Von nächtlicher Angst über Leere im Kopf zu so etwas wie Freude am Leben geschleudert werden.
24. Februar 2021. Mittwoch. Und wieder eine Nacht voller Angst und Überforderungsgedanken: Das ist alles nicht zu schaffen. Wie soll ich das schaffen?
Dafür zum ersten Mal seit sechs Wochen einen Traumschnipsel erinnert: Auf einem Straßenfest oder Rummel zeigt ein junges Künstlerpaar eine neue Methode, wie sehr schnell ein stilisiertes Porträt vom Auftraggeber auf ein T-Shirt „gedruckt“ werden kann. Es sieht beeindruckend aus und löst trotz des hohen Preises von 200 Euro sofort einen Riesen-Run aus. Ich gehöre zu den ersten, die sich anstellen und vorab ihre 200 Euro bezahlen. Als ich nachfrage, wann ich das Stück abholen kann, heißt es: frühestens morgen. Wie, ich soll morgen nochmal hierher kommen? Wann denn ungefähr? Schulterzucken. Ich kann doch hier morgen nicht den ganzen Tag rumlungern, bis das vielleicht mal fertig ist. Ich werde wütend, erhalte aber keine wirkliche Antwort. Mein Geld zurückfordern will ich nicht, denn ich will dieses Ding haben – als Geschenk für H., als Überraschung, wenn wir uns wieder treffen.
Dann wache ich auf.
Geschlafen: Von etwa zehn bis halb eins vor dem laufenden Fernseher zum monotonen Erzählen einer NS-Doku. Um eins Strom aus (der Fernseher hatte sich schon vorher abgeschaltet). Knallwach und traurig und besorgt. Noch etwa eine halbe Stunde gelesen. Kurz weggenickt. Um zwei Licht aus. Geschlafen bis zum mehrmaligen Aufwachen in den frühen Morgenstunden: Angst. Überforderung. Nochmal eingeschlafen bis halb sieben. Insgesamt vielleicht acht Stunden, aber sehr unruhig und schlecht.
Wenn ich morgens aufstehe, bin ich so müde, dass ich mich am liebsten wieder hinlegen würde. Aber natürlich ist dann an Schlaf nicht mehr zu denken.
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Versuche mich an die gestern skizzierten Werkzeuge zu erinnern. Nichts. Kopf leer. Schlage nach:
Nachrichten nachmittags lesen.
Jeden Vormittag jemanden anrufen (oder treffen) und länger mit ihm/ihr sprechen.
Wenigstens jeden zweiten/ dritten Tag jemanden treffen. Zum Spazierengehen, zum Reden, zum Zusammensitzen.
Tage anders – schonender – strukturieren, maximal drei Sachen/ Komplexe an einem Tag angehen.
Schädliche Gedanken modifizieren oder auf später verschieben (einen Termin mit ihnen machen, wenn sie Raum bekommen).
Keinen Plan, wie ich das gerade konkret umsetzen soll. Der Kopf ist leer.
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Wenn man Tag für Tag zusammen ist, bemerkt man viele Dinge und Veränderungen nicht. Jetzt in der Rückschau bin ich teilweise sehr erschrocken: Warum hast Du das nicht gesehen? Oder, wenn Du es gesehen hast, warum hast Du nichts getan?
Keine Selbstvorwürfe, es war, wie es war, ich habe mich immer bemüht, im Moment zu sein und das Richtige zu tun, no regrets.
Aber ein gewisses Unwohlsein ist da schon:
Wie erschöpft und krank er auf den Fotos aus den letzten sechs Wochen aussieht.
Wie er im letzten Jahr gealtert ist.
Wie viele Sorgen er nach wie vor in sich reingefressen haben muss (Mietrückstand, Kundenschwund, Einnahmenrückgang, die fehlende Krankenversicherung, zunehmend körperliche Malaisen, schlechter Schlaf…).
Wie sehr wir uns letztendlich vor der Welt zurückgezogen haben: Kein Ausgehen, kaum Begegnungen oder Kontakte mit Freunden und Bekannten.
Immer nur Arbeit – für Kunden, im Haus, im Garten. Kaum Freizeit. Kein Urlaub.
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Die Realität, dass H. tot ist, sickert immer mehr ein. Ich spüre jetzt Tag und Nacht eine Grundtraurigkeit. Es oszilliert momentan sehr in Richtung „verlustorientierter Pol„. Das alltägliche Tun empfinde ich zwar als „dringend“ (weil Geld verdient werden muss und der Beisetzungstermin und das Ende von H.s Mietvertrag unaufhaltsam näherrücken), kann mich aber dennoch nicht zum Tun aufraffen, es erscheint sinnlos im Sinne von: Es ändert ja doch nichts, H. ist tot.
Oder ist das dieselbe depressive Verstimmung, die ich bereits Ende letzten Jahres und Anfang Januar verspürt habe? Die aus einer tiefen Erschöpfung resultierte, vielleicht begleitet von der unterschwelligen Wahrnehmung von H.s Problemen?
Es lässt sich schwer abgrenzen.
Ist vielleicht aber auch eher von akademischen Interesse: Was nutzt es mir zu wissen, wie lange das schon besteht, und welchen Anteil welches Lebensereignis daran hat(te)? Entscheidend ist, wie ich jetzt damit umgehen und mir dabei möglichst gut tun kann.
Die Schwierigkeit, Entscheidungen zu treffen: Was ist jetzt wichtig? Wann mache ich was? In welcher Reihenfolge arbeite ich die Aufgaben ab?
Normalerweise leiten mich Lust, Energielevel und sachliche Informationen. Momentan funktioniert davon nichts. Ich lege also Pi mal Daumen eine Reihenfolge fest, mache alles mit Widerwillen, es kostet Unmengen an Energie und ich habe ständig das Gefühl, gerade das Falsche zu tun.
Kann das der richtige Weg sein? Oder geht es eben momentan nicht anders?
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Anderthalb Stunden einfach gemacht: Trauer-Podcast an, die erste neue Mail lesen, To-Dos daraus aufschreiben, sie beantworten. Nächste Mail lesen und beantworten, übernächste Mail. Einer Freundin einen kurzen Statusbericht schreiben. Das Reflektieren über die Situation und das Zusammenfassen komplexer Gefühlswelten fokussiert mich etwas.
Noch zwei Job-Mails bearbeiten, immer nach demselben Schema: Mail lesen, Mail in meine Projektverwaltung kopieren, den Text in einzelne Aufzählungspunkte unterteilen, einen Bearbeitungstermin festlegen, eine Antwort schreiben, dass ich mich kümmern werde, dabei einfache Fragen gleich beantworten.
Anrufbeantworter abhören und mit den Anrufen ebenso verfahren: Anrufer, Zeit, Thema, Fragen aufschreiben, SMS schicken, dass ich mich kümmern werde, und Danke für den Anruf.
Zwischendrin immer minutenweise pausieren und dem Podcast zuhören.
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Ich koche Pflaumen ein, die hatte ich am Wochenende bei H. aus dem Tiefkühler mitgenommen. Sie stammen aus der letzten Sommerernte bei P. Ich hatte sie eingeschweißt und auf unsere Tiefkühler verteilt, zur späteren Verarbeitung. Da hier bei mir kein Platz ist, muss ich seinen Tiefkühler nach und nach leeren.
Nun gibt es also ein paar Gläser Pflaumen süß-sauer.
Ich bereite den Bestatter-Termin vor, notiere Fragen. Im Wesentlichen geht es darum, dass ich mal langsam ein Grundgerüst für die Trauerfeier entwickeln kann, mir schwirren zu viele Gedanken im Kopf herum.
Ich stelle Unterlagen für die Krankenkasse zusammen: Steuerbescheide, Rentenversicherungsverlauf. Ein Anschreiben: Im Auftrag der Schwester von übersende ich Ihnen usw.
Ich mache. Das tut gut.
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Der Termin beim Bestatter macht mir richtiggehend gute Laune. Geborgenheit, Anerkennung, Respekt, Augenhöhe, Mitgefühl. Ich bin in meinem Leben umgeben von entzückenden Männern. H.s Freund B. ist dabei, auf dem Weg kommt mir die offensichtliche Idee, ihn in die Planung einzubeziehen. Er scheint nur auf die Bitte gewartet zu haben. Manchmal ist es so einfach.
Wir besichtigen die Kapelle mit einer netten Frau von der Friedhofsverwaltung, entwickeln Ideen, klären Fragen. Ich lebe auf. Planen, organisieren, verborgene Treppen hochsteigen, in Nebenräumen herumstöbern. Wieviel lieber bin ich hinter den Kulissen anstatt konsumierendes Publikum.
Im anschließenden Dreiergespräch entwickeln wir einen groben Ablauf. B. ist das alles zu viel und zu wild, vielleicht hat er Recht. Irgendetwas Schräges soll aber rein. Er fängt an, ein paar Sprüche zu machen, und da fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Wir nennen es nicht „Trauerrede“ sondern irgendwie anders, und wir werden ein Bild von H. zeichnen, das seine anstrengenden Seiten nicht ausspart, sondern die Leute auch zum Lachen bringen kann. Vielleicht stellen wir den ganzen Ablauf unter irgendein Motto und geben den einzelnen Teilen seltsame Namen. Es muss „anders als normal“ sein.
Ich verabrede mich mit B. für Samstag, er wird für uns kochen, dann können wir bei einem Glas Wein etwas „brainstormen“.
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Wieder zu Hause bin ich geradezu euphorisch und aufgedreht. Was für eine 180-Grad-Kehrtwende im Vergleich zu heute Morgen oder gar gestern.
Trauer ist etwas Seltsames.
Es ist das Gefühl von Kontrolle, von Aufgehobensein, von „Normalität“, von Machenkönnen.
Oder doch das Wetter? Der Fast-Vollmond?
Ich höre mich quer durch das Repertoire von zwei von H.s Lieblings-Gitarristen (Adrian Belew und Jeff Beck), aber was passend erscheint, ist gleich wieder so traurig.
Eigentlich will ich noch ein Stündchen arbeiten, aber dann mailt Freundin B. aus dem Nachbarhaus, sie bräuchte noch einen Abendspaziergang. Da schließe ich mich gerne an, und wir drehen eine Runde, lachen viel, landen vor unserem Stammlokal, der Wirt kommt raus und wir plaudern. Wie früher. „Normal“. Was tut das gut. H. ist liebevoll präsent, sowohl unten wie oben in meiner Wohnung.
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Nach dem obligatorischen Telefonat mit M. noch schnell Nudeln mit Käse und Zwiebeln gekocht. Comfort Food.
Die Wohnung riecht, als hätte man hier große Mengen Rotkohl gekocht. Ist wohl noch der Rest Pflaumensud im Topf.
Fernseher läuft nebenbei, konzentriertes Schauen (Alles, was kommt und eine Doku über Lotte Eisner auf ARTE) nicht möglich. Müde.
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Woran ich mich erinnern will:
H. ist jetzt hier bei mir.
What I did today that could matter a year from now:
?
Was wichtig war:
Arbeiten.
Machen.
Trauer-Podcast hören.
Mit Nahrungsmitteln arbeiten.
Bestattertermin.
Freunde treffen.
Lachen.
Dabei die ganze Zeit voller Liebe und Zuneigung an H. denken.
Leben.
Begegnungsnotizen:
Menschen auf der Straße und am Kanal.
Bestatter. Freund B. Die Frau von der Friedhofsverwaltung.
Freundin B. Wirt J.