Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Der neunundsiebzigste Tag im Danach: Fremd putzen und der Trauer keinen Raum geben

Erstaunt, was ich alles schaffen kann. Angst, wie es mir geht, wenn ich weniger mache.

15. April 2021. Donnerstag. Wecker um fünf. Mittlerweile sind die wochenlang maximal möglichen sechs Stunden Schlaf nicht mehr ausreichend. Ein gutes Zeichen.
Es bleibt das altbekannte Gefühl der totalen Übermüdung.

Um halb sieben zu M. in die Wohnung gefahren. Ab halb acht hatten sich Rauchmelder-Monteure angemeldet, vorher wollte ich noch etwas Ordnung schaffen, dass die überhaupt Platz finden, ihre Leiter aufzustellen.
Wie man in einem solchen Chaos (und Dreck) leben kann, ist mir unbegreiflich.
Ich sammle das schmutzige Geschirr in der ganzen Wohnung ein und spüle alles weg, putze die Arbeitsfläche in der Küche und den Herd, schmeiße verdorbene Lebensmittel weg und schleppe drei schwere Tüten Müll runter. Den Kühlschrank putze ich jetzt nicht, obwohl er es nötig hätte, genauso wie der Boden, die Fronten der Schränke und überhaupt alles in der Wohnung. Aber meine Belastbarkeit und Leidensfähigkeit sind begrenzt.

Der Laptop tut sich schwer mit dem Synchronisieren – ich bin doch erst gute zwei Wochen aus K. zurück, wie kann das so viel sein?

Die Monteure kommen gegen zehn, bis dahin habe ich gerade mal eine Mail beantwortet und ein bisschen Kram recherchiert. Nicht sehr effektiv.

Der Monteur legt den Finger auf die Wunde: „Die Rauchmelder müssen eigentlich frei von Staub und Spinnenweben gehalten werden, aber wenn ich mich hier so umsehe…“ – „…wird das wohl nicht stattfinden“ ergänze ich. Ich hatte von Anfang an klar gemacht, dass das nicht meine Wohnung ist.

Ich schreibe unter H.s Account eine weitere Bewertung für den Bestatter – er braucht dringend ein wenig Marketing. Und schließlich war H. ja auch beteiligt…
Eine Stunde später kommt das Dankeschön: Ein Küsschen-Smiley. Wieder wird mir die Absurdität der ganzen Situation bewusst und reizt mich zum Lachen.

Gegen elf komme ich endlich los und steige beim Friedhof aus, schaue kurz nach dem Baum vor der Kapelle, aber er blüht noch nicht. Lange kann es aber nicht mehr dauern. Der Bestatter, der Filmemacher, Freund B. und ich schicken uns ja nun schon seit zwei Wochen abwechselnd Fotos hin und her und spekulieren, wann es soweit ist – wir könnten einen Fanclub gründen.
Mir gefällt das gut, ich fühle mich in diesem Kreis netter Männer unterschiedlichsten Alters sehr geborgen.

Kurz nach zwölf zu Hause, umziehen, ein Brot essen, M. anrufen und berichten.
Mir reißt ein wenig der Geduldsfaden, weil sie schon wieder über die vorgeschlagenen Behandlungsmaßnahmen diskutiert und nichts machen will.

Sie hat gar keinen konkreten Grund, einfach nur grundsätzlichen Widerspruch gegen Dinge, von denen andere wollen, dass sie sie tut. Dass es bei diesen Maßnahmen um ihr Wohl und ihre Gesundheit geht, „glaubt“ sie nicht. Um was sonst, kann sie aber auch nicht sagen. Außerdem hat sie auf bestimmte Dinge „keine Lust“. Ich wünschte, sie würden mal drei Tage die Schmerzmittel weglassen, vielleicht würde sie dann wieder „Lust“ auf ihren Heilungsprozess bekommen…

Von eins bis sechs im Prinzip durchgearbeitet, damit eine Website morgen online gehen kann. Was für eine Tortur!
Ich merke aber, dass es mir gut geht, solange ich zu tun habe, beschäftigt bin, Druck habe.
Sobald das nachlässt, kommt die Trauer hoch.

Geschirr spülen und aufräumen, nebenbei Nachrichten vom Filmemacher, Freund B. und der Lieblingskundin lesen bzw. anhören und beantworten.

Um sieben das abendliche Telefonat mit M.: sie ruft an, hat aber nichts zu sagen, ist etwas down. Vermutlich auch, weil ich ihr mittags den Kopf gewaschen habe.
Sie ist etwas maulig, weil sie nächste Woche in ein anderes Krankenhaus verlegt wird und dort auf die geriatrische Station soll. Sie sieht sich schon ins Pflegeheim eingewiesen, und ich habe große Mühe, ihr den Unterschied klar zu machen.
Wo sie denn hinwolle? Na, in eine normale Reha! Sie, die nie, nie, nie in eine Reha wollte – und das mit keinem einzigen trainierten Muskel (nach monatelanger Untätigkeit) in einem 76 Jahre alten Körper. Erst gestern bockte sie noch rum, sie habe keine Sportklamotten und werde sich auch keine kaufen! Wenn nun aber entschieden wird, dass Sport für sie ohnehin nicht in Frage kommt, ist es auch nicht recht.
Ich sage nichts dazu, was sollte das auch bringen?

Zum Abendbrot eine Merguez, dazu Kartoffelpüree und Salat. Frischzeug! Es tut sehr gut.

Von H.s Wohnung habe ich mir nach der gestrigen Schleppaktion heute frei genommen. Ich habe zwar keine großen Beschwerden, aber beim Treppensteigen sind die Beine schon arg schwer. Außerdem könnte es sein, dass das linke Knie ein wenig ziept, und da will ich jetzt nichts riskieren.

Aufräumen, planen, Orga-Kram.
Morgen wird nochmal ein arbeitsreicher Tag, aber dann ist Wochenende!
Samstag ist mit Freund B. nochmal eine Schleppaktion geplant, und ich möchte mit ein paar Projekten mal weiterkommen.

* * * * *

Woran ich mich erinnern will:
Kaum Schmerzen oder Muskelkater von gestern. Fühle mich fit und stark.

What I did today that could matter a year from now:
Ein paar Wahrheiten aussprechen.

Was wichtig war:
Bei M. ein wenig Ordnung schaffen.
Das Gewissen beruhigen.
Dem Frust Luft machen.
Die Hände ausstrecken.
Ein virtuelles Küsschen bekommen.
Etwas Schönes in einen arbeitsreichen Tag aufnehmen, das ursprünglich nicht geplant war.
Leben spüren.
Und Freundschaft.

Begegnungsnotizen:
Menschen in der U-Bahn.
Zwei Monteure in M.s Wohnung, eine Putzi in M.s Treppenhaus.

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