Innere und äußere Reinigung. Freunde in der Not.
26. April 2021. Montag. Dreimal dreißig Tage ist H. nun tot. Hute vor drei Monaten ist er gestorben. Eigentlich ist er schon zwei Wochen vorher gestorben, aber da bestand noch eine winzige Hoffnung, ich würde ihn zurückbekommen. Und man klammert sich gern an winzigste Hoffnungen, wenn die Alternative unvorstellbar, unaussprechlich scheint.
Wer mich nicht gut kennt, ist überrascht, wie gut ich mit der Situation umzugehen scheine. Denn ich rede über und tue normale Dinge, ich breche nicht bei jeder Gelegenheit in Tränen aus, ich habe mir keinen demonstrativ leidenden Tonfall oder Habitus angewöhnt, ich lache, ich mache Scherze, ich bin offen für Menschen und Ideen, ich plane und arbeite.
Wer mich besser kennt oder mir näher kommt, weiß, dass ich alles andere als „drüber weg“ bin. Dass ich Depressionen bekomme, wenn der äußere Druck nur ein klein wenig nachlässt. Dass ich unruhig bin und nervös und hibbelig, dass ich Wortfindungs- und Gedächtnisstörungen habe, dass ich mich schlecht konzentrieren kann und sehr schnell ungeduldig werde, dass ich empfindlich und dünnhäutig und ängstlich geworden bin, dass ich mir plötzlich über Dinge Sorgen mache, die früher kein Thema waren. Dass mir die Decke auf den Kopf fällt, wenn ich ein paar Stunden lang mit keinem Menschen gesprochen habe. Dass ich mich einsam, ausgesetzt, verloren und unglaublich schutzlos fühle, Dass da viel Fassade ist, um überleben zu können. Dass ich nach Strohhalmen greife, mit mir und der Welt und dem Leben ringe, dass ich nach einem Platz suche, wo ich zur Ruhe und ankommen kann. Dass ich mich heimatlos und verlassen und allein fühle. Dass mich Kleinigkeiten nicht nur aus der Ruhe bringen, sondern zutiefst verunsichern können.
Bei allem äußeren Funktionieren bin ich weit davon entfernt, diesen Tod bewältigt, ja auch nur ansatzweise realisiert und verstanden zu haben.
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Wenn die Pandemie eins gezeigt hat, dann dass das, was wir für absolut offensichtlich halten, zwischen verschiedenen Menschen nicht unterschiedlicher sein könnte. Insofern ein grandioses Beispiel für das Problem, das beim Übergang zu einer planetaren Zivilisation das schwierigste sein dürfte, und das wir am dringendsten lösen müssen.
André Spiegel, fortlaufend, 24. April; https://flfnd.tumblr.com/post/649433735851360256/2021-04-24
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Ich bekomme den Film, weiß nicht, ob es erst eine Grobfassung oder schon der Endschnitt ist. Scheint mir, sie haben sich schwer getan. Natürlich spule ich schnell durch, um zu schauen, ob es Aufnahmen von TSO gibt. Es gibt eine kurze Sequenz, die ich in nächster Zeit vermutlich sehr oft anschauen werde.
Es ist komisch, mich anzusehen. Auf mich selbst wirke ich selbstgefällig, überheblich, deplatziert. Zu laut. Zu dominant. Zu alles mögliche. Ich weiß nicht, ob ich diese Frau da mögen könnte, wenn ich ihr irgendwo begegnen würde.
Es ist keine Frau, die man in den Arm nehmen und trösten möchte, obwohl ich genau das bräuchte.
Verfickte Scheiße.
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Im Haus reißen sie unter mir eine Wand ein und über mir ein Bad ab, beides mit ausgiebigem Einsatz eines Bohrhammers.
Ich flüchte in H.s Wohnung und entferne unter Einsatz von 200ml reinem Alkohol die Kleberückstände der Fensterfolie von der Scheibe. Zumindest soweit, dass man nicht auf Anhieb ein Blumenmuster sieht, sondern eher undefinierbaren Schmier, wie bei einem schlecht geputzten Fenster. Ich muss mir das morgen nochmal anschauen, am besten zu der Uhrzeit, zu der auch die Übergabe stattfindet.
Anschließend setze ich mich noch eine halbe Stunde auf den Platz und chatte mit Freund B. Der streicht heute seine Küchendecke fertig und freut sich anscheinend über die Ablenkung.
Mir ist kalt und ich werde traurig und gehe heim.
Nach einer weiteren halben Stunde kehrt Ruhe ein: Hoffentlich Mittagsruhe und nicht nur 30 Minuten Pause.
Sehr traurig.
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Duschen. Lange heißes Wasser über mich laufen lassen. Immer heißer. Das tut gut. Nicht soweit gehen, dass es weh tut, nur einfach spüren, wie die Haut wieder warm wird.
„Fühl Dich gedrückt, das wärmt auch“ hatte Freund B. geschrieben, aber das stimmt nur bedingt. Sich gedrückt fühlen wärmt vielleicht das Ego, aber Körper und Seele brauchen etwas Spürbares.
Ich esse Joghurt mit Apfelkompott. „A.. 2006“ steht auf dem Glas. Das erste Kompott, das ich aus den Äpfeln im Garten gemacht habe, da lebte H.s Mutter noch, das muss bei meinem dritten oder vierten Besuch dort gewesen sein.
Es schmeckt nach 14,5 Jahren immer noch einwandfrei.
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Die Traurigkeit steigt wie eine Flutwelle in mir hoch. Ich schreibe TSO, dass ich heute traurig bin. Er schickt Emojis. Kein Wort des Trostes, kein Gesprächsangebot. Das ist es dann, die Tränen fließenl, ja strömen aus mir heraus, es gibt kein Halten mehr. Alles, alles drängt nach draußen: das Gefühl der Verlassenheit, die Angst, das Verlorensein, die Unsicherheit, die Verwirrung.
Ich weine und weine und kann nicht mehr aufhören. ‚Lass es raus‘ ermutige ich mich selber, ‚das hilft‘. Aber es hilft nicht, und es hört auch nicht wieder auf. Als ich beginne zu hyperventilieren und beim Anblick jedes Gegenstandes ein erneuter Weinkrampf einsetzt, ist mir klar: ich brauche Hilfe in dieser Situation.
Zum Glück ist es Nachmittag, ich frage Freundin B., ob sie schon zu Hause ist und etwas Zeit übrig hat.
Sie hat, und wir brechen zehn Minuten später zu einem langen Spaziergang auf. Sitzen auf dem Friedhof unterm Baum. Am Grab. Laufen, reden, schweigen. Ich beruhige mich schnell – allein jemanden bei mir zu wissen, reicht schon.
Ich ahne, dass das in nächster Zeit öfter vorkommen wird und beschließe, dass ich das Freundin B. nicht dauernd zumuten will und kann. Wieder zu Hause frage ich daher beim Bestatter nach Kontaktdaten von Trauerbegleitern, er schickt mir auch umgehend die Nummer einer Frau in der Nähe, ruft sogar abends um halb acht kurz bei ihr an, um sich zu vergewissern, dass sie Kapazitäten hat.
Mein Schätzchen.
Heute kann ich die Frau nicht mehr anrufen, es ist schon abends, ich bin erschossen, aber morgen, morgen gehe ich das an.
Ich schaue noch ein wenig in den Film hinein. Schöne Szenen.
Beim Telefonat mit M. bin ich gedrückt und wortkarg, aber sie fragt nicht nach, und ich mag auch nicht erzählen. Soll sie denken, dass ich einfach müde bin.
Zum Abendbrot mache ich mir Nudeln mit Zwiebeln und Käse. Soulfood.
Ich habe einen Riesenhunger, das ist ja kein Wunder.
Lasse nebenbei „Good Will Hunting“ laufen. Arbeite noch etwas. Lege mich spät hin, weil ich Angst habe, nicht schlafen zu können.
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Woran ich mich erinnern will:
Wie Freundin B. sofort zur Stelle ist, als ich nicht mehr kann und mich lobt, dass ich mir Hilfe (bei ihr) hole.
What I did today that could matter a year from now:
Nach einer Adresse fragen.
Was wichtig war:
Weinen.
Freunde.
Unterstützung.
Nachdenken.
Rausgehen.
Kommunikation.
Begegnungsnotizen:
Freundin B.