Das Gespräch gesucht und Unangenehmes erfahren. „Die Wahrheit ist meistens gnadenlos, aber sie weist uns den Weg.“
27. April 2021. Dienstag. Mehrmals aufgewacht heute Nacht, der Kopf denkt auf TSOs widersprüchlichem Verhalten herum. Aufgestanden um halb sieben.
Es ruhig angehen lassen, die Konzentration ist sowieso mau.
Entdecke eine Nachricht von TSO von gestern Abend, die ich dann wohl übersehen hatte (sie wird auch vom Gerät gar nicht als neue Nachricht angezeigt). Ein Foto vom Baum. Ohne Text. Es reißt mich gleich wieder: Er denkt an mich, will mir doch irgendwie auch Gutes tun, aber er tut es auf eine Weise, die für mich alles offen und in der Schwebe und unberechenbar hält. Für so etwas habe ich keine Kraft momentan.
Schaffe es, eine halbe Stunde am Stück zu arbeiten. Verbiete mir, mich deswegen zu ärgern oder zu triezen.
Ich schreibe um acht eine SMS an die Trauerbegleiterin, um ein Zeitfenster zum Telefonieren zu vereinbaren. Kurz vor eins kommt die Antwort mit einem Terminvorschlag für ein erstes Telefonat für 16:00 Uhr. Kurz vor zwei ein Anruf: Um 17:00 Uhr sei ein Termin frei geworden – wenn ich wolle, könne ich ihn haben. Ich sage zu.
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Vormittags eine halbe Stunde am Stück gearbeitet (Kleinkram), zu mehr bin ich nicht fähig. Außerdem: Fotos bearbeitet, einen Simon’s Cat-Film angeschaut (und kurz wehmütig daran gedacht, dass ich den gerne abends mit H. zusammen nochmal gesehen hätte), etwas geschrieben. Dann nochmal 40 Minuten gearbeitet. Mehr Fotos bearbeitet. Kurz mit der Lieblingskundin telefoniert. Mir Gedanken über TSO gemacht und geschrieben. Geschirr gespült und Wäsche weggeräumt. Nochmal 25 Minuten gearbeitet.
Der Film-Mensch ruft an, und wir vereinbaren grob einen Termin für nächste Woche für einen Nachdreh. Er bedankt sich und meint, es hätte Spaß gemacht. Ich kann den Dank und das Lob nur zurückgeben. The spirit of Kreuzberg.
Telefonat mit der Trauerbegleiterin und Verabredung für 17:00 Uhr.
Nochmal 25 Minuten arbeiten. Etwas essen, die Tagesplanung aktualisieren, den Filmausschnitt anschauen, nachdenken, schreiben.
Ich spaziere zum Friedhof und sitze dort eine halbe Stunde unter dem Baum. versuche, mich auf den Termin mit der Trauerbegleiterin vorzubereiten. Plötzlich ist der Kopf leer, und ich kann nur an TSO denken. Dafür ist sie aber nicht zuständig, das ist zumindest nichts, was ich offen beim ersten Termin ansprechen will, auch wenn es momentan einen Großteil meines Stresses ausmacht.
Der Arzt-Effekt: Man hat eine Woche Schmerzen, und wenn man dann endlich im Wartezimmer sitzt, sind sie auf wundersame Weise verschwunden.
Eine halbe Stunde vor dem Termin mache ich mich auf und spaziere gemütlich durch den Park dorthin.
Unterschwellig halte ich die ganze Zeit Ausschau nach TSO – das wäre genau mein Glück, ihn jetzt zufällig zu treffen, wo ich eigentlich überhaupt keine Zeit habe.
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Der Termin ist intensiv und anstrengend. Ich habe das Gefühl, dass die Frau mir nicht gewachsen ist, aber das soll mir für den Moment egal sein, wenn sie mir ein paar richtige Impulse gibt, und das tut sie.
Ich heule die ganze Zeit und strahle gleichzeitig eine unglaubliche Stärke, Strukturiertheit und Kontrolle aus. Innerlich fühle ich mich wie ein verlassenes kleines Mädchen, das eigentlich nur auf den Arm und getröstet werden will.
Mein „Problem“ mit TSO spreche ich dann ganz zum Schluss doch an, wenn auch verklausuliert. Sie bringt meine Zwickmühle auf den Punkt: Wenn ich die Sache in der Schwebe lasse, benutze ich ihn als Füllmittel für das Loch, das H. hinterlassen hat – aber eben auch nicht richtig, sondern nur in meiner Fantasie. Das vertagt aber nur meine notwendige Auseinandersetzung mit dem Schmerz, den H.s Verlust hinterlässt. Wenn ich ihn „konfrontiere“, ist das Risiko groß, dass ich mir eine Abfuhr hole. Erneuter Verlust, erneuter Schmerz, aber dann ist der Weg frei, mich dem Schmerz zu stellen (wenn ich mir nicht ein anderes „Füllmittel“ suche). Selbst wenn ich mir wider Erwarten keine Abfuhr holen würde, würde sich meine Auseinandersetzung mit dem Verlustschmerz ebenfalls nur verschieben. Und ob ich ihm in diesem mentalen Zustand gerecht werden könnte, ist doch sehr fraglich, er müsste ein Heiliger sein.
Egal also, ob ich mit ihm rede oder nicht – zumindest für den Moment muss ich mich innerlich von ihm verabschieden und mich um die Auseinandersetzung mit meinen Verlustgefühlen und dem Schmerz kümmern.
Ich musste ein paar unangenehme Wahrheiten realisieren und gehe nochmal auf den Friedhof, um zu heulen. Fühle mich elend, klein, nutzlos, hässlich.
Gehe traurig heim: So wird das jetzt die nächsten Wochen aussehen.
Der Kopf frohlockt: Eine Aufgabe!
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Im Telefonat mit M. erwähne ich den Termin, sie ist ein bisschen betroffen, hatte nicht den Eindruck, dass ich „so große Schwierigkeiten“ hätte. Na ja, hat sie was zum Nachdenken.
Ich wiederum denke zweieinhalb Stunden auf dem „Problem TSO“ herum und fasse den Beschluss, jetzt nicht mit ihm zu reden, sondern eine Entscheidung um zunächst mal einen Monat zu vertagen. Dann will ich schauen, wie sich meine Gefühle (zu mir, zum Leben, zu H., zu ihm) entwickelt haben und neu nachdenken.
Ich hoffe ein bisschen darauf, mich bis dahin „beruhigt“ zu haben und besser zu wissen, was ich brauche, wo ich das bekomme und wo ich hin will.
Etwas ähnliches hatte ich auch nach der Beisetzung gedacht, und nun habe ich das Gefühl, sechs Wochen „verschwendet“ zu haben. Vielleicht war das aber auch einfach wichtig, um die Sache mit der Wohnung durchziehen zu können.
Ich denke nach wie vor, dass dieser „Team“-Gedanke ein wichtiger Punkt ist, dass das etwas ist, was mir langfristig gut tun und auch kurzfristig helfen könnte. Ich denke darüber nach, ob ich den Bestatter frage, ob er nicht Verwendung für mich hat, aber auch da muss ich aufpassen, dass ich ihn und seine Gutmütigkeit nicht missbrauche, um „Löcher zu stopfen“.
Vielleicht auch hier mal einen Monat abwarten? Oder einfach schon mal vorfühlen und die eigentliche Entscheidung vertagen?
Ich brauche irgendeine Hoffnung, ein Ziel. Zu wissen: Die Arbeit lohnt sich, das Leben geht weiter.
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Zum Abendbrot nur ein Käsebrot. Ich denke und schreibe bis halb elf, dann essen, dann vor dem Fernseher einschlafen.
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Woran ich mich erinnern will:
Wenn sich ein „gezogener Zahn“ richtig anfühlt: Ich mache das JETZT NICHT, weil es richtiger so ist.
What I did today that could matter a year from now:
Termin bei der Trauerbegleiterin
Was wichtig war:
Fragen.
Reden.
Nachdenken.
Ein Lob bekommen.
Liebe.
Arbeiten.
Verabredungen treffen.
Entscheidungen treffen.
Begegnungsnotizen:
Die Trauerbegleiterin.
Frau auf der Bank auf dem Friedhof.