Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Der einundachzigste Tag im Danach: Auf und Ab der Gefühle

Ein heiß ersehnter Anruf bringt emotional einiges durcheinander; die geschafft Arbeit fühlt sich nicht gut an, sondern als Verlust. Wirrwarr.

17. April 2021. Samstag. Wach und aufgestanden um sechs. Gut geschlafen. Ich schlafe jetzt etwa wieder wie „vorher“: Ich wache mehrmals pro Nacht kurz auf, drehe mich um, beginne, einen Beruhigungsgedanken zu denken und schlafe darüber wieder ein. Dies gerne zehnmal pro Nacht, aber morgens fühle ich mich ausgeruht. Drei Monate hat das jetzt gedauert.

Ich bin um zehn mit Freund B. verabredet, um Sachen aus H.s Wohnung in meine zu transportieren. Ich bin eine halbe Stunde vorher fertig und will mich gerade anziehen, da ruft B. an: Er sei schon da. Gut, das passt ja, fangen wir eben früher an.

Es sieht nicht so viel aus, aber wir laufen jeder sicher zehnmal die Treppen runter und rauf, vielleicht öfter. B. trägt die Sachen lieber in einem Rutsch bis ganz nach unten, ich trage in Etappen. Er auch ziemlich bald. Umzugserfahrung macht sich bezahlt.

Ich bin in dieser Hinsicht ähnlich stur wie H., der hat sich auch nicht von Schmähungen oder abfälligen Bemerkungen von seiner Linie abbringen lassen – und hat in der Regel die anderen damit meistens überzeugt, war am Ende einer, der am längsten blieb und noch Energie für anderes hatte und brach am nächsten Tag auch nicht mit Muskelkater oder Rückenschmerzen zusammen.

Wir schaffen tatsächlich alles weg, sogar die Plattensammlung, die ich eigentlich außen vor lassen wollte. Schleppen alles aus dem vierten Stock nach unten in den Hof, dann aus dem Haus heraus auf die Straße zum ein Haus weiter geparkten Auto. Das ist dann rappelvoll (es ist ein Kombi…). B. parkt dann wiederum ein Haus neben meinem, wir laden alles aus, schleppen es in meinen Hausflur und dann nach und nach (!) die drei Etagen hoch.

Wir ackern als bekämen wir es bezahlt, die Pausen beschränken sich auf wirklich kurze Verschnaufpausen, und am Ende haben wir knappe zweieinhalb Stunden gebraucht. Nicht schlecht! Das wären für mich alleine sicher nochmal 15 bis 20 Touren zu Fuß geworden, und manche Sachen sind so schwer, die hätte ich nochmal aufteilen müssen, weil ich sie bei mir gar nicht die Treppe hoch bekommen hätte.

Kurz nach zwölf sitzen wir erschöpft, aber zufrieden mit uns und unserer Leistung an meinem Tisch. Kurz Verschnaufpause, dann mache ich Essen, während B. mit einem Freund telefoniert.

Als ich gerade das Essen auftun will, ruft TSO an. Anlass ist ein Schreiben, für das er eine Information braucht, vorher bedankt er sich fast überschwänglich für einen Gefallen, den ich ihm getan habe (besser gesagt zwei Gefallen), das ist mir fast peinlich, obwohl ich dastehe und grinse wie ein Honigkuchenpferd.
Er erzählt vom Tod einer Frau und bietet mir an, mich mal auf den Friedhof zu begleiten, wenn ich gerne etwas Gesellschaft hätte: „Du kannst mich anrufen, dann treffen wir uns, oder Du holst mich mal ab…“ Ich bin natürlich hoch erfreut, suche ja ohnehin nach einem Grund, ein Treffen vorzuschlagen und bekräftige das daher mit „Das wäre schön, ich habe sowieso ein, zwei Kleinigkeiten, die ich gerne mit Dir besprechen würde…“. Darauf reagiert er plötzlich mit fast heftiger Abwehr: Nächste Woche könne er gar keine Termine machen, er müsse jetzt erstmal schauen, was da aktuell anstehe mit Ämtern usw.
Ich bin ein wenig irritiert, ich hatte ja nicht ausdrücken wollen, dass ich sofort ein Treffen brauche, so hat er es aber offensichtlich verstanden. Ich versuche, es klarzustellen: „Kein Problem, muss ja nicht diese Woche sein, irgendwann demnächst halt. Es muss ja auch kein Riesentreffen sein, vielleicht können wir uns einfach mal kurz in der Sonne unter den Baum setzen, wenn er blüht. Wenn das für Dich okay ist.“ Er rudert zurück, verspricht mir ein Treffen „noch während der Baum blüht“.

Das Gespräch hinterlässt mich seltsam traurig. Da waren viele Zwischentöne, wo ich das Gefühl hatte, er trägt eine Maske, er ist nicht authentisch, nicht ehrlich. Andererseits war das aber auch keine professionelle Freundlichkeits-Fassade. Aber was weiß ich von ihm? Was weiß ich von seinen Dämonen und Ängsten und von seinem Stress, der ihn vielleicht momentan belastet und den er im Gespräch mit anderen, nicht nahen Menschen wegdrücken und verstecken muss?
Aber ich beziehe sofort wieder alles auf mich, suche nach Zeichen dafür und dagegen – und finde sie natürlich bzw. interpretiere sie mir passend (oder unpassend) zurecht.

Und diesmal interpretiere ich mir zusammen, er rede viel, was er im Grunde nicht ernst meine, ich könne auf die positiven Signale nichts geben, weil letztendlich alles nur Blabla wäre.
Freund B. bestärkt mich in dieser Idee, meint das sei typisch für einen bestimmten Schlag Menschen: „Das bedeutet ‚Du gehst mir am Arsch vorbei‘.“ Diese Vehemenz überrascht mich dann wieder, denn so extrem nehme ich es dann doch nicht wahr, und ich frage mich, was Freund B. für eine Agenda oder Eigeninteressen oder ungelöste Dinge im eigenen Gepäck hat.

Es macht mich fertig, diese Dinge nicht mit H. besprechen zu können. Der hat zwar in Bezug auf die Gefühlslage anderer Menschen auch nicht immer gerade die wachesten Sensoren gehabt, aber er konnte mir immer ein paar Dinge begreiflich machen, indem er mir eine andere Sicht auf die Dinge ermöglichte, und sei es nur die Männersicht. Und da ich es gerade mit Männern zu tun habe, könnte das allein vielleicht schon hilfreich sein.

Auf jeden Fall bin ich nach dem Gespräch niedergedrückt, traurig, fühle mich erneut verlassen, im Stich gelassen, allein. Es addiert sich zu der Trauer, die sowieso gerade in mir wächst.

Nach dem gemeinsamen Mittagessen und einem Kaffee fahren wir am Friedhof vorbei, schauen nach dem Baum und H.s Grab und drehen noch eine Runde. Mich beruhigt der Spaziergang über den Friedhof wieder ungemein, viele Wege sind mir nun schon ganz vertraut, aber B. äußert irgendwann gegen Ende, ihn ziehe das gerade runter. Das tut mir dann wiederum leid, ich vergesse immer, dass er schweres eigenes Gepäck schleppt.

Wir verabschieden uns vor dem Friedhof, heute will ich mich nicht nach Hause bringen lassen, die Tränen stehen hoch, ich will allein sein, will laufen. Ich denke kurz darüber nach, nochmal zurück zum Grab zu gehen, um dort zu weinen, aber aus irgendeinem Grund zieht es mich nicht dorthin, vielleicht weil meine Traurigkeit auch mit TSO zu tun hat und die will ich nicht zu H. tragen. Es ist kompliziert.

Unterwegs schreibe ich Nachrichten: An Freundin B., ob wir später spazieren gehen wollen, und an TSO, ob er mir das besagte Dokument schicken könne, dessentwegen er eigentlich angerufen hatte. Verabrede mich mit Freundin B. für einen Spaziergang eine gute Stunde später. Perfekt!

Zu Hause schreibe ich mir alles aus dem Kopf. Bereits als ich in meine Straße eingebogen war, hörte die Traurigkeit schlagartig auf, die Tränen versiegten, der Kopf wurde klarer, die Gedanken distanzierter. Nur wegen der Verabredung zum Spazierengehen, wegen der Aussicht auf einen Kontakt mit einem nahen Menschen? Beeindruckend.

Ich schreibe und denke, bin ein wenig wütend und immer noch sehr frustriert, beschließe aber, dass ich nicht lockerlassen werde, dass es immer noch die Chance auf irgendwas gibt, selbst wenn es nicht das ersehnte ist.

Mit B. drehe ich eine große Runde durch den Park, der Bärlauch blüht, und es riecht wunderbar. Wir entdecken am Wegesrand einen Baum mit der Nummer von B.s Geburtsjahr und kriechen giggelnd mehrere Minuten durchs Unterholz, um einen mit meinem zu finden. Herrlich.

Ich erzähle ihr von dem verwirrenden Gespräch mit TSO. Sie ist zuerst überrascht, dass er mir von sich aus ein Treffen angeboten hat und wertet das nicht als leeres Geschwätz, schon gar nicht als sie hört, wie konkret er es gemacht hat („noch während der Baum blüht“). Sie habe ihn nicht als jemanden wahrgenommen, der so etwas einfach so dahinsagt, ohne es zu meinen.
Für das verwirrende Hin und Her bietet sie eine andere Erklärung, die mich letztlich überzeugt: Was, wenn er einfach momentan wirklich gestresst ist, meine Bitte um ein Treffen als zu dringlich missverstanden und angesichts eigener momentaner Überlastung übermäßig abwehrend reagiert hat, damit aber einfach nur sagen wollte: Treffen gerne, aber nicht gerade jetzt, wo ich schon so viel um die Ohren habe..? Das kennt man doch, dass man denkt: Nicht das jetzt auch noch! Was ja aber nicht grundsätzlich heißt, dass er das nur so sage und nicht daran interessiert sei, sondern eher: Lieber, wenn es etwas besser passt. Dass er das so unbeholfen rausbratzte und nicht etwa „professionell“ um etwas mehr Zeit bat, spräche vielleicht auch eher für eine gewisse Vertrautheit (oder zumindest Vertrauen), für eine eher persönliche als professionelle Beziehung.
Ich möchte das alles gerne glauben und beruhige mich erstmal wieder.

Nach dem Spaziergang Anruf bei M., es gibt aber nichts Neues, außer dass sie mit den Leuten im Krankenhaus zickt und sich anscheinend schon wieder sehr großartig fühlt. Nun, wenn sie das braucht, um die Angst vor der Veränderung (Verlegung nächste Woche) wegzudrücken, bitte schön.

Ich schreibe noch etwas, dann als spätes Abendbrot den Rest vom Mittagessen: Lachs mit Tomaten in Sahnesoße, dazu Reis, zum Nachtisch den Rest Rhabarberkompott. Für zwei Leute kochen funktioniert noch.
Nichts im Fernsehen, darum eine weitere Folge „Bron“ in der ARTE-App. Nachdenken, Kopf zurechtrücken, Zuversicht fassen.

* * * * *

Woran ich mich erinnern will:
Auf und Ab der Gefühle

What I did today that could matter a year from now:
?

Was wichtig war:
Ackern.
Mich verausgaben.
Gefühle zulassen.
Nachdenken.
Sprechen.
Offen sein.
Kontakt suchen.

Begegnungsnotizen:
Freund B.
Mitarbeiter im Kiosk.
Freundin B.
Leute im Hausflur.

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