Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Der fünfundvierzigste Tag im Danach: Rumgerenne

Die Sehnsucht, Teil von etwas zu sein. Für mich und meine Interessen eintreten.

12. März 2021. Freitag. Von etwa halb zehn bis Mitternacht bei laufendem Fernseher geschlafen, dann noch bis drei bei Licht. Um halb fünf wieder wach, gedöst, nachgedacht bis kurz vor sechs. Sieben schlechte Stunden.

Aufgewacht mit dem Gedanken: Ich sehne mich nach Ruhe und habe Angst vor der Stille.

Angst vor dem gleichförmigen Verrinnen der Stunden, Tage, Wochen, Jahre. Angst vor der Einsamkeit. Angst vor der Ermüdung der anderen, mit dieser Trauernden umzugehen.
„Die Beisetzung wird ein Einschnitt für Dich sein“, sagen sie. Für mich? Oder weil dies der Tag ist, an dem es mit der Rücksichtnahme, der Zuwendung, dem In-Watte-Packen vorbei sein wird?
Wer wird mir darüber hinaus erhalten bleiben als „Du kannst mich jederzeit anrufen“-Ansprechpartner?

Aber auch Sehnsucht danach, zu mir zu kommen, nicht immer rennen und reagieren zu müssen, wieder selbst zu bestimmen, was wann wie getan wird. Auch wenn das Rennen und Reagieren durchaus belebend wirkte und mich ein gutes Stück weit zusammengehalten hat in den letzten Wochen.
Es war allemal besser als erschöpft-deprimiertes Nicht-wissen-was-tun.

Und wieder das Gefühl, um 20 Jahre zurückgeworfen zu sein. Wieder wird es nur Arbeit, Haushalt, essen, fernsehen (oder lesen) geben.

Wieder wird es Anstrengung bedeuten, unter Menschen zu kommen. Damals waren es die Kneipenabende in der Stammkneipe, unser aller „Wohnzimmer“, die mich im und am Leben erhalten haben. Das geht nun nicht mehr, und daran ist gar nicht mal in erster Linie dieaktuellesituation schuld, sondern eher das veränderte Trink- und Ausgehverhalten der Leute meines Alters.
Und was dann? In Vereine eintreten? Die bestehenden Bekanntschaften vertiefen?

Ich habe keine Sorge, dass ich zu wenig Menschen in meinem Leben habe oder mich schwertue, neue kennenzulernen. Ich fühle mich nur angesichts der Anstrengung im Voraus erschöpft, aus all diesen losen Kontakten so etwas wie ein stabiles soziales System oder Netz oder was auch immer schaffen zu müssen. Und habe Angst, dass ich vor der Anstrengung kapitulieren und mich in mein Schneckenhaus zurückziehen werde, weil es einfacher zu sein scheint.

Denn ich kann mir durchaus selbst genug sein, ich kann mich selbst beschäftigen und aus der Beschäftigung Befriedigung ziehen.

Aber es geht mir besser, wenn ich ein Gegenüber habe, der mich immer wieder aus meinem Trott rauswirft, der mir Impulse gibt, der es mir auch mal ungemütlich macht in meiner Blase. Jemand, mit dem ich meine Gedanken teilen und meine Theorien und Meinungen auf den Prüfstand stellen kann. Jemand, der mich sehr gut kennt. Jemand, dem ich voll und ganz vertrauen kann. Jemand, der meine Abgründe kennt und sie annehmen kann.

Ob der H. in meinem Kopf das leisten können wird, wenn ich ihn jemals wiederfinde? Denn im Moment verschwindet er hinter einem zersplitterten Bild, das ich mir nach all den Gesprächen mit Menschen, die ihn kennen, von ihm gemacht habe.

Ich denke wohl wieder den dritten Schritt vor dem ersten. Nun gilt es doch zuerst einmal, die Beisetzung hinter mich zu bringen. Dann seine Wohnung und Firma aufzulösen. Zur Ruhe zu kommen. Meine Gedanken zu H. zu sortieren. Ihn zu mir zurückkehren zu lassen. Zu einem Punkt – oder Zustand zu kommen – wo ich sagen kann: So, hier bin ich jetzt. Und nun, wie weiter? Wohin gehen wir von hier aus?

* * * * *

Früh aufgebrochen, um die Zweige, die mir Nachbarn im Dorf in unserem Garten abgeschnitten und geschickt haben, zur Floristin zu bringen, die daraus eine florale Überurne herstellen wird.

Wieder zu Hause kurze Pause, dann Fernwartungstermin mit einer Kundin von H. (Lizenzverlängerung einer Software). Nettes, persönliches Gespräch.

Freund B. kommt eine Viertelstunde früher, wir gehen zusammen zu H.s Wohnung rüber, damit er sich die Gitarren anschauen kann. Eine nimmt er mit, die wird in der Kapelle stehen. Es ist gut, mit jemandem in der Wohnung zu sein, ich habe dann eine andere Distanz zu den Dingen, weil jetzt plötzlich ich diejenige bin, der das alles vertraut ist (Vereinnahmung?).

Dann Internet lesen, Browsertabs aufräumen, Mails lesen und beantworten.

Der Paketdienstleister hat es zum dritten Mal geschafft, das Paket trotz EXAKTER Anweisungen nicht zuzustellen. Ich muss beim Service-Telefon ein wenig brüllen. Nächster Versuch.

* * * * *

Eine Kleinigkeit für die Lieblingskundin erledigen, Lotto spielen, am aktuellen Projekt weiterarbeiten.

Ich entscheide, mich vor das Büro des Bestatters zu stellen, falls das Paket doch noch zugestellt wird (er ist nicht da). Spaziere dorthin und nehme meinen Redeentwurf mit. Nutze die anderthalb Stunden Wartezeit, um meine Rede umzuschreiben und zu proben.
Der Paketdienst kommt nicht, aber die Rede wird nochmal besser, denke ich.

Telefonisches Hin und Her mit dem Bestatter und dem Paketdienst. Jetzt haben wir zwei Zustelltermine, hoffentlich klappt irgendwas.

* * * * *

Ich möchte eingebunden sein in ein großes Ganzes; ich möchte Teil von etwas Größerem sein.
Ein Projekt, ein Kollektiv, ein Team. Gleichgesinnte. Freunde.
Das ist es, was mir in unserer Beziehung so gut getan hat.

* * * * *

Zum Abendbrot ein Tiefkühl-Pfannengericht mit Spiegelei. Auf ARTE „Leben über Kreuz„. Harmlos.

* * * * *

Woran ich mich erinnern will:
Erstaunlich, wie viele Dinge ich gestemmt bekomme, fast als wäre alles „normal“. Dabei laufen die Trauer und die Erinnerungen immer wie eine Doppelbelichtung in der zweiten Spur mit.

What I did today that could matter a year from now:
?

Was wichtig war:
Rausgehen.
Dinge tun.
Immer parat sein.
Durchhalten.
Freundlich bleiben.
Mich hinter einer Rolle verschanzen und mich lebendig fühlen.

Begegnungsnotizen:
Menschen auf der Straße.
Floristin (Maske, Abstand)
Freund B. (Abstand, ohne Maske)

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Ein Gedanke zu “Der fünfundvierzigste Tag im Danach: Rumgerenne

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