19. Februar 2021. Freitag. Geschlafen von 22:00 bis 00:00 vor dem laufenden Fernseher, dann bis 2:00 bei brennendem Licht, dann bis 4:00 und dann nochmal bis 5:45. Gute siebeneinhalb Stunden.
Aufgewacht mit einem Gefühl von dumpfer Traurigkeit.
Ich bin nervös wegen meines kleinen Abschiedszeremoniells – um 8:00 Uhr früh soll am anderen Ende der Stadt H.s Kremierung stattfinden.
Ich möchte es in seinem Sinne „richtig“ machen und denke darüber nach, was er an meiner Stelle tun würde und wie es ablaufen würde, wenn wir hier zusammen wären und vor einer ähnlichen Situation mit einer anderen nahen Person stünden.
Wäre er an meiner Stelle, hätte er wohl in der vergangenen Nacht auf seine Weise „Abschied“ genommen (was er schon absurd gefunden hätte, weil er ja sowieso andauernd an mich denken würde): Er hätte sich vielleicht nochmal Fotos von vergangenen gemeinsamen Urlauben und Ausflügen angeschaut (wenn er sie inzwischen in meinen Datenmengen gefunden hätte), hätte Musik gehört, hätte vielleicht die Beisetzungsfeier geplant oder sonst etwas in meinem Sinne erledigt.
Er wäre vermutlich – mit reichlich Alkohol im Kopf – spät ins Bett gegangen und hätte heute Morgen nur daran gedacht, wenn er zufällig zur richtigen Zeit wach geworden wäre.
Wären wir hier gemeinsam und es beträfe eine mir/ uns nahestehende Person, hätte er sich nach mir und meinen Wünschen gerichtet. Er würde zwar keine zweistündige Feier/ Zeremonie durchführen wollen. Zwei Stunden am Tisch sitzen, irgendwelche Lieblingsmusik des Verstorbenen hören und sich grämen? Das hätte er seltsam und unpassend gefunden. „Ich habe ja auch nicht vor, hier ein Zwei-Stunden-Konzert zu organisieren“ antworte ich ihm im Geiste. „Ich möchte nur ein wenig Musik parat haben, falls es passt.“
Er würde also mir zuliebe früh aufstehen, sich zur Not auch den Wecker stellen, wenn ich ihn darum bitte, weil ich ihn nicht wecken möchte, weil ich dann das Gefühl habe, ihn zu etwas zu nötigen. Er würde aufstehen, ohne zu murren, er würde sich was anziehen und sich mit seinem Kaffee zu mir setzen: „Und wie stellst Du Dir das jetzt vor? Wie sollen wir das machen?“
Und dann würde ich den Ton angeben, würde über die Person sprechen, wir würden unsere Empfindungen über die Situation und vielleicht Erinnerungen austauschen, wir würden über die vergangenen Wochen und den Trauerprozess reden.
Wir würden keine Gedenkfeier veranstalten, aber wir wären zusammen, würden sprechen, schweigen, nachdenken, weinen, ins Kerzenlicht schauen. Gemeinsam. Zwischendurch würden wir neuen Kaffee holen, er würde vielleicht mal kurz ans Fenster „eine halbe rauchen“, dann würden wir weiter sinnieren und über den Verstorbenen und unser Verhältnis zu ihm nachdenken.
Vielleicht fände ich es dann irgendwann an der Zeit, ein oder zwei Musikstücke zu spielen, dann würden wir noch ein wenig nachdenken und reden und weinen und ein Glas Sekt auf den Verstorbenen trinken.
In erster Linie wäre es wohl meine „Veranstaltung“, auch wenn er natürlich auch nicht ganz unemotional bliebe. Aber er bräuchte dieses Ritual für sich wohl nicht so dringend.
Hinterher dann würden wir frühstücken, und vielleicht würde er sich dann nochmal hinlegen und „noch ein Stündchen“ schlafen.
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Ich folge nervös meiner Morgenroutine: Nachrichten, Blogs, Mails. Ein alter Weggefährte, Kollege, Chef, Inspirator von H., der ihn extrem geprägt hatte, schreibt mir ein rätselhaftes Lebens-Resümée. Er ist ein Schwurbler, insofern passt es, dass ich nicht schlau draus werde, aber mir fehlen auch schlicht Informationen. Ich muss mit ihm sprechen, denn er ist die einzige Person, die mir von H. in dieser frühen Berliner Zeit berichten kann: was sie geplant und aufgebaut und gemacht haben, damals.
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07:45 Uhr. Ich bin extrem nervös, habe so etwas wie Lampenfieber. Wie absurd. Und wie groß der Druck, alles „richtig“ zu machen (in H.s Augen und den Augen meines zukünftigen Ichs).
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10:15 Uhr. Ich bin ruhig. Ich habe mit ihm gesprochen, um ihn – und uns – geweint, war verzweifelt, habe zum ersten Mal wahrhaftig gespürt, was ich alles nicht mehr mit ihm zusammen machen werde. Habe gewehklagt und gejammert und gebettelt. Habe mir die Fotos von ihm angeschaut. Habe Musik angemacht: Talking Heads – The Great Curve; King Crimson – Elephant Talk; ein Stück von seiner Band, das er mir einmal vor langer Zeit (im Oktober 2018 [!!!]) sehr ans Herz gelegt hat – „Hör´s Dir bitte wenigstens beim ersten Mal (SEHR) laut an…“, und das ich heute zum ersten Mal gehört habe. Laut.
Dann habe ich mir weiter die Fotos angesehen und wieder geweint: um all die Dinge, die er gern getan hat und nie wieder wird tun können. Und um all das, was ich ihn nie wieder tun sehen werde. All die Dinge, die ich nie wieder von ihm hören werde. Die ich nie wieder mit ihm zusammen tun werde.
Um diesen Teil meines Lebens, der nun unwiederbringlich vorbei ist.
Und mir wird klar, warum es mich in den letzten Tagen so ins Haus gezogen hat: Der Großteil der Fotos ist dort entstanden, und anscheinend scheint etwas in mir geglaubt zu haben, dass er jetzt dort ist, und dass ich wieder mit ihm zusammen sein könnte, wenn ich auch dort bin.
Dabei wird die Leere dort vermutlich noch unerträglicher sein, weil mich ALLES an ihn erinnert, weil das ja viel mehr sein Haus war als meins. Viel mehr auch seins als seine Wohnung hier, die eher ein Lager für seine Sachen und ein Büro war. Sein Herz und seine Seele aber steckten im Haus und im Garten.
Die Welt ist ärmer ohne ihn, und alle, die ihn näher kannten und regelmäßig mit ihm zu tun hatten, werden ihn extrem vermissen.
Und besonders für ihn ist es UNGLAUBLICH UNGERECHT, dass er all die Sachen, die ihm wichtig waren und die er gern getan hat, nie wieder wird tun können.
Ich spüre den heftigsten Trennungsschmerz, als würde mir gerade bei lebendigem Leibe ein Stück aus mir herausgeschnitten.
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Eine Mail von einem älteren Paar, das mit zu seinen langjährigsten Kunden gehörte. Auch sie sind tief betroffen und erschüttert.
Und sie haben Computerprobleme, die sie nun zu mir tragen, weil sie auch mich kennen. Und ich bin wieder hin und her gerissen. Möchte ihnen helfen. Möchte ihnen H. ersetzen. Möchte sein Lebenswerk fortführen. Und kann es doch nicht, weil ich viel zu wenig davon weiß und das alles auch gar nicht lernen kann und will.
Und wieder das Bedürfnis, (mehr wie) er zu sein, wenn ich schon nicht ihn selbst haben kann: Könnte ich doch so viel Kraft und Energie und Durchhaltevermögen haben. Könnte ich doch all die Dinge tun, die er die ganze Zeit getan hat. Könnte ich doch die Dinge wissen, die er gewusst hat. Dann könnte ich sein Leben fortführen, und es wäre nicht verloren. Ich könnte „unser“ Leben fortführen, zwei Personen in einer, wäre das nicht wunderbar?
Verständliche Wünsche. Der Versuch der Seele, sich vor dem Unvermeidlichen zu drücken.
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Jedes Foto, das ich mir anschaue, beinhaltet ein „Nie wieder“.
Nie wieder mit Dir zusammensitzen und essen. Nie wieder mit Dir in ein Restaurant oder eine Kneipe gehen. Nie wieder Gespräche mit Dir führen. Nie wieder über Deine albernen Scherze und Wortspiele lachen. Nie wieder mit Dir in Erinnerungen schwelgen. Dir nie wieder dabei zusehen, wie Du den Rasen mähst. Oder einen Baum oder Strauch schneidest. Wie Du Dich anziehst und Dir die Schuhe zubindest. Wie Du gehst, stehst, sitzt, liegst. Wie Du morgens im Bett die Nachrichten am Netbook liest. Wie Du im Sessel sitzt und fernsiehst. Wie Du das Kabel des Staubsaugers aufwickelst. Wie Du die Kappe zurechtschiebst. Nie wieder mit Dir wandern, nie wieder mit Dir Rast machen. Nie wieder mit Dir im Zug oder im Bus sitzen. Nie wieder mit Dir spontan alle Pläne ändern, weil sich irgendetwas ergeben hat. Nie wieder meine Probleme und Ängste mit Dir besprechen. Nie wieder über Deine Sorgen reden. Dir nie wieder beim Kochen zusehen. Oder dabei, wie Du den Grill oder den Räucherofen putzt. Dich nie wieder im Arm halten. Nie wieder einen feuchten, ekligen Morgenkuss bekommen, bei dem in Deinem Mundwinkel noch alter Speichel klebt. Nie wieder Deinen Bieratem riechen oder Dein Schnarchen hören. Nie wieder nachts vom Tastatur- oder Keyboardgeklapper aufwachen. Nie wieder hören, wie Du Dich am Telefon meldest. Nie wieder Dein angespanntes Gesicht sehen, wenn Du versuchst, kleine Schrift am Bildschirm zu entziffern. Nie wieder Deine unrasierte Wange an meiner spüren. Dir nie wieder durch die Haare oder über den frisch geschorenen Kopf fahren. Nie wieder Deinen Rücken reiben und Deine Schultern massieren. Nie wieder Deine Stimme hören, Dein Lachen, Dein Brummen. Nie wieder neue Würz-Kreationen von Dir probieren. Nie wieder voller Zärtlichkeit beobachten, wie achtsam und sorgsam Du mit Dingen umgehst. Nie wieder hören, wie Du im Keller herumkramst oder -werkelst. Mich nie wieder an Dich lehnen. Nie wieder mit Dir durch den Wald streifen und nach Pilzen schauen. Nie wieder spontan oder geplant zu einem Ausflug aufbrechen, nie wieder diskutieren, was wir mitnehmen und wer was trägt. Nie wieder mit Dir übers Wasser oder in die Landschaft schauen. Nie wieder mit Dir gemeinsam atmen und Deine Wärme, Dein Leben spüren. Mich nie wieder nach Dir umdrehen oder in Deinem Windschatten laufen. Dich nie wieder riechen. Nie wieder Dein warmes, weiches Ohr streicheln und küssen. Dich nie wieder rufen, wenn der Sonnenuntergang besonders schön ist. Und nie wieder von Dir gerufen werden. Nie wieder mit Dir in den Regen schauen oder durch den Schnee stapfen. Nie wieder mit Dir anstoßen. Nie wieder mit Dir in die Sonne blinzeln. Dir nie wieder mein Tuch leihen, damit Du keinen Sonnenbrand oder Zug bekommst. Nie wieder mit Dir aus einem Kaffeebecher oder einer Flasche Wasser trinken. Dich nie wieder Gießkannen tragen sehen oder irgendetwas zusammenschrauben oder montieren oder herrichten. Nie wieder hinter Dir eine Treppe oder einen steilen Hang hinabsteigen. Nie wieder mit Dir zusammen etwas bauen, räumen oder putzen. Nie wieder mit Dir in ein Konzert gehen. Nie wieder mit Dir bei eisiger Kälte oder glühender Hitze an irgendeinem Marktstand stehen und irgendetwas probieren. Nie wieder Pläne mit Dir machen. Und sie dann wieder verwerfen. Nie wieder Deine Silhouette durchs Glas sehen, wenn Du vor der Haustür stehst und rauchst. Nie wieder mit Dir stundenlang darüber reden, wie man einem anderen Menschen helfen kann. Mich nie wieder über Dich ärgern, weil Du anderen Leuten in Deiner Hilfsbereitschaft etwas versprichst, was Dir dann zu viel werden wird. Nie wieder mit Dir diskutieren, ob nun trockenes Brot schlimmer ist oder pappiges. Nie wieder ein neues Musikstück von Dir hören. Nie wieder Deine Begeisterung sehen, wenn Dir etwas gelungen ist. Dich nie wieder beruhigen und aufmuntern, wenn etwas schief gegangen ist oder nicht so geklappt hat, wie Du wolltest. Nie wieder von Dir aufgemuntert werden. Nie wieder das Wasser laufen hören, wenn Du im Bad bist. Nie wieder Deine Telefonnummer auf dem Display sehen und Deine Stimme hören: „Hallo, ich bin’s…“. Nie wieder Dein Stöhnen, wenn die Kaffeemaschine wieder mal gereinigt werden möchte. Nie wieder mit Dir an Kaffeebohnen schnuppern. Nie wieder einen neuen Wein probieren und mich mit Dir über den Geschmack austauschen. Nie mehr mit Dir den Einkauf planen. Nie mehr gemeinsam überlegen, was wir irgendwem zum Geburtstag schenken. Oder ob wir zur Einladung Blumen mitbringen. Mich nie mehr mit Dir zusammen über die Holzsachen freuen, die wir von GB haben. Dir nie mehr stolz meine neuen Sachen („echte Schnäppchen!“) vorführen. Nie mehr mit Dir zusammen Fotos anschauen und einen Ausflug nochmal Revue passieren lassen. Nie mehr mit Dir diskutieren, ob der Strauß schon vertrocknet ist und weg muss, oder ob der bleiben darf, denn „der ist doch noch schön!“. Nie wieder mit Dir diskutieren, ob man nun dieses oder jenes im Garten anpflanzt oder ändert. Nie wieder angestrengt sein, wenn Du mir Deine Ideen für eine Umbaumaßnahme im Haus vorstellen willst, weil es immer gerade der ungünstigste Moment ist und ich „gerade jetzt“ überhaupt keinen Kopf dafür habe – einfach weil ich Angst habe, das gibt wieder endlose Diskussionen, wenn ich nicht Deiner Meinung bin. Nie wieder über einem Buch einschlafen und Dich sehr spät zu Bett kommen hören. Nie wieder von Deinem Schnarchen wach liegen. Nie wieder morgens an meinem Schreibtisch sitzen und nebenan das Bett knarren hören und wissen: Du bist wach und turnst mit Deinen Hanteln, um Rückenproblemen vorzubeugen. Dir nie wieder von meinen Begegnungen mit dem Blumenhändlerpaar berichten und mich dann gemeinsam mit Dir über sie freuen. Mir nie wieder von Deinen Kundenbesuchen oder -Telefonaten berichten lassen und dabei das eine oder andere lernen. Dir nie wieder dabei zusehen, wie Du meinen Rechner reparierst, wenn er Probleme macht. Dir nie wieder dabei zusehen, wie Du Deine Brille putzt oder Deine Nägel feilst. Nie wieder einzelne Haare auf Deinem Kopf jagen, die nach dem Haareschneiden übriggeblieben sind. Nie wieder innerlich die Augen verdrehen, wenn Du in meinen Augen viel zu sorgsam darauf bedacht bist, keinen Dreck zu machen oder ihn sofort zu beseitigen und nicht herumzutragen. Nie wieder mit Dir über einen unserer internen Scherze oder Sprüche lachen. Nie wieder Dir den schweren Rucksack überlassen können. Nie wieder Dir eine unangenehme Tätigkeit oder Entscheidung überlassen können. Nie wieder Deine Antwort hören, wenn ich nach Dir rufe. Nie wieder Dir die Sorge um alle Reparaturen und schwere Arbeiten überlassen können. Nie wieder schwierige Dinge mit Dir gemeinsam machen. Nie wieder meine Gedanken mit Dir teilen und meine Schlussfolgerungen auf den Prüfstand stellen. Mich nie wieder über Deine ungewöhnlichen Ideen wundern und freuen.
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In einem alten Tagebuch lese ich Gedanken aus dem Jahr 2014, dem letzten „Totenjahr“ (Freundin HD.s Selbstmord im Januar, traumatischer Tod von C. im Februar, Tod von H.s Mutter im April): „Zum ersten Mal verstehe ich H.s Wut dem Tod gegenüber. Dieser verdammten Endgültigkeit. Kein Zurück. Kein Weiter. Nur ein Woandershin. Wohin?“
Seine Wut (oder Frustration) bezog sich auf das radikale Abschneiden und Vernichten sämtlicher Pläne und Möglichkeiten. Er empfand den Tod als unfair und ungerecht. Als eine Zumutung.
Und hat nun genau solch einen ungerechten, unfairen Tod erlitten. Er hatte immer Recht gehabt.
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Und draußen scheint so wunderbar die Sonne und duften Frühlingslüfte… Ein Tag, den man draußen verbringen sollte, im Park oder am Wasser. Hätten wir hier heute gemeinsam getrauert, hätte H. mich vielleicht rausgeschleift, damit ich auf andere Gedanken komme. Das hätte er natürlich nicht so gesagt, sondern eher etwas wie „Bei dem schönen Wetter sollte man eigentlich mal rausgehen!“ Und da er sich in Erwartung schlimmer Gefühlswallungen meinerseits vermutlich den Tag weitestegehend freigeschaufelt und nun um zwei Uhr auch sein Mittagsschläfchen beendet hätte, wäre es jetzt wohl Zeit für einen Spaziergang.
Ich mache das, ziehe mich an, gehe los in Richtung Park, „unsere Runde“. So furchtbar oft waren wir da gar nicht, aber wenn, sind wir immer in etwa denselben Weg gegangen.
Es ist frühlingshaft und nicht überfüllt, das Gehen hilft gegen die innere Unruhe.
Und ich spreche die ganze Zeit mit ihm. Komme mir ein bisschen irre dabei vor, murmle wohl auch manchmal hörbar vor mich hin. Aber es ist mir jetzt egal, das hier ist ein Ausnahmezustand, scheiß drauf, was die Leute von mir denken.
Er mahnt mich, mich nicht zu sehr in die Trauer „hineinzusteigern“. Ich kontere, mir helfe das, meine Gefühle zu reflektieren und auszudrücken, aber er bleibt skeptisch. Natürlich solle man die Gefühle nicht unterdrücken, aber man müsse sich doch jetzt auch nicht mit Absicht besonders schlecht fühlen, und das passiere doch, wenn man sich minutiös ausmale, was nun alles nicht mehr gehe. Er hat da einen Punkt, das muss ich zugeben. Ich habe schon auch manchmal eine Tendenz zu einer gewissen Lust am (seelischen) Schmerz.
Ich frage ein bisschen angepisst zurück: „Könntest Du das denn? Wenn ich sterbe, Deine Traurigkeit einfach wegschieben und dann weitermachen wie gewohnt?“ Darum gehe es ja gar nicht, antwortet er. Nicht „wegschieben und weitermachen wie gewohnt“. Schon der Trauer Raum geben, versuchen, sie mit den eigenen Mitteln auszudrücken. Er würde vielleicht viel Musik machen und dort seine Gefühle lassen. Oder etwas für mich tun, eine Feier organisieren, für meine Sachen ein neues Heim finden, ein Stück für mich oder über uns komponieren. Im Garten ein Blumenbeet für mich anlegen. Irgendwas in der Art.
Aber eben nicht stundenlang in Selbstmitleid baden, was nun alles nicht mehr möglich wäre.
„Würdest Du denn gar nicht um mich weinen?“ frage ich. „Doch, natürlich“ antwortet er „jede Nacht.“
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Gefühls- und Gedankenchaos:
Was alles nicht mehr geht.
Wie sehr ich ihn liebe.
Was andere mit ihm verbinden, wie sie ihn beschreiben – ständiges Abgleichen mit meinen Gefühlen.
Trauer der anderen – ständiger Versuch, mich in sie hineinzuversetzen, zu spüren, wie sie zu ihm standen und was sie jetzt empfinden.
Müdigkeit, Erschöpfung.
Innere Unruhe.
Ich höre seine Stimme, fühle mich ihm nahe, bin glücklich.
Diese scheinbare Nähe ist unzulänglich und schal: Er ist ja nicht mehr da.
Er ist nicht mehr da!!! Wie soll ich weiterleben??!!!
Was jetzt? Ratlosigkeit, Verwirrung.
Wie soll ich mich verhalten?
Wie ehre ich sein Andenken am besten?
Verschiedene Wege ausprobieren: die Erinnerung an ihn wegdrängen, mich ablenken, Fotos von ihm anschauen, ihn mir vorstellen, mir bewusst machen, was nicht mehr sein wird, innerlich so tun als wäre er noch irgendwo und nur im Moment nicht hier, mit ihm sprechen und ihn um Rat fragen, nichts verändern können und seine letzten Tage und Wochen minutiös rekonstruieren wollen, permanent nur an ihn und den Verlust denken, weinen, mit Menschen reden und mich „normal“ fühlen, mich verhalten wollen wie er es getan hätte, mich mit ihm identifizieren, er werden wollen, mich zur Ordnung mahnen und mich nicht in die Gefühle hineinsteigern, sitzen und vor mich hin starren, unruhig draußen herumlaufen, Yoga machen, meditieren, alle Gedanken an ihn fortschieben und so tun als wäre nichts.
* * * * *
Ich rufe M. an, die heute sehr gelitten hat. Sie ist immer noch traurig.
Sie wollte einen Stern für ihn kaufen – „weil er Sterne so gemocht hat“, ist dann aber auch dahinter gekommen, dass das alles ein ziemlicher Nepp ist.
Auch mit ihr komme ich auf das seltsame Gefühlschaos zu sprechen und das Phänomen, wie man sich selbst dafür verurteilt, wenn man fröhlich ist oder über andere Dinge nachdenkt und spricht als über die Trauer und den Verstorbenen. Dieses schlechte Gewissen, dieses Gefühl, den Verstorbenen irgendwie zu verraten, wenn man nicht rund um die Uhr um ihn weint.
„Diesen Gedanken könnte H. aber bestimmt nicht nachvollziehen“ meint sie im Brustton der Überzeugung.
Nachvollziehen könnte er das wohl schon, aber ein solcher Gedanke würde ihm selber vermutlich gar nicht kommen, weil für ihn völlig klar wäre, dass man nicht 24 Stunden am Tag heulen kann, und dass das auch keine moralische Pflicht sein kann – wem wäre damit gedient?
Und wieder bin ich bei der Frage, wie er an meiner Stelle fühlen und handeln würde. Diesmal nicht, um ihn zu imitieren, sondern um ihm und seinen Wünschen gerecht zu werden.
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Ich koche etwas nachlässig und unkonzentriert und schlampig, aber ich koche, denn die Paprikas müssen weg: Bandnudeln und Lachs mit Salbei und Paprikagemüse. Der Lachs wird zu sehr durchgegart, die Paprika sind nicht gar genug, die Nudeln sind zu lange gekocht. Egal, es schmeckt trotzdem, sogar der Blaue Zweigelt dazu.
Dasselbe hatte H. uns am 22.12. gekocht, da schmeckte es besser, er hat es auch mit mehr Zuwendung und Hingabe zubereitet, nicht so huschig nebenbei. Er hatte diesen unglaublich hohen Respekt vor Lebensmitteln und Essen(szubereitung)…
Auf ARTE „Für meinen Glauben“ und eine Doku über Karl Lagerfeld, denen ich nur halb folge. Daneben widme ich mich der Windows-10-Platte in H.s Laptop: Wann hat er sie zuletzt benutzt (4. Januar)? Welche Dateien hat er zuletzt aufgerufen und wann? Er hat mit dieser Platte anscheinend täglich gearbeitet, sie zumindest täglich mit seinen anderen Daten synchronisiert. Ich muss jetzt nochmal systematisch die Windows-7-Platte überprüfen.
Warum will ich das wissen? Ich möchte ein Gespür bekommen für seine Abläufe, möchte verstehen, wie er mit seinen diversen Rechnern gearbeitet hat, wie er sie genutzt hat und wofür. Nur dann kann ich irgendwann entscheiden, ob und wie ich damit weitermache, was verzichtbar ist und was ich am Laufen halten muss, um beispielsweise noch an bestimmte Daten zu kommen.
Der Rechner weint nach Updates, kein Wunder, wenn er seit dem 4. Januar keine bekommen hat. Ich hatte ihn zwar ein, zwei Tage kurz an, nachdem H. ins Krankenhaus gekommen ist (12.1.), aber seitdem nicht mehr.
Er bekommt, was er braucht.
Es fühlt sich gut an, hier abends zu sitzen und mich um diese Dinge zu kümmern, wie es H. vermutlich auch getan hätte, wenn ihn der Film nicht besonders interessiert: Daten synchronisieren, aktualisieren, Updates. Und dann noch je nach Stimmung etwas Planung oder Recherchen oder Musik…?
Aber das mache ich nicht, ich habe im Gegensatz zu ihm um 22:00 Uhr keinen Kopf mehr für derartige Dinge. Für ihn war das Entspannung, für mich ist das Arbeit.
Zur Arbeit an seinem Laptop trinke ich – dem Anlass entsprechend – das erste von den letzten drei Bieren, die er noch am Samstag vor seinem Zusammenbruch gekauft hatte. Es schmeckt mir sogar.
Woran ich mich erinnern will:
Weinen. Verlust begreifen. Mit H. in Gedanken sprechen. Spaziergang im Park.
What I did today that could matter a year from now:
Abschied nehmen. Trauern.
Ein kleines Hilfsangebot machen.
Was wichtig war:
Mir Zeit nehmen.
Es laufen lassen.
Auf meinen Bauch und mein Herz hören.
Rausgehen.
Arbeiten.
Gedanken aufschreiben.
Begegnungsnotizen:
Menschen im Park und auf der Straße (ohne Maske, aber viel Abstand).