Liebe Menschen. Wärme. Lachen. Weinen. Glück.
16. März 2021. Dienstag. Stündlich aufgewacht und die ganze Situation jedes Mal als völlig abstrakt empfunden. Wecker um fünf. Sieben Stunden Halb- und Stückchenschlaf.
Ich bin im Erledigungs-Modus: Keine Gefühle, das wird jetzt durchgezogen. Ähnlich wie ein Reisetag oder einer mit wichtigem Kundentermin. Einfach dem vorgefertigten Zeitplan folgen und Schritt für Schritt abarbeiten. Keine große Angst, stattdessen sogar etwas wie freudige Erwartung: Der Tag ist jetzt da. We’re gonna fuckin‘ blow them away.
Emotional nicht ganz angemessen, aber es wird helfen, alles durchzustehen, ohne komplett durchzudrehen.
Eher die Angst, nicht „angemessen“ traurig zu erscheinen.
Was ist mein „Job“ heute? Da sein. Trauer verkörpern. H.s Verlust personifizieren.
Und für mich? Was kann, soll dieser Tag für mich bedeuten? Ein Einschnitt? Ein Abschluss? Ein „Etappenziel“? Abschied?
Nichts von alledem.
Was fühle ich gerade jetzt?
Müdigkeit. Gespannte Aufregung. Angst. Nervosität wegen des Filmens. Sehnsucht nach einem starken Arm um meine Schultern.
Was denke ich gerade jetzt?
Unsicherheit, Verwirrung: Wie soll ich heute sein? Wie soll ich mich geben? Was ist ein angemessenes Verhalten? Authentisch sein? Zusammenreißen?
Und: Wie würde ich mich gerne fühlen?
Was möchte ich gerade jetzt tun?
Loslegen. Mich hineinstürzen. Es erleben.
Wie würde ich mich gerne fühlen?
Zart. Verletzlich. Traurig. Voller Liebe zu H.
* * * * *
Und wieder die große Sehnsucht nach dem Seelenfreund, dem starken Arm, dem Mann an meiner Seite. Keine romantische Liebesbeziehung, sondern Freundschaft, Zuneigung, Zugewandtheit, Sorge, sich kümmern wollen. Jemanden, der sich nicht von meiner „Stärke“ ins Bockshorn jagen lässt (weil er selber anlehnungsbedürftig ist oder Angst davor hat). Jemanden, der mich sieht und mich mag wie ich bin.
Mit dem Verstorbenen verliert man Ressourcen (z.B. Rückhalt, Sicherheit, Ansprache), die man zur Lebensbewältigung benötigen. Die Bedürfnisse hören nicht auf, also streckt die Seele ihre kleinen Ärmchen aus und sucht Ersatz. Jemand anderen, der die Bedürfnisse befriedigen kann. Oder mehrere andere.
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Ich gehe früh zum Bäcker, um das Baguette für den späteren Imbiss zu holen. Idiotisch, denn der Bäcker liegt auf halbem Weg zum Friedhof. Ich will die Häppchen aber zu Hause vorbereiten, damit das später vor Ort nicht zus tressig wird.
Wie sich herausstellen wird, war das eine kluge Entscheidung, denn das dauert alles viel länger als gedacht, und es wird auch so stressig bis zur letzten Minute.
Zurück zu Hause: Frühstück, Rede üben. Ich heule wieder. Gut.
Häppchen vorbereiten (Baguette und Fleischwurst in Scheiben schneiden, mit Zahnstochern aufpieksen, in einer Box stapeln).
SMS mit dem Filmer, ob jemand bei den Sachen am Grab bleiben kann. Alles ok, jemand passt auf, dass nichts verschwindet. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass der Bestatter sich um so etwas kümmert und z.B. ein, zwei Helferlein vor Ort hat. Aber vermutlich hatte er solche Situationen einfach noch nicht, es ist ja auch pandemiebedingt alles anders.
Nochmal in die Mails schauen, ein Kunde sagt seine Teilnahme ab.
Dann los. Schwer bepackt (Rucksack, eine große Box, ein großer Tortenbutler (alles voller Häppchen)) muss ich unterwegs zweimal kurz Rast machen. Später zittern mir trotzdem die Arme.
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Um kurz nach halb zehn stehe ich vor dem Ladenlokal. Niemand da. Ich rufe den Bestatter an, ob er schon drinnen ist. Stresse ihn schon wieder: „Ich bin in sieben, acht Minuten da!“ Ich hatte ihn ja gefragt, wann er da sein wird, weil die Floristin um zehn kommen will. „Viel früher“ war die Antwort gewesen. Nun ja. „Viel früher“ ist für mich persönlich schon mehr als eine Viertelstunde, aber sei’s drum. Ich bin vorbereitet, alles gut. Ab jetzt ist er verantwortlich.
Die Floristin kommt – natürlich – um Viertel vor zehn, und ich begrüße sie gerade und nehme ihr das Restmaterial ab, was sie nicht verwenden konnte, als der Bestatter angehetzt kommt.
Die florale ÜBerurne ist wunderschön geworden, sie hat viele verschiedene Äste von Sträuchern aus unserem Garten eingearbeitet, und durch das verschiedenfarbige Laub und Blüten (Forsythie) und Beeren (Ilex) sieht es sehr lebendig aus, wie ein kleines Gestrüpp. Ergänzt hat sie das mit Traubenhyazinthen und Tulpen, so ergibt das eine Ahnung von Frühling. Sehr schön.
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In der Zwischenzeit kommen auch Freund B. und die Filmleute. Allgemeine Begrüßung und ein wenig Geflachse, was eigentlich völlig unpassend erscheint, aber zwischen mir und dem Bestatter herrscht eine leicht aufgedrehte Hysterie: Showtime!
Wir schleppen alles rüber zur Kapelle, dort stehen schon die Nachbarn aus K. Begrüßung. Ich muss mir das Lächeln aus dem Gesicht wischen, nehme vor lauter Aufregung kaum wahr, was sie mir erzählen.
Die vorherige Feier verspätet sich etwas, während bei uns schon die ersten Gäste und Helfer eintrudeln und wir Tonnen von Zeug im Warteraum der Kapelle unterstellen.
Gespannte Aufregung liegt in der Luft, es fühlt sich an wie vor einem Gastauftritt mit einer Theater- oder Musikgruppe. Einer Gruppe, die nicht besonders gut aufeinander eingespielt ist, muss man leider sagen, aber Bestatter und ich teilen uns die Aufgaben und Ansagen recht gut auf, und die Filmleute machen ohnehin ihr Ding.
Nur leider kümmert sich niemand so recht um die Gäste; ich wirbele in der Kapelle und mache den Aufbau in meinem Sinne. Der Bestatter erscheint im Detail etwas planlos, dabei hatten wir das doch meiner Meinung nach alles besprochen. Seine Stärke ist wirklich der Umgang mit den Trauernden, nicht so sehr das Organisatorische, obwohl er gut improvisieren kann.
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Wir sind fertig als die ersten Trauergäste in die Kapelle gelassen werden. Ich sause raus, um mit einer Kerze möglichst gemessenen Schrittes wieder eintreten zu können. Sehe kurz Schwester und Schwager, erhasche ein paar Gesichter. Alles furchtbar stressig (aber es fühlt sich auch gut an).
Die Zeremonie ist schön, die Tränen fließen reichlich – nur nicht bei mir. Ich fühle mich tatsächlich eher wie der Organisator des Ganzen, nicht wie ein Teilnehmer oder gar die Hauptbetroffene (neben dem Toten). Auch eine Art von seelischem Schutz nehme ich an.
Die Rednerin verhaspelt sich ein paarmal, das stößt mir etwas auf, sie scheint mehr Gefallen an ihrer Darstellung zu haben als am korrekten Vortragen. Immerhin bringt sie etwas Leichtigkeit hinein.
Die Freunde und Bandkollegen sprechen ergreifend und wahr, aber sie bringen jeder auch ein Schmunzeln rein.
Es ist alles sehr stimmig und passend.
Ich halte meine Rede, und zum ersten Mal kommen mir nicht die Tränen. Am Ende muss ich meine Stimme mit Absicht etwas brechen lassen, sonst würde es allzu kalt wirken.
Der Ausmarsch verzögert sich etwas, weil die Friedhofsangestellten plötzlich verschwunden scheinen, aber dann wird die Urne herausgetragen und wir folgen in einem etwas chaotischen Haufen.
Vor der Kapelle wird mir die Urne übergeben und ich trage sie hinauf zur Grabstelle, den Friedhofsangestellten immer an meiner Seite.
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Auch die eigentliche Beisetzung ist schön; als die Urne herabgelassen wird, steigt eine Feuerwerksrakete in den Himmel, ein echter Gänsehatmoment.
Und ein innerlicher Lacher als wir hinterher kurz im stinkenden Qualm stehen.
Jede(r) geht einzeln zum Grab und wirft etwas Erde hinen, die Reihenfolge ist auch hier etwas willkürlich. Wegen Corona stehen wir alle verteilt, es gibt keine Beileidsbekundung den Angehörigen gegenüber; H.s Schwester hält sich ohnehin ziemlich im Hintergrund.
Während das Grab geschlossen wird, verliest die Rednerin das Gedicht der Freundin aus K., dann kündige ich den Imbiss an, wir wechseln alle auf die benachbarte, etwas tiefer liegende Wiese, wo Getränke und Häppchen aufgebaut sind.
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Das Wetter hält – obwohl seit zwei Wochen für diesen Tag Regen angekündigt war, bleibt es trocken, wenn auch kalt und windig. Selbst die Sonne lugt kurz hervor. Wie ich gesagt hatte: Wenn H. und ich etwas vorhaben, ist immer gutes Wetter!
Der Stehempfang ist schön, ich spreche mit den meisten Anwesenden, darunter auch einige Freunde, die ich nur vom Hörensagen kenne. Es ist eine gute, wenn auch natürlich gedrückte Stimmung, und viele sprechen es aus: Es wäre ein toller Tag, wenn die Hauptperson lebendig anwesend wäre.
Nur, dass die meisten dann vermutlich nicht da wären…
Ich fühle mich wie die Gastgeberin einer großen Party, bin aufgeregt und versuche, allen gerecht zu werden.
Traurigkeit kommt nicht auf, es schafft eine hilfreiche Distanz zum Geschehen.
Sogar ein wenig freundschaftliches Gefrotzel mit dem Bestatter ist drin; dem imponiert glaube ich mein Organisationstalent ein wenig.
Nach anderthalb Stunden sind die meisten gegangen, auch der Bestatter hatte sich schon verabschiedet, was ich schade fand: ich dachte, er bleibt bis zum Schluss in der Nähe. Aber ihm war kalt, und er will nun auch nicht Stunden schinden. Immerhin schafft er mit einigen helfenden Händen alle Sachen nach vorne und verlädt sie mit Freund B. in dessen Auto. Selbst nach meinem Rucksack sucht er noch.
Er ist ein bisschen unbeholfen in manchen Details, aber er ist so ein lieber Mensch, das ist in seinem Job sicher wichtiger.
Wir anderen berchen dann urz darauf auch auf, mein Rucksack taucht bei dne Filmleuten auf, alles gut. Mit drei Freunden gehe ich nach Hause, sie haben denselben Weg.
* * * * *
Zu hause ANruf bei und langes Gespräch mit M., die heute aufmerksamkeitstechnisch ein wenig kurz gekommen ist.
Lange SMS an einen Freund, der heute auch gesprochen hat und nun noch kurz seine Nach-Trauer teilen muss. Lieber Kerl.
Langes Telefonat mit einem anderen Freund, der heute seine Blumen vergessen hat. Verabredung für morgen: Wir gehen zusammen hin, und nehmen die Blumen mit.
Mir ist noch nach Gesellschaft, so gehe ich mit Freundin B. noch die abendliche Spazierrunde mit.
Zum Abendbrot gibt es Kartoffel-Pastinaken-Suppe aus dem letzten Jahr, die ich vorgestern aus H.s Tiefkühler mitgenommen hatte.
Ich bin erstaunlich gut gelaunt, geradezu euphorisch: Alles hat geklappt, es war eine schöne und stimmige Feier, ich war hinterher nicht allein.
Alles so gut, wie es eben sein kann.
* * * * *
Woran ich mich erinnern will:
Warme Gefühle. Liebe Menschen.
What I did today that could matter a year from now:
Die Liebe meiens Lebens beerdigen.
Was wichtig war:
Mich aufrecht halten.
Mich ablenken.
Distanz.
Machen.
Ativ sein.
Begegnungsnotizen:
Bäcker.
Etwa 40 Trauergäste und ein Friedhofsmitarbeiter, Floristin, Bestatter, Filmteam.
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