Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Der achtzehnte Tag im Danach: Sorgen teilen

13. Februar 2021. Samstag. Unruhig geschlafen bis halb sieben. Sieben Stunden, aber mit stündlichem Aufwachen und Panikattacke und Rückenschmerzen.

Es ist hell morgens, auch heute wird es ein schöner, klarer Tag werden. Die Grundstimmung ist verhältnismäßig gut. Ich habe anscheinend wirklich immer abwechselnd einen besseren und einen schlechteren Tag. Dann ist es ja gut, wenn ich morgen bei P. bin und mich ablenken kann.

Ich denke darüber nach, was sich bereits alles verändert hat, seit H. tot ist – kleine und große Dinge, die er nicht mehr mitbekommen hat. Ich habe das Bedürfnis, das zu dokumentieren. Warum? Um mir „unsere“ Welt zumindest gedanklich zu bewahren?
Es sind die Dinge, die ich ihm erzählen oder worüber wir sprechen würden, wäre er nur vorübergehend nicht hier. Dinge wie der Wintereinbruch, der Tod von Chick Corea, Sachen, die ich von gemeinsamen Bekannten erfahren habe, Leute, die ich getroffen habe, aktuelle Nachrichten.
Es kommt eine ganze Menge zusammen. Vermutlich hätten wir wieder jeden Tag Gesprächsstoff für ein, zwei Stunden gehabt.

* * * * *

Ich treffe die Freundin zum Spaziergang. Kann anfangs vor Rückenschmerzen kaum gehen, dann läuft es sich ein, wird warm und beweglich.
Wir gehen um den Park herum, ich erzähle von meinem Kummer mit der Krankenhaus-Rechnung, der Angst, die Schwester würde nun doch aufgeben und das Erbe ausschlagen, ich würde das Haus verlieren und müsste alles in Windeseile ausräumen.
Es tut gut, das alles auszusprechen und von einem anderen Menschen zu hören: Scheiße. Das ist kompliziert.

Sie erzählt vom Vater ihres Sohnes, der, ebenfalls unversichert, in gesundheitliche Not geraten war. Damals hatte eine andere Freundin alles in Bewegung gesetzt, ihn zurück in die Versicherung zu bekommen. ich erzähle nun auch von meinen Bemühungen, eine Betreuung für H. zu erwirken und von dem Zeitdruck, den ich die ganze Zeit hatte. Sie erahnt, unter welchem Stress ich gestanden hatte, und auch mir wird es erst jetzt so langsam bewusst. Was für ein Wahnsinn das war, diese zwei Wochen, als H. im Krankenhaus lag.

Dann erzählt sie von ihrer Trauerreaktion, als vor einigen Jahren ihr Partner überraschend starb. Ich kannte ihn, sie waren nicht lange zusammen, ein paar Monate, aber sein plötzlicher Tod traf sie härter als es zunächst den Anschein hatte, und am Ende hat sie zwei Jahre Therapie gemacht, weil durch seinen Tod wohl etliches hoch und in Bewegung kam.

Ich spreche von meiner und M.s Sorge, was denn ist, wenn mir etwas passiert, jetzt wo ich ganz alleine bin den ganzen Tag und tagelang niemand mitbekommen würde, wenn mir etwas ist.

Sie wiederum spricht von ihrer Lungenkrankheit. Vom Tod des Katers im Sommer. Von der neuen Küche, die sie sich wegen Corona gegönnt hat, jetzt, da sie nicht reisen kann. Von ihrer Arbeit als Lehrerin im Home-Office.

Solche Dinge erzählen wir uns, und das tut so gut, denn es ist ein Austausch, Geben und Nehmen, Vertrauen gegen Vertrauen. Ohne den Anspruch helfen zu können, aber mit der Botschaft: Ich sehe Dich, ich höre Dich, ich kann etwas nachvollziehen, und für mich fühlt sich das so an, das habe ich erlebt, und vielleicht kannst Du damit etwas anfangen. Du bist nicht allein.

Zwei Stunden laufen wir und reden und hören einander zu. Es wird voller auf den Straßen, und das ist uns beiden unangenehm. So begleite ich sie wieder heim und wir verabreden uns, das öfter zu machen, und das würde ich wirklich sehr gern, denn sie ist einer der wenigen Menschen, mit denen ich sowohl Quatsch machen als auch ernsthafte Gespräche führen kann.
Und ganz vielleicht könnte ich mit ihr auch einen Teil der Ausflüge machen, die ich sonst mit H. gemacht hätte.
Wenn sie Zeit hat. Und Lust.

* * * * *

Ich gehe noch ein paar Kleinigkeiten einkaufen, und es zerreißt mir wieder das Herz. Supermärkte sind noch nichts für mich.

„Ich erlebe Dich als sehr aufgeräumt“ sagte die Freundin, fast ein wenig verwundert über den scheinbaren Mangel an Trauer.
Sie empfand es wohl als ein wenig alarmierend und besorgniserregend, weil bei einem derartigen Verhalten ein Zusammenbruch in naher Zukunft unausweichlich scheint.

So aufgeräumt bin ich aber nur, solange ich in Kontakt bin, abgelenkt, beschäftigt mit Problemen und den Mangel nicht spüre.
Zu Hause kriecht sofort wieder Traurigkeit in mein Herz und die Tränen brennen in den Augen.

* * * * *

Der Schwager hat seine Beziehungen spielen lassen und den Justiziar einer Uniklinik zu fassen bekommen. Der macht nun wieder Mut, was die Krankenversicherungsfrage angeht. Also werden wir es wohl doch weiter betreiben. Nachdem wir einen Fachanwalt befragt haben, was dann wohl ich nächste Woche machen werde.
Kurzes Aufatmen, ich bekomme fast gute Laune.
Zuversicht: Alles wird gut.
Nichts wird gut. Just bearable.

* * * * *

Schon mittags müde werde ich heute nicht alt. Spüle das Geschirr. Mache mir eine Asia-Suppe aus der Dose warm. Thai-Curry-Suppe. Gut, heiß, leicht scharf. Dazu ein Butterbrot.

Schon gleich nach den Nachrichten lege ich mich ins Bett und lasse mir auf ARTE was von Schwarzen Löchern erzählen, bis ich einschlafe.

Woran ich mich erinnern will:
Jemand nimmt sich für mich Zeit. Offenheit, Vertrauen.

What I did today that could matter a year from now:
Informationen weitergeben.

Was wichtig war:
Rausgehen.
Gehen.
Sonne.
Schnee.
Die richtige Gesellschaft.
Reden.
Zuhören.
Gedanken sortieren.
Impulse.
Erstmals den Gedanken zulassen, dass es vielleicht gut sein könnte, meine Zukunft ohne das Haus zu planen.

Begegnungsnotizen:
Eine Gruppe junger unbekannter Menschen unten im Hausflur, 6-8 Leute, dicht gedrängt, alle ohne Maske. Helfer bei einem Umzug oder Transport?
Freundin B. (draußen, ohne Maske, Abstand).
Menschen auf der Straße und im Park.
Kund:innen und Personal im großen Supermarkt.

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