Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Der sechsundvierzigste Tage im Danach: Verunsicherung und Ablenkung

Ablenkung hält die akute Angst und Trauer in Schach, dafür wächst die Angst vor dem anderen „Danach“.

13. März 2021. Samstag. Geschlafen von halb zehn bis halb vier, davon bis halb zwölf mit Fernseher und Licht. Wach gelegen bis 5:00, dann aufgestanden, obwohl ich noch müde bin.
Kurz überlegt, ob ich wie H. Netbook und Kaffee ins Bett nehme und hoffe, wieder einzudösen, aber das Internet-Lesen auf dem langsamen Gerät mit dem kleinen Bildschirm ist beschwerlich und die Haltung sicher nichts für meinen Nacken, außer ich setze mich hin, und dann werde ich sicher nicht einschlafen.

Vor mir liegen zwei Tage ohne Termine, das fühlt sich seltsam an. Einerseits frei (Sehnsucht nach Ruhe), andererseits beängstigend (Angst vor der Stille; siehe gestern). Aber ich werde die Tage schon füllen, und auch Kontakte/ Telefonate werden nicht zu kurz kommen.

Gedanken beim morgendlichen Wachliegen:
Der Stress mit dem Paketdienst die letzten beiden Tage. Wie wäre H. damit umgegangen? Sicher hätte er sich nicht so aufgeregt wie ich. Wäre am Telefon sehr cool und leicht bedrohlich gewesen („Ich erwarte eine Lösung. Sonst wird das für XXX richtig teuer.“).
Wie kann ich die Dinge, die er mir vorgelebt hat und bei denen ich mich auf ihn verlassen habe, künftig selbst übernehmen – und dabei so viel wie möglich von seiner Art integrieren?
Die Wohnungsauflösung. Wie mache ich das? Was behalte ich? Wovon kann ich mich trennen? Wen bitte ich um Hilfe?
Ich fühle eine große Stärke in mir (Resilienz?). Gleichzeitig habe ich in den letzten Wochen verschiedentlich gemerkt, dass ich auch einige psychische Baustellen habe (Härte und Ansprüche mir selbst gegenüber). Wie kann ich die angehen? Kann ich mir eine:n Therapeut:in leisten?

* * * * *

Bis halb acht ausgiebig gelesen (Nachrichten, Blogs) und geschrieben (hier, rückwärts). Müde. Doch nochmal hinlegen? Blöde Zeit. Ich schreibe der B. eine SMS, vielleicht ergibt sich ja ein Spaziergang.

Den Tag geplant. genug zu tun ist ja, neben Arbeit für Kunden muss auch etliches im Haushalt getan werden, diverse Mails müssen geschrieben, Anrufe erwidert werden. Es sind Rechnungen zu schreiben und die Finanzplanung zu aktualisieren.

* * * * *

Im Paket mit den Zweigen aus unserem Garten war die Wochenendausgabe der Regionalzeitung als Füllmaterial. Ich löse das Kreuzworträtsel. Jedes Wort ruft Bilder und Erinnerungen wach. Ich fühle mich schutzlos.

Ich habe Zeit, und schon geht das gedankliche Mäandern wieder los. Das tat mir in „normalen“ Zeiten mental auch nicht gut, wie sollte es jetzt anders sein?

* * * * *

Machen hilft: Wäsche waschen, einkaufen gehen, saugen. Zum Frühstück Fernsehen (irgendwelche historischen Kriminalfälle in England). Es geht mir besser, ich denke sogar darüber nach, eventuell später zu H. in die Wohnung zu gehen, um zu räumen.

Der Bestatter ruft an: Die Pakete sind nun heute Vormittag zu ihm geliefert worden. Ich bin froh. Zwar hatte ich den Stress und er hat es jetzt ganz einfach „hingekriegt“ (er wurde letztendlich vom Paketdienst angerufen), aber Hauptsache, das Zeug ist da. Jetzt haben wir wirklich alles zusammen.

Um 12:00 Uhr treffe ich mich mit der B., und wir drehen eine große Runde am Kanal, 5,7 Kilometer in guten anderthalb Stunden. Spaziergangtempo. Irgendwie finden wir immer Themen zum Reden, das ist schön. Hoffentlich gehe ich ihr nicht irgendwann auf den Wecker, das tut mir so gut…

Als wir uns vor meiner Tür verabschieden, wird mir schon wieder mulmig: Angst vor der Trauer, Angst vor der Angst, Angst vor der Leere.
Oben ist es dann gar nicht so schlimm; ich erinnere mich an mein Gefühl als ich vorhin weggegangen bin, es sind Kondolenzkarten von lieben Menschen gekommen, darunter eine aus dem Dorf: „Wir freuen uns, wenn Du wieder hier bist!“ Wärme.

* * * * *

Ich bekomme zunehmend Angst vor dem Beerdigungstag. Angst, meine Rede zu halten, Angst vor den Gefühlen. Aber vor allem: Angst vor dem Danach.

Wie schön wäre es gewesen, im Kreise lieber Menschen den Nachmittag und Abend über zu essen und zu trinken und irgendwann spätabends besoffen nach Hause zu taumeln und zwei Tage zu schlafen.
Inderaktuellensituation ist aber nur ein kurzes Anstoßen am Grab möglich, und danach müssen wir entweder jeder nach Hause, oder wir holen uns Essen-to-Go und setzen uns bei acht Grad auf irgendeine Parkbank.

Mehrere Leute haben mir jetzt angeboten, bei mir zu sein, aber erstmal muss ich mich ja um M. und die Schwesterfamilie kümmern. Die werden sich aber alle nach mir orientieren, und ich kann im Moment so gar keine Vorschläge machen.

Ich muss mir für mich etwas ausdenken, damit ich nicht in ein Loch falle, weil jetzt alle Aufmerksamkeit auf diese Zeremonie gerichtet ist und danach die große Leere beginnt.

* * * * *

Mails schreiben, den Ablaufplan für die Beisetzung an verschiedene Beteiligte schicken, nochmal die Planung überprüfen und Kleinkram rausstreichen.

Da mir noch ein paar Sachen einfallen, um halb fünf spontan nochmal raus zum größeren Supermarkt. Wie gut, dass das hier einfach mal eben geht – mache ich zwar äußerst selten, aber gut zu wissen, dass man es kann. So spare ich mir am Montag einen Gang.

Freund B. ist bereit, am Montag den Bestatter mit den Paketen mit dem Auto abzuholen. Der wird nun wiederum nervös, dass er nicht zu spät zum Termin kommt.

Freundin B. entschuldigt sich, dass es morgen mit dem Spaziergang später werden könnte, weil Verwandte zu Besuch in der Stadt sind. Wie lieb, dabei geht das doch unbedingt vor.

Ein paar Überweisungen (Krankenkasse), dann Anruf bei P., der ganz aufgeräumt klingt, obwohl er nach wie vor ziemliche Rückenschmerzen hat (Bandscheibenvorfall). Die hoch dosierten Schmerzmittel im Krankenhaus hatten zu stark erhöhtem Blutdruck geführt, jetzt pendelt sich alles langsam wieder ein.

Telefonat mit M., die sich gerade angewöhnt, abrupt das Thema zu wechseln, wenn ihr meine Erzählung zu langweilig wird. Insgesamt ist sie sehr gestresst wegen der Beerdigung, ich weiß aber nicht genau, warum im Detail. Dass sie von ihren Gefühlen übermannt wird? Oder eher, dass ich nicht zu ihrer Unterstützung zur Verfügung stehe und sie alleine klarkommen muss – mit was auch immer?

Zum Abendbrot das dritte Mal von dem TK-Pfannengericht (Steakhouse-Pfanne) – einen solchen 750-Gramm-Beutel haben wir sonst zu zweit weggeputzt – oft noch mit zusätzlichem Ei darin. Ich alleine esse jetzt drei Tage daran, allerdings ebenfalls mit Ei. Mein Essensverbrauch hat sich drastisch reduziert – alleine habe ich einfach weniger Appetit und Spaß am Essen, ich esse wirklich nur, damit der Hunger weggeht. Aber: wenn ich mir den Teller voller packe, esse ich den auch leer, ich kann also schon ein bisschen steuern. Das hätte ich mit H. auch gekonnt, aber da hat es mir oft einfach zu gut geschmeckt, oder ich wollte die Situation des gemeinsamen Essens in die Länge ziehen.

Damit ich nicht um acht schlafe und um drei wach bin, versuche ich, den Abend in die Länge zu ziehen und räume noch eine Dreiviertelstunde meinen Feedreader auf.

Um halb zehn vor dem Fernseher ins Bett (Archäologie-Dokus auf ARTE).

* * * * *

Woran ich mich erinnern will:
Die Lieferung ist da!

What I did today that could matter a year from now:
Rausgehen, Kontakte, Dranbleiben.
Wer weiß?

Was wichtig war:
Ablenken.
Mit den Händen arbeiten.
Dreimal rausgehen.
Menschen treffen.
Finanzplanung.
Reden.
Vorbereiten.

Begegnungsnotizen:
Freundin B. (draußen, Abstand, ohne Maske)
Kund:innen und Personal im kleinen und im großen Supermarkt, Menschen auf der Straße.

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