Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Der vierundfünfzigste Tag im Danach: Andere Baustellen

Viel zu bedenken, nicht zur Ruhe kommen können, Sehnsucht nach einem Safe Space.

21. März 2021. Sonntag. Zum zweiten Mal zum Einschlafen TV und Licht aus. Von 23:30 bis 3:00 Uhr gut geschlafen, dann ein seltsamer Beisetzungs-Angsttraum. Konnte mich beruhigen (Beisetzung ist vorbei, alles war gut) und das Gefühl analysieren (Angst vor den nächsten Tagen, die neue Herausforderungen bringen) und wieder einschlafen (Stimme des Bestatters in menem Kopf: „Das ist ganz normal, Du wirst immer wieder komische Gefühle haben und schwere Zeiten, nimm Dir Zeit…“). Es ist gut, Werkzeuge und Hilfe zu haben.
Aufgestanden um 7:00.

Es liegt eine stressige Woche vor mir: Heute zu P., um mich/ uns auf den morgigen Begutachtungstermin durch den Medizinischen Dienst vorzubereiten.
Morgen dann nochmal zu ihm, den Termin durchziehen.
Daneben: Nochmal zum Friedhof, Reisevorbereitungen, Arbeit, Wohnung klar machen, Unterlagen für H.s Schwester zusammensuchen, packen.
Dann: Dienstag mit dem Zug nach K. fahren. Unsere gewohnte Strecke. Das kann hart werden, aber auch Klarheit bringen.
Zwei Tage allein im Haus sein.
Dann zweieinhalb Tage mit H.s Schwester und Schwager. Anstrengend. Menschen rund um die Uhr…
Dann nochmal einen Tag allein, dann schon wieder zurück. Stress. Anstrengend.

Was mich ja wundert: Dass ich in all diesen Wochen bei diesem Megastress nur einmal eine leichte Migräne hatte, und die war wohl zum Großteil wetterbedingt. Auch die Stress-Entzündungen an den Zähnen hielten sich im Rahmen (und sind bereits wieder ganz weg).

* * * * *

Trotz aller scheinbar guten Laune – an diesen Dingen merke ich, dass nichts okay ist:

Ich kann nach wie vor keine Lebensmittel einkaufen, ohne einen Knoten im Magen.

Ich habe keine Ruhe (und keine Inspiration) zum Kochen.

Überhaupt bin ich fahrig und nervös.

Ich schlafe schlecht ein und wache nachts mit blöden Gedanken und/ oder Ängsten auf.

Wenn ich daran denke, jetzt nochmal die Orte aufzusuchen, die wir bei unserem letzten Aufenthalt im Häuschen bei unseren Spaziergängen besucht hatten, bekomme ich große Angst, und mir kommen die Tränen.

Ich kan mich schlecht konzentrieren.

Ich bin unausgeglichen, motorisch hyperaktiv und das Skin-Picking ist sehr ausgeprägt.

Ich kann keine Musik hören, die ich „vorher“ schon gehört habe.

Ich kann viele seiner Sachen nicht weggeben.

Ich bin chronisch müde und unausgeschlafen, alles strengt mehr an als „sonst“.

Ich esse immer noch weniger als früher.

* * * * *

Mittags zu P. gefahren, alles besprochen. Haare geschnitten. Mittagessen, Kaffee und Kuchen. Nett.

Auf dem Heimweg eine Nachricht von den Nachbarn gesehen mit Fotos aus unserem Garten.

Direkt zum Friedhof gefahren und Wasser in die Vase mit dem schönen Tulpenstrauß gefüllt. Die zarteren Blumen im Kranz und Gesteck geben schon auf, sie haben wohl Regen, Wind und kalte Nächte nicht so genossen.

Ich sitze einen Moment am Grab, komme zu Atem und fange fürchterlich an zu wenen. Es ist einfach nur der Gedanke, dass er jetzt dort liegt und nie mehr zu mir zurückkommt. Diesen Gedanken halte ich ansonsten von mir fern, aber hier wird er greifbar.
Von wegen, keine Trauergefühle.

* * * * *

Auf dem Heiwmeg gehe ich in seiner Wohnung vorbei, gieße die Pflanzen und nehme wieder zwei Taschen mit Aktenordnern mit. Jetzt habe ich bald alle Unterlagen bei mir. Ist schon einiges zusammengekommen mit 25 Jahren einer Firma, drei weiteren Firmen, privaten und Band-Unterlagen usw. Allein die gesamte Buchhaltung…

Zu Hause schlapp, müde.

Der Schwager fragt schon wieder nach allem möglichen, was erledigt werden muss (oder worden sein sollte). Er hat wenig Verständnis, warum das alles so lange dauert. Da ich es selber nicht verstehe (außer dass anscheinend die Tage nur noch acht statt „normal“ 24 Stunden haben), kann ich mich gerade nicht zur Wehr setzen. Es ist halt so. Das werde ich ihm auch sagen: Ist jetzt halt so. Ich tue, was geht, mehr kann ich nicht.

* * * * *

M. geht es besser, das ist schön für sie, bedeutet aber gleichzeitig wieder abnehmendes Verständnis, warum es mir nicht auch besser geht: „Wie geht es Dir?“ – „Ich bin müde und erschöpft.“ – „Na, das hast Du doch selbst entschieden. Hättest heute ja nicht so viel machen müssen.“
Ja, genau.

Nichts Richtiges im Fernsehen und überhaupt: Keine Ruhe, etwas konzentriert zu gucken.

Woran ich mich erinnern will:
P. die Haare geschnitten. Wir hatten nie viel Körperkontakt, das fühlt sich seltsam an. Hemmungen.

What I did today that could matter a year from now:
Dieses Gespräch vorbereitet.

Was wichtig war:
Rausgehen.
Kontakt zu den Nachbarn.
Zum Grab gehen.
Weinen.

Begegnungsnotizen:
P. (drinnen, ohne Maske, aber mit Lüften)
Menschen in Bussen und U-Bahnen.

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