Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Der sechsundzwanzigste Tag im Danach: Mich der Angst stellen

Im Bauch ein Knoten aus Angst und Traurigkeit. Rausgehen, bewegen, nachdenken lösen ihn auf. Mich der Angst stellen und einen Anfang in der Wohnung machen. Einen Freund treffen und über alte Zeiten reden. Mich meiner Gefühle schämen.

21. Februar 2021. Sonntag. Einigermaßen gut geschlafen: Fernseher um halb eins ausgemacht, als ich aufs Klo muss. Wach gelegen, schließlich gelesen. Licht aus gegen halb zwei. Geschlafen bis halb fünf, dann nochmal bis kurz vor halb sieben. Fünf Stunden plus anderthalb vor dem Fernseher.
Wenn ich nachts aufwache, habe ich sofort Angst. Ganz konkrete Angst (Wie soll ich das mit der Wohnungsauflösung schaffen? Wie überstehe ich die Beisetzung? Was mache ich danach? Soll ich wirklich das Haus behalten? Könnte ich es wirklich weggeben? Was soll ich tun, wenn etwas mit den Eltern ist? Wie soll ich alleine mit allem fertigwerden?) und eher diffuse Angst vor einer unbekannten, bedrohlichen Zukunft.

Im Laufe meiner Morgenroutine klumpt sich die Angst zusammen mit Trauerschmerz in meiner Magengrube zusammen. Dann erinnert alles an ihn und meinen Verlust, und ich bemühe mich, die Dämme nicht brechen zu lassen.
Dann entscheidet sich auch, wie ich in den Tag starte: Was tue ich? Womit beschäftige ich mich? Muss ich heute irgendwo hin? Habe ich Termine, Verabredungen? Ein wenig Angst vor dem Tag klebt auch in diesem Klumpen und er löst sich erst auf, wenn ich rausgehe oder Kontakt mit Menschen habe.

* * * * *

Das Alleinsein an sich ist nicht das Problem. Das Problem ist das Wissen, dass der eine Mensch, der in den letzten Jahren immer für mich da war, es nun nicht mehr ist und nie wieder sein wird. Dass da jetzt ein Loch ist, das nie wieder zu stopfen ist.

Ja, es gibt andere Menschen in meinem Leben, Menschen, die mich gern haben. Wahrscheinlich sind da sogar welche darunter, die mich mehr mögen als ich denke. Menschen, die ich wirklich in höchster Not anrufen könnte und die mir beispringen würden.

Aber ich fühle mich ihrer nicht sicher, und das macht den Unterschied. Ich habe nicht mehr die Gewissheit, dass da jemand in meinem Leben ist, auf den ich mich unbedingt und unter allen Umständen 150-prozentig verlassen kann, komme, was da wolle.
Das ist ein Großteil des Schmerzes und der Trauer und der Angst.

„Aber ich bin ja bei Dir“ sagt H. in meinem Kopf. „Ich werde immer bei Dir sein und versuchen, Dir zu helfen.“
Ach wäre es doch so.

* * * * *

Wann haben wir eigentlich aufgehört, Alpenpanorama zu schauen? Als C. tot und H. wochenlang weg war und ich von Trauer zermürbt nichts ertragen konnte, was mich erinnert? Oder schon vorher?
Dabei waren das schöne Momente: Sonntag Morgen, H. im Bett – hatte er da schon das Netbook, mit dem er im Bett Nachrichten las? Doch, ich glaube, schon. – ich mit C. tanzend zur Blasmusik.
Von halb acht bis um neun kommt das – war da H. wirklich schon wach und ansprechbar? Muss er wohl. Es gab ja immer Phasen, da war er um halb acht, acht wach, turnte, ging aufs Klo und setzte sich dann mit dem Netbook ins Bett. Später schlief er dann oft nochmal ein, vielleicht war das damals auch schon so. Jetzt zuletzt ja auch.

Ein Teil von mir sehnt den Moment herbei, wenn all die Dinge, die bis vor kurzem mein Leben ausgemacht haben, auch nur noch Erinnerungen sind, an die man mit einem Lächeln und einer Träne im Augenwinkel zurückdenkt: Wichtig und schön, aber Vergangenheit – und jetzt sind andere Dinge wichtig und schön.
Wenn dieser unglaubliche Verlustschmerz ein wenig nachlässt.
Ein anderer Teil hat sehr große Angst davor, dass H. irgendwann im Alltag nicht mehr wichtig für mich ist, nicht mehr präsent ist und durch andere(s) ersetzt wird.

* * * * *

Lotto dieses Wochenende war erfolglos: Meine Zahlen im Euro-Jackpot haben ebenso wenig erbracht wie H.s Zahlen im normalen Samstags-Lotto. Er hatte gerade mal in zwei Tipps je eine richtige Zahl.
Ich ertappe mich dabei, denselben Traum zu träumen wie er: Hier ein Hauptgewinn, und dann das Haus komplett kaufen und renovieren und dort glücklich alt werden.
Ich bräuchte jetzt ein wenig mehr Geld dazu als er gebraucht hätte, aber wie schön wäre das?

* * * * *

H.s Schwester ruft an. Sie sitzen an ihren Erinnerungen an H., und sie möchte nun doch mal wissen, ob sie das selbst vorlesen „muss“, oder ob Notizen reichen, die ein Redner verarbeitet? Ich versuche, ihr meine Idee zu erklären: Dass die einzelnen Stimmen möglichst authentisch sein sollten. Dass ich nichts davon halte, dass jemand einen Nachruf erarbeitet, der den Menschen nicht gekannt hat. Dass ja jeder von uns nur Aspekte von H.s Leben und Persönlichkeit kannte, jeder einen eigenen, individuellen Blick auf ihn hatte. Und dass ich diese Vielstimmigkeit auch gerne in der Trauerfeier wiederfinden würde. das jeder schreiben kann, wie es richtig erscheint: ausschweifend oder knapp, salbungs- oder humorvoll. Und wer Anekdoten lieber erzählen möchte, statt zu schreiben, könne sie mit dem Handy aufnehmen und mir die Datei schicken, dann wird das vor Ort vorgespielt.

Die Schwester ist ein bisschen baff, so etwas ist ihr noch gar nicht in den Sinn gekommen. Aber die Idee scheint ihr zu gefallen.
Sie erzählt von der Beerdigung der Mutter, von dem Kampf mit dem sehr strengen und konservativen Pfarrer, der natürlich den Braten roch, dass die Familie nur deshalb eine kirchliche Feier wollte, um die 500 Euro für einen professionellen Trauerredner zu sparen. Der sich dagegen verwahrte, den Text der Familie vorzulesen und sich nach zähem Ringen doch dazu bereit erklärte, wenn wenigstens ein Psalm Bestandteil der Ansprache sein würde.

* * * * *

Gerade im letzten Jahr ist unser Verhältnis besonders innig geworden. Spürte ich etwas? Oder kehrte erstmals einfach ein wenig Ruhe und Entspannung (auch dank der Corona-Hilfen) ein? Konnten wir einfach mal verschnaufen, weil wir ohne größere Katastrophen durchs Jahr gekommen sind?

Ich erinnere mich an unzählige kleine alltägliche Liebesdienste, die ich ihm teils ganz bewusst in den letzten Monaten erwies: eine geliebte Wurst kaufen; etwas kochen, was er mag; einen Ausflugsvorschlag von ihm annehmen, obwohl ich keine rechte Lust hatte; einen längeren Weg im Wald gehen, obwohl mir alles weh tat; mit ihm abends draußen sitzen, obwohl ich müde war; ihn schlafen lassen, obwohl ich Frühstückshunger hatte; ihn nicht anmaulen, obwohl er mir mit seinem langen Sitzen am Rechner den Nachtschlaf raubte; ihm meinen Schreibtisch frei räumen, damit er dort Musik machen könne, ohne mich zu stören (was er nicht mehr genutzt hat; die Idee war mir zu spät erst kurz vor Weihnachten gekommen); seine Aufgaben im Haushalt mit übernehmen als ich spürte, es geht ihm nicht gut; mit ihm im Keller und Haus räumen und werkeln, obwohl ich keine Lust hatte; mir ruhig und geduldig seine ellenlangen Ausführungen anhören, obwohl ich innerlich auf Kohlen saß; ihm Zeit lassen, seine Gedanken zu sortieren und ihn nicht zu hetzen oder zu drängen.

* * * * *

Gedanken, die mir durch den Kopf sausen:

Wie es ihm wohl ging, als die Beerdigung seiner Mutter zu organisieren war? Es war ja wenig Zeit, er war fünf oder sechs Tage vorher erst nach K. gefahren, um mit der Schwester alles zu regeln.
Wie hat er das vergangene Jahr empfunden?
Wie oft war er enttäuscht von mir oder fühlte sich verletzt? Sicher viel öfter als er gezeigt hat, und das war schon auch oft.
Hatte er wirklich bis zum Ende das Gefühl, finanziell zu kurz gekommen zu sein? Dass er mir mehr unter die Arme gegriffen hatte als ich ihm? Dass ihm eigentlich noch etwas zustünde? Dass ich nach wie vor in seiner Schuld stehe? Oder war das nur der Frust angesichts schwindender Einnahmen und der Angst vor einem erneuten Engpass?
Sollte ich seinen Rechner durchgehen und in alten Unterlagen lesen, um ihn besser zu verstehen?
Was soll ich von seinen Sachen behalten? Seiner Kleidung, seinen Möbeln?
Könnte ich wirklich ins Haus ziehen und hier alles aufgeben? Allein?
Soll ich der verstorbenen Bekannten einen Brief in den Kasten stecken, in der Hoffnung, dass ihn eine Angehörige oder Freundin findet?

Zumindest Letzteres beantwortet mein Bauch spontan mit Ja, und auf den Bauch sollte man in solchen Dingen hören, das hat H. auch immer gesagt. Ihm wäre das vermutlich auch als Idee im Kopf herumgeschwirrt, er war ja immer sehr hilfsbereit, und wenn da jetzt Leute mit einem Computer und Mailkonto und was weiß ich noch konfrontiert sind und an nichts herankommen, hätte er helfen wollen.
Also schreibe ich einen Brief, versuche zu erklären, wer ich bin und in welchem Verhältnis wir zueinander standen, biete Hilfe an und bitte um nähere Informationen: Wann und wie sie gestorben ist und wo genau ihr Grab liegt, zum Beispiel. Vielleicht werden sie ja Nachbarn auf dem Friedhof.

* * * * *

Ich sauge die Wohnung, spüle das Geschirr. Lasse die Wäsche Wäsche sein und mache mich bereit rauszugehen. Bei dem schönen Wetter! Strahlender Sonnenschein, blauer Himmel, 16 Grad. Ich gehe zum Park, stecke unterwegs den Brief ein und laufe einmal um den Park, auf dem Weg, wo am wenigsten los ist. Auf den Wiesen tummeln sich die Massen, jemand hat Boxen aufgestellt, Technomusik läuft, manche tanzen. Lebensfreude.
Ich kann mir das ohne Reue anschauen, das wäre ohnehin nicht mein Ding. Sollen sie machen.

Unterwegs sinniere ich über das Haus, halte Zwiesprache mit H., entwickle einen Vorschlag für Schwester und Schwager. Höre H. in meinem Kopf sagen: „Für K. ist einfach nur wichtig, dass…“ – ja was? Was ist für den Schwager wichtig? Ich werde durch irgendwas abgelenkt, kann den Gedanken nicht zu Ende führen. Muss nochmal drüber nachdenken: Was ist für K. wichtig?

Ich gehe hoch in H.s Wohnung. Die Blumen müssen gegossen werden. Ich will noch ein paar Unterlagen mitnehmen. Und mal in die Rechner schauen.

In der Wohnung hängt wieder dieser ganz spezielle Geruch, den ich nur von hier kenne. Was ist das nur? Dünstet da noch irgendein Teppich aus? Nach all den Jahren?
Ich öffne die Fenster, lasse Frühlingsluft, Vogelgezwitscher und Kinderstimmen herein. Ich selbst wäre höchst ungern in eine Hofwohnung gezogen, aber ich verstehe, dass H. sich hier wohl gefühlt hat und gut hier arbeiten konnte. Die Wohnung hat eine gute Energie und ist erstaunlich hell, trotz Nordseite.

Den ersten Rechner kann ich mir anschauen, aber mit dem hat er in letzter Zeit wohl nicht allzu viel gearbeitet. Ich lasse die nötigen Updates laufen, die dauern ewig, das kenne ich schon von seinem Laptop und meinen Rechnern. Da war irgendein dicker Brocken im Januar.

Ich nutze die Wartezeit, um die herumliegende Wäsche zu sortieren: Handtücher auf einen Stapel, Bettwäsche auf einen anderen. Unmengen Handtücher. Dann die Klamotten. Die Dinge, die ich nicht kenne oder die er vor ein, zwei Jahren von mir übernommen (und meines Wissens noch nie getragen hat), kommen auf einen Stapel, die Sachen, von denen ich mich noch nicht trennen kann, auf einen anderen. Ist gar nicht so viel. Er muss doch mehr Klamotten gehabt haben? Vermutlich sind der Koffer oder irgendwelche Taschen noch vollgepackt, ich hatte da doch vor einigen Monaten mit ihm aufgeräumt, weil ein Heizungsmonteur kommen sollte.

Der Rechner rödelt noch, also schaue ich weitere Sachen durch: Die Papiere auf seiner Ablage (gehen erstmal alle mit), Kartons mit verschiedenem Elektronikzeug. Netzwerkkabel, Cinch-Kabel, Computerteile, CMOS-Batterien. Hier sind die also. Vor Weihnachten versuchte er mich noch zu überzeugen, dass ich die haben müsste.
Dieses irgendwie aufgeräumte und doch auch geordnete Durcheinander hier ist so sehr er – ich fühle mich heimelig. Bei ihm.

Traue mich ans Wegwerfen: Alte Werbeprospekte, Mitgliedermagazine, die herumliegen. Ist nicht viel. Zwei T-Shirts, durchgewetzt und mit Farbflecken. Würden eh im Müll landen.

Dann ins andere Zimmer. Ich öffne die Gitarrenkoffer, suche seine Guild. Finde sie, sie sieht jämmerlich aus. Sehr benutzt. Heiß geliebt. Soll die mit in die Kapelle? Oder lieber die rote? Was war das eigentlich für eine? Hat er mir dazu was erzählt? Bestimmt, aber ich habe wieder mangels Verständnis nicht richtig zugehört. Oder die neue weiße? Kann mich nicht entscheiden. B. fragen oder nochmal drüber schlafen. Ich hätte sie alle fotografieren sollen, dann hätte ich B. am Dienstag fragen können. Vielleicht gehe ich morgen nochmal hin.

Fange an, den Schrank in der Ecke durchzugehen. Viel altes Zeug. Erinnerungsstücke. Geschenke, für die er keine Verwendung hatte, die ihn trotzdem rührten: Der Gedanke zählte. Gehadert hat er dennoch mit diesen Dingen, wollte sie eigentlich schon lange aussortieren. Zu den meisten Sachen habe ich keinen Bezug, keine Geschichte. Sie können weg. Bei anderem die Frage: Brauche ich das? Möchte ich das haben? Unentschieden. Noch wird nicht ausgemistet, nur mal geschaut.

Ich ziehe das Bett ab, die Sachen sollten nochmal gewaschen werden, ebenso der Schlafanzug, der da hängt. Nichts riecht muffig, aber eben auch nicht frisch gewaschen. Er hatte einen sehr dezenten Eigengeruch.
Wann hat er hier zuletzt geschlafen? Als er das letzte Mal hier übernachtete? Das muss Monate her sein. Aber sicher hat er sich auch hier öfter nachmittags nochmal hingelegt. Hat er dann einen Schlafanzug angezogen? Der Schlafanzug (sagte er dazu „Pyjama“ oder bilde ich mir das ein?) spricht für Kälte, also hat er ihn wohl in den letzten Wochen getragen. Vielleicht sogar noch in der Woche nach Weihnachten. Rief ich nicht irgendwann nachmittags bei ihm an und er ging nicht ran? Und ich dachte noch: Was mag er denn ausgerechnet heute für einen langen Telefontermin haben?

Ich messe die Waschmaschine ab, die würde ich übernehmen, falls sie bei mir reinpasst.
Beim Schreibtisch bin ich unsicher. Er hat ihn sehr geliebt, aber er gefällt mir eigentlich nicht. Der alte Stuhl hingegen, so schrottig er ist, sitzt sich gut. Es ist ja auch eine Platzfrage. Ich mag seinen runden Tisch sehr, aber wo soll ich den wohl lassen? Er würde gut ins Haus passen, ebenso wie die zwei Sesselchen, die wohl sogar von dort stammen. Und die Kommode gefällt mir wiederum, aber: Wohin damit? Und die selbstgebauten Regale sind ungeheuer praktisch, die könnte man im Haus im Dachboden anbringen, ebenso wie die Arbeitsfläche auf Böcken. Aber wo lasse ich die in der Zwischenzeit? Doch eine Lagerbox mieten irgendwo? Und dann eine Spedition bezahlen für den Transport? Wäre neu kaufen nicht billiger?

Ich komme in den Aufräummodus, es fällt mir plötzlich gar nicht mehr schwer, Schränke zu öffnen und Dinge zu taxieren: Muss bleiben, kann weg. Und was haben wir hier? Ach ja.

Ich fühle mich wie damals, als ich nach dem Tod des Mitbewohners in seiner Abwesenheit (er war über Weihnachten bei der Schwester und brachte anschließend die Mutter nach Hause) an mehreren Tagen dort war und dessen Zimmer grundgereinigt hatte. Auch da hatte ich rumgeräumt, aussortiert, weggeschmissen und dann geschrubbt und gewienert. Geisteraustreibung.
Und wie glücklich war H. darüber gewesen – ich hatte ihm nichts davon gesagt, es sollte eine Überraschung werden – denn er war schon mit einem Knoten im Bauch nach Berlin zurückgekommen, weil ihm diese Aufgabe bevorstand.

Und mit wieviel Elan er anschließend das Zimmer „schön“ machte, den Putzschaden an der Decke reparieren ließ, alles frisch anstrich, mit mir zusammen einen billigen Teppich verlegte, eine Lampe kaufte, den Arbeitsplatz hierhin verlegte, Bilder an die Wände hing, Platten und Böcke und Bretter und Regalstützen besorgte und sich ein sehr großzügiges Arbeitszimmer einrichtete mit einer riesigen Ablagefläche, um endlich! alle seine seit Jahren gesammelten Papiere sortieren und Ordnung in seine Unterlagen bringen zu können. Dann zum 50. noch das Blumenregal mit Pflanzen von M. geschenkt bekam.

Zum ersten Mal seit Jahren (Jahrzehnten?) hatte er nun (2009) ein richtig wohnliches Zuhause, in dem er sich wohl fühlen konnte, auch wenn die Miete nun auf einen Schlag doppelt so hoch war, weil der Zuschuss des Mitbewohners fehlte. Was ihn auch oft in finanzielle Bedrängnis brachte. Erst jetzt kurz vor Weihnachten löste sich diese Sorge der etwa 5.000 Euro Mietschulden in Luft auf, als die Hausbesitzerin, die wohl schon lange den Überblick verloren hatte, die Verwaltung an einen Steuerberater übergab, der bei Null anfing. Zwar gleich mal die Miete kräftig erhöhte (bzw. von falschen Voraussetzungen ausging) und eine satte Nebenkostennachzahlung verlangte, aber dafür waren die Schulden weg und die seit Jahren drohende Räumung vom Tisch.

* * * * *

Irgendwann ist der Rechner fertig und ich packe zusammen. Das Telefon klingelt: WM, der im selben Haus wohnt. Er ruft wegen der verstorbenen gemeinsamen Bekannten an. Ich erzähle, wo ich bin und wir verabreden uns, dass er mir ein wenig tragen hilft und wir uns noch einen Moment auf dem Platz auf eine Bank setzen.

Während ich mich anziehe, klingelt erneut das Telefon: Musikerfrend KL, da gehe ich nicht ran, das könnte dauern. Ich werde ihn später oder morgen zurückrufen.

Vor dem Haus warte ich auf WM. Es ist ein komisches Gefühl: Wie oft stand ich vor diesem Haus und wartete auf H., der „nur mal eben schnell hoch“ gegangen war, um Klamotten wegzubringen oder zu holen oder sich umzuziehen oder etwas aus dem Tiefkühler zu holen oder einfach nur nach der Post zu schauen.
Und nun stehe ich wieder hier und warte, und diese Kontinuität hat etwas seltsam Beruhigendes: Die Dinge ändern sich zwar, aber nicht alle.

Ich sitze zwei Stunden mit WM auf einer Bank am Ballplatz, erst spielen da noch Kinder, dann wird es dunkel und ruhig, rundum sind die meisten Fenster erleuchtet, fast alle sind zu Hause.
Ich frage WM nach der Bekannten und ihrem Lebensgefährten/ Freund, andere Namen fallen, ich frage nach: Woher kanntest Du ihn? Wie haben die sich kennengelernt? Er hat ein gutes Gedächtnis, ich bewundere das.

Er erzählt mir auch, wie er H. kennengelernt hat, gleich an seinem Einzugstag in H.s Haus (1997/98), als er nach getaner Arbeit in den Laden gegenüber, eine Art türkischen Imbiss, gegangen war, um etwas zu essen und ein Bier zu trinken. Wie er sich vorgestellt hatte und gleich von H. angequatscht wurde, dem der Neuzugang schon von einem gemeinsamen Bekannten (der ebenfalls im selben Haus wohnte) angekündigt worden war. H. war ja immer auf gute Nachbarschaft bedacht, er war offen für und neugierig auf neue Leute, und man hatte Berührungspunkte. So kamen sie leicht ins Gespräch, verbrachten einen tollen Abend und waren seither gute Freunde.
Ich lernte beide zur selben Zeit etwa drei, vier Jahre später kennen.

Das Reden und Zuhören tun gut, wir reißen eine Menge Themen an, auch Persönliches. Mit WM konnte ich mich immer gut unterhalten, auch wenn ich immer das Gefühl habe, er mache sich das Leben unnötig schwer. Aber er kann halt auch nicht aus seiner Haut, wie wir alle.
Wer wird sich wohl mal um ihn und seinen Nachlass kümmern?

* * * * *

Ich bin erst um acht zu Hause, da hat M. schon angerufen, bemüht, nicht sorgenvoll zu klingen.
Trotzdem rufe ich sofort zurück und erzähle ihr von meinem Tag.

Ich fühle mich seltsam euphorisch, was mir vollkommen falsch erscheint.
Aber vielleicht auch nicht wirklich überraschend ist, schließlich hatte ich einen „erfolgreichen“ und fast „normalen“ Tag mit Bewegung, Sonnenschein, Kontrolle, Aktivität und Kontakt.
Wenn auch ohne H.

Ich muss ans Dorf denken, und mir wird ein bisschen schlecht: Die Nachbarn sind alles Paare, einige mit Kindern – wie soll ich da Kontakte knüpfen? Mit wem kann ich da am Samstag spazieren gehen oder am Sonntag Abend auf einer Bank sitzen und reden und mich an frühere Zeiten erinnern? Werde ich dort Freunde finden? Oder einsam versauern?
Bin ich nicht doch zu sehr hier in meinem Berliner Viertel verwurzelt als dass ich alle Brücken abbrechen könnte?

Selbst H. muss ja solche Gedanken gehabt haben, denn eigentlich war immer klar, dass wir auch bei einem Umzug ins Haus hier eine Wohnung behalten und regelmäßig zurückkehren würden.

* * * * *

Zum Abendbrot eine schnelle Dose Leberknödelsuppe, die ich letztens beim Discounter mitgenommen hatte.
Es ist spät geworden, ich bin um zehn mit dem Essen fertig.
Nichts im Fernsehen, von „There will be blood“ habe ich die erste Stunde verpasst, das macht keinen Sinn mehr. Also in der ARTE-App noch ein paar Folgen „In Therapie“ angeschaut und dabei eingeschlafen.

* * * * *

Woran ich mich erinnern will:
Abendliches Gefühl der Euphorie wegen Spaziergang, H.s Wohnung, Treffen mit WM. und einem Gefühl der Normalität in all diesem momentanen Wahnsinn.

What I did today that could matter a year from now:
WM. treffen.
In H.s Wohnung mit dem Räumen beginnen.

Was wichtig war:
Einen Brief schreiben.
Kontakt halten.
Rausgehen.
Pläne modifizieren.
Mich der Angst stellen.
In H.s Wohnung sein.
Mit Liebe und Wärme an ihn denken.
Seine Klarheit spüren.
WM. treffen.
Reden.
Fragen.

Begegnungsnotizen:
Menschen auf der Straße und im Park.
WM.

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