mache ich mir Kaffee und hole den Rest Tirami Su aus dem Kühlschrank.
Und hier, in meiner Küche, fließen das erste Mal richtige Tränen als der Gedanke voll ins Bewusstsein knallt:
Er wird nie, nie wiederkommen.
Ich heule und heule und heule.
Wie ungerecht!
Warum?!
Das ist so, so gemein!
Es tut unglaublich weh und unglaublich gut.
* * * * *
„Beim Tod eines geliebten Menschen verlieren manche Leute alle Gewissheiten.“
Tweet von @_Bestattung [Thanatos Bestattung], 2.2.2021
Das ist sehr wahr.
Ich habe die Gewissheit verloren,
dass ich morgen noch hier bin.
dass ich jemanden wiedersehen werden, von dem ich mich eben verabschiede.
dass ich alt werde.
dass man irgendwas planen kann.
dass ich im Grunde ein Glückskind bin.
dass irgendwas so laufen wird, wie ich es mir wünsche oder vorstelle.
dass es überhaupt Gewissheiten gibt.
„Wenn ich jetzt wüsste, ganz genau, wie lange es noch dauert, was würde ich dann machen mit meiner Zeit?“
fragmente: ein Tor (4.2.2021)
* * * * *
Abends eine Dose Linsensuppe. Das stand auf meiner Essensliste, ich habe nicht darüber nachgedacht. Jetzt fällt mir ein: ich hätte mir auch einfach ein Suppengrün kaufen und die Linsen komplett selber machen können. Nächstes Mal.
Immerhin kommen nun die Mettenden weg, die ich vor Urzeiten (vor Weihnachten?) für uns gekauft hatte.
Ich sitze an meinem Platz am Tisch, esse, richte zwischendurch in Gedanken das Wort an ihn, wie ich es täte, wenn er hier wäre. Es fühlt sich falsch an, denn dort ist ja niemand. Und ich will keinen „imaginären Freund“.
Das Fernsehprogramm ist schwierig. Was würden wir anschauen? Terminator 2, den er schon hundertmal gesehen hat? Wir würden vielleicht tatsächlich erstmal schauen, was sonst so geht. Die Komödie „Wie in alten Zeiten“ mit Emma Thompson, Pierce Brosnan und Timothy Spall? Würden wir wegen der Besetzung wohl versuchen. Und enttäuscht sein. Und zumindest ich würde feststellen: Kenne ich schon.
Ich sitze erst im Sessel, wie er es täte, versuche es mal mit Identifikation. Bekomme Rückenschmerzen wie immer, wenn ich im Sessel fernsehe. Wechsle dann doch ins Bett – vielleicht gelingt es mir ja, auf diese Weise einzuschlafen.
Das tut es auch; ich wechsle bis nach eins mehrmals das Programm und schlafe zu verschiedenen Filmen ein und wache wieder auf und döse wieder ein und wache wieder auf, während draußen der Sturm heult, aber er bringt nicht den versprochenen Schnee.
Woran ich mich erinnern will:
Wie ich in meiner Küche stehe, die Kaffeemaschine läuft, es dämmert, und ich schreie und weine meinen Schmerz heraus: Warum nur, warum?!
What I did today that could matter a year from now:
Allein sein.
Was wichtig war:
M. nach Hause bringen.
Ruhig, geduldig, freundlich sein. (Wie H. es gewesen wäre.)
Zeit lassen.
Schon bei ihr einkaufen und den mit Erinnerungen belasteten Supermarkt bei mir heute mal meiden.
Einen Brief bekommen.
Einen Anruf nicht erwidern.
Fotos.
Begegnungsnotizen:
M. (aktuelles Haushaltsmitglied).
Der Mitarbeiter des Restaurants unten im Nachbarhaus.
U-Bahn.
Kund:innen und Personal im Supermarkt bei M.
Memento
Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?
Allein im Nebel tast ich todentlang
Und laß mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.
Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
— Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muß man leben.
Mascha Kaléko
1907 – 1975
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Kennst du das Gedicht? Es hat mich zwar nicht getröstet, aber hat mir nach dem Tod meines Mannes vieles erklärt, was ich schon wusste. Mein Leben/dein Leben geht weiter. Du musst weiterleben und willst es auch. Die Erinnerung will dir keiner nehmen und wahrscheinlich ist es jetzt auch gut, dass du endlich alleine bist und lachen, weinen, schreien, verzweifeln kannst und auch wütend bist, ohne Rücksicht zu nehmen.
Ich kenne dich nicht und will dir nicht zu nahe treten, aber durch diese Trauer musst du selbst durch. Niemand nimmt es dir ab.
Ich kannte nur die letzten beiden Zeilen des Gedichts – es ist wunderschön und spricht sehr zu mir, vielen Dank dafür!
Ich drücke mich vermutlich ganz oft unklar aus – ich weiß durchaus sehr viel über Trauerarbeit und auch, was mir bevorsteht, da ich vor sieben Jahren einen sehr traumatischen Tod eines engen Freundes verarbeiten musste – und erst seit einem Jahr ohne zu weinen an ihn und seinen Tod denken kann.
Insofern weiß ich, welche Arbeit vor mir liegt – auch wenn jeder Trauerfall anders ist, denn mit H. verbinden mich ganz andere Dinge und sein Tod ist lange nicht so mit Schuldgefühlen beladen wie jener andere es war.
Mir hilft es aber, auch meine momentanen Zweifel auszudrücken, mein Hadern, mein Warum?! – denn auch wenn ich „weiß“, dass ich durch die Trauer durch muss, heißt das nicht, dass ich immer weiß, wie das gerade gehen soll. Und dann hilft es, wenn andere von ihrem Umgang mit der Trauer erzählen oder auch erzählen, dass sie auch manchmal hilf- und ahnungslos sind.
Ganz sicher will ich nicht, dass mir jemand meine Trauer abnimmt – ich habe mich jetzt im Grunde meines Herzens dreieinhalb Wochen danach gesehnt, Trauer empfinden zu können und nicht nur im Überlebensmodus zu funktionieren.
Das ging in der Flut meiner Worte vielleicht etwas unter…