Wie ist es und wie soll es werden? Äußeres und inneres Ordnen.
18. April 2021. Sonntag. Wach und aufgestanden um halb sieben. Wieder eine Nacht mit häufigem Aufwachen, Umdrehen, Wiedereinschlafen. Ich erwache dennoch ausgeruht und mit überraschend wenig Beschwerden: Eine gewisse Müdigkeit in Beinen und Rücken, das ist erstmal alles. Erstaunlich, die paar Wochen haben wirklich eine Art Trainingseffekt gehabt. Wie kann ich das beibehalten? Jeden Tag zweimal eine Viertelstunde schwere Kartons die Treppen runter und hoch schleppen?
* * * * *
Die Trauer steigt in mir wie die Flut. Es gibt wieder mehr Dinge, die Traurigkeit auslösen: Gedanken an eine Reise an die Ostsee, an einen Spaziergang im Weinberg, an Gespräche, gemeinsame Unternehmungen.
Verlustgefühle bezüglich der Wohnung.
Angst vor der Zukunft.
Angst vor dem Verlustgefühl.
Angst vor der Traurigkeit.
Eine üble Melange, die alle Energie auffrisst, die sie bekommen kann.
Die große Sehnsucht nach dem einen Menschen, mit dem ich all dies besprechen kann.
Dabei gibt es Menschen: Freund B., Freundin B, das sind die zwei nächsten. Die Lieblingskundin. Den Kunden mit dem ähnlichen Schicksal. Sicher gibt es mehr.
Ist das nicht besser als nur ein Mensch? Eine Herde, ein Team?
Aber wir sind kein Team, keine Herde, die Menschen sind nicht miteinander verbunden, nur über mich.
Wie eine Spinne hocke ich da auf dem windgepeitschten Zweig und schleudere klebrige Seidenfäden in alle Richtungen in der Hoffnung, sie mögen irgendwo hängen bleiben, damit ich mein Netz bauen kann. Kein Netz zum Fangen von Fliegen, sondern ein Sicherheitsnetz, einen Schutz, ein Zuhause.
Das Alleinsein tut mir nicht gut, der Kopf läuft dann Amok.
Andererseits: Kann ich nicht nur im Alleinsein einmal alle Gefühle und Gedanken herauslassen, sie von allen Seiten betrachten, sie kosten, durchkauen und schließlich herunterschlucken und verdauen und daraus Energie und Nahrung beziehen?
Aber so funktioniert es nicht, nicht wahr? Ich werde dann nur komisch, verrenne mich in Blödsinn, verschwende Zeit.
Besser: Rausgehen, Menschen treffen, Kontakte knüpfen, am Netz bauen.
Die bestehenden Kontakte nach Möglichkeit festigen, vertiefen – mit den Freundinnen B. und E., mit Freund B. und den Bandkollegen KL und MW, mit KU; mit einigen – noch? – losen Bekannten.
Schauen, was sich entwickelt, wo Freundschaften wachsen und wo eine gewisse Distanz vielleicht doch besser ist.
Klingt in der Theorie schön, nur ist das keine Vollzeit-Aufgabe. Mit Freundin B. kann ich zwei- bis dreimal die Woche spazieren gehen, aber sie wird im Sommer auch wieder mehr Aktivitäten mit anderen betreiben, da wird dann weniger Zeit bleiben.
Freund B. kann ich alle paar Tage anrufen, aber die Gespräche sind zäh, und wir haben im Grunde wenige gemeinsame Interessen.
Bei KL, MW und KU wäre eine Kontaktaufnahme pro Woche möglich, würde aber eventuell schon als zuviel empfunden werden. Besser wäre alle 10-14 Tage.
Und was mache ich den Rest der Zeit? Wie bringe ich die 24 Stunden Trauer pro Tag rum?
Arbeit nimmt viel Zeit und Raum ein, das ist gut, aber auch doof, denn da sitze ich alleine zu Hause am Rechner, und danach fehlt mir die Energie für anderes. Fürs Rausgehen und Kontakteknüpfen zum Beispiel.
Weniger Arbeiten hieße momentan aber weniger Geld, und mit noch weniger als jetzt komme ich dann wirklich nicht über die Runden.
Es ist vertrackt.
Aber auch bezeichnend, dass ich jetzt wieder versuche, mit einem großen Wurf, quasi dem „Masterplan“, alle Probleme auf einmal zu lösen und mein Leben kurzerhand komplett umzukrempeln.
Seufz.
Dabei weiß ich doch: Es geht nur schrittweise. Klein, klein. Langsam, aber stetig.
Also lautet der Plan vorläufig:
Eine Bestandsaufnahme machen. Wo stehe ich – emotional, sozial, gesundheitlich, finanziell?
Wo sind Knackpunkte, wo geht es mir nicht gut, wo besteht Verbesserungsbedarf?
Was sind kleine Dinge, die ich zeitnah angehen und verbessern kann?
Was sind Punkte, die mir aktuell besonders wichtig erscheinen, die besonders drücken, wo eine Veränderung einen besonders großen Einfluss hätte?
Darauf konzentrieren.
Einen Zeitrahmen und – realisierbare – Maßnahmen definieren.
Dann schauen, evaluieren, auswerten: Was geht, was geht nicht? Wo verändert sich etwas?
Und: Offen sein. Was bietet mir das Leben an? Ja sagen. Ausprobieren. Mich einlassen.
„Es wird etwas Neues kommen.“ – „Und was?“ – „Das weiß man nicht, das sind die Überraschungen des Lebens…!“
Darauf vertrauen.
* * * * *
Ich bin mittags mit Freund B. verabredet, um die Kartons vom Hängeboden in H.s Flur zu holen. Denke darüber nach, die ganzen Umzugskartons mitzunehmen, die H. fein säuberlich mit Klebeband zu Behelfsregalen gebaut hat: Sie sind neuwertig, und ich kann sie gut gebrauchen, um bei mir Sachen sinnvoller zu stapeln.
Vorher setze ich Suppe an (Beinscheibe mit Gemüse auskochen), sauge und räume etwas um und auf.
B. ist heute pünktlich, wir schaffen viel weg, räumen den Hängeboden leer, sehen die Kartons durch, zerlegen sie und schaffen acht große Umzugskartons und etwas Kleinzeug zu mir. Sitzen noch etwas beieinander, dann verabschiedet er sich.
* * * * *
Ein Gedankenexperiment: Wo möchte ich in 100 Tagen sein? Wie soll mein Leben aussehen?
Heute ist der 18. April 2021. Ein Sonntag.
In 100 Tagen ist Dienstag, der 27. Juli 2021.
Dann ist P.s Geburtstag eine Woche vorbei und M. wird ihren planen.
Wenn sie die Förderung erhalten hat, werde ich – vermutlich unter Hochdruck – an der Website für AS.s Projekt arbeiten.
Die Lieblingskundin wird aus den Ferien zurück sein und mich wohl gleichfalls beschäftigen.
Sicher ist es heiß. Und schwül.
Vielleicht sind wir in der x-ten Corona-Welle, vielleicht gibt es auch ein fast normales Sommerleben mit Außengastronomie, Treffen, Garten.
Ich werde täglich zum Friedhof müssen, um zu gießen. Vielleicht früh morgens, wenn es nicht so heiß ist, vielleicht sogar zweimal.
Wo will ich sein?
Wie will ich mich fühlen?
Wie soll mein Leben aussehen?
Ich wünsche mir Menschen in meinem Leben, mit denen ich meine Zeit verbringe.
Das müssen nicht jeden Tag dieselben Menschen sein, es wäre ok, wenn ich zum Beispiel feste Tage für bestimmte Aktivitäten habe:
Einen Tag spazieren mit Freundin B., einen Tag irgendwo ein paar Stunden arbeiten, einen Tag wechselnde Menschen treffen.
Gerne auch einen oder zwei Tage alleine zu Hause mit Zeit für Hausarbeit und Hobbies. Einen Tag für Besuche bei M. oder P. oder anderen Menschen.
Ich wünsche mir, dass Menschen Dinge mit mir unternehmen wollen, mich zum Beispiel einladen, sie irgendwohin zu begleiten.
Ich wünsche mir einen Ort, an dem ich mich einbringen kann, ein Team, in dem ich arbeiten kann. Gerne mit TSO.
Oder mit jemandem, den ich vielleicht erst noch kennenlerne.
Ich möchte meine Arbeit bequem schaffen und so viel Geld verdienen, wie ich brauche.
Ich möchte einen inneren Dialog mit H. haben/ führen können.
Ich möchte an einem Punkt sein, wo ich seinen Tod akzeptiere und darüber traurig sein kann.
Ich möchte die Gefühle nicht mehr wegdrücken müssen.
Ich möchte, dass der ganze Verwaltungskram, der mit seinem Tod zusammenhängt, erledigt ist.
Ich hätte gerne einen Weg gefunden, die innere Anspannung anders loszuwerden als mit skin picking bzw. sie ganz aufzulösen.
Es wäre toll, wenn meine Wohnung wieder wohnlich aussieht und nicht wie ein Lager.
* * * * *
Herumräumen und einen Karton von H.s Erinnerungen durchsehen: Postkarten, Briefe, Fotos. ich lese nichts, sortiere nur. Stelle mir große Papiertüten bereit: „Fotos“, „Briefe/ Postkarten“, „Andenken & Sonstiges“, „Büromaterial“. Erstmal den Müll loswerden und den Rest sortieren. Später dann Feinsortierung.
Spaziergang mit Freundin B., es fängt an zu regnen, ist aber mild. Wie gestern stehen wir anschließend noch eine Weile vor ihrer Tür und reden; gestern über Freund B., heute über den gemeinsamen Bekannten LBH., der mir neuerdings regelmäßig SMS schickt.
Telefonat mit M. ist wie immer sprunghaft und anstrengend: Sie hört einfach nicht zu, unterbricht mich mitten im Satz, um etwas Belangloses von sich zu erzählen. Ich schreibe es den Medikamenten und der besonderen Situation (Krankenhaus) zu. Sollte dieses Verhalten später anhalten, werden wir reden müssen, das geht so nicht (denn ich vermute, sie macht das dann auch bei anderen). Vor der Verlegung morgen scheint sie ungewohnt ruhig zu sein.
Nach dem Abendbrot (morgens gekochter Kohlrabieintopf mit Rindfleisch) räume ich noch eine gute Stunde im Wohnzimmer herum, um Sachen sinnvoller zu stapeln. Packe eine große Reisetasche und zwei kleine Kartons aus, sortiere den Inhalt und räume ihn weg.
Irgendwann werden die Gedanken komisch, und alles macht mich traurig, mein künftiges Leben erscheint mir sinnlos – und das mir, die sich nie groß um einen „Sinn“ des Lebens gekümmert, sondern die Existenz an sich als Sinn gelten lassen hat. Aber mein Lebenssinn war dann wohl doch, für einen anderen da zu sein und mit ihm gemeinsam diese Existenz zu bewältigen. Jetzt, da der erhoffte teilweise „Ersatz“ sich wohl als Illusion entpuppt (was natürlich im Grunde von Anfang an klar war), scheint wieder alles grau.
„Es braucht Zeit“ höre ich den Bestatter sagen. Und ich bin ja bereit, dem Ganzen Zeit zu geben, wenn ich sicher sein könnte, dass am Ende alles „gut“ wird und mich jetzt nicht nur bis ans Ende meines Lebens verschiedene Schattierungen von Grau erwarten. Denn auch solches prophezeien mir langjährige Witwen: Du wirst lernen, damit umzugehen, aber es wird nie wieder gut.
Selbst die in den letzten vier Wochen so tröstlichen und beruhigenden Gedanken an TSO haben einen schalen Beigeschmack bekommen („Ist doch alles sinnlos“) und verfehlen ihre Wirkung.
Nichts im Fernsehen, daher in der ARTE-App eine weitere Folge von „Bron“.
* * * * *
Woran ich mich erinnern will:
Mich zeitweise normal fühlen.
What I did today that could matter a year from now:
Pläne schmieden
Was wichtig war:
Freundin B. treffen.
Nachdenken.
Begegnungsnotizen:
Freund B.
Freundin B.
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