Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Der fünfundneunzigste Tag im Danach: Vater-Tochter-Sachen

Langsam runterkommen, nicht von 100 auf Null. Zwischenschritte. Emotionales Chaos.

1. Mai 2021. Samstag. Von vier bis fünf liege ich wach und denke nach über (in dieser Reihenfolge) TSO, H. und M.s Wohnung. Gehe zwischendurch eine Viertelstunde lang die Nachrichten an und von TSO von Montag bis gestern durch und spüre Freundschaft und Zuwendung. Aber kein weitergehendes Interesse.
Aber Freundschaft und Zuwendung brauche ich momentan dringender und mehr als anderes, deswegen ist das gut. Wenn es mir jetzt noch gelingt, das eigene Herz zur Ruhe zu bringen und mich auf meine Aufgaben zu konzentrieren, könnte wirklich „alles gut“ werden.

Ich habe mir für heute eine Schreibaufgabe als Teil meiner Trauerarbeit aufgegeben: „Was (schon wieder oder zumindest teilweise oder sowieso schon immer) geht und was (noch oder teilweise oder sowieso) schwer fällt“.
Ich möchte gerne schauen, was ich schon geschafft habe und was noch vor mir liegt. Ich hoffe, ich kann das in den nächsten Tagen noch ergänzen und habe dann einen „Startzustand“.

Ich brauche Struktur.

Idee für Erinnerungs-Trigger:
Sie aufschreiben und mit in meine geplante tägliche Trauerarbeits-Session am Nachmittag bringen, um mich damit auseinanderzusetzen.

Idee für Trauerarbeit:

  • an einen Ort gehen, wo ich körperlich und geistig zur Ruhe kommen kann. Mitnehmen: Getränk / Kaffee, evtl. Imbiss (Obst, Rohkost, Kuchen), Kamera, Stift, Papier, Handy
  • Mini-Meditation, zur Ruhe kommen
  • Gedanken kommen und gehen lassen
  • nach einer Zeit Gedanken auf H. konzentrieren
  • in mich hineinhören: Poppt etwas auf? Beschäftigt mich etwas? oder: Zettel mit Erinnerungen nehmen: Sticht etwas heraus?
  • weinen, wenn es geht
  • zur Ruhe kommen
  • nachdenken und dabei mit ihm sprechen
  • je nach Bedürfnis über den Friedhof spazieren und schauen/ fotografieren oder weiter nachdenken und mit ihm sprechen
  • Kaffee und Kuchen / Imbiss zu mir nehmen
  • gerne auch eine große Runde laufen und nachdenken und mit ihm sprechen
  • Kommt mir ein Thema für eine (Schreib-)Aufgabe?

* * * * *

Ich schreibe eine längere Mail an H.s Schwester und Schwager und berichte über den Stand der Dinge.
Backe einen Marmorkuchen.
Plane die nächsten Arbeiten, um mein Lager hier wieder in eine Wohnung zu verwandeln.
Räume RSS-Feeds auf.
Beginne damit, Sachen zwischen den beiden Zimmern und der Küche hin und her zu räumen.
Frühstücke.
Spiele.
Schreibe.
Plane.
Räume weiter.

Um elf fahre ich zu P., der sich sichtlich freut, mich zu sehen. Er ist herzlich und zugewandt, und das ist so ungewohnt für mich, dass ich es gar nicht genießen kann.
Das ist Verhalten, das er H. gegenüber an den Tag gelegt hatte – dem Sohn gegenüber, den er nie selber hatte.

Und so kommt es, dass wir so richtige Vater-Tochter-Sachen zusammen machen, so als wäre das etwas ganz Normales:
Wir kochen zusammen Essen (Spargel), wir bauen das Tomatenhaus teilweise auf, wir lachen und scherzen, ich schneide ihm die Haare, zeige ihm was am Handy.
Strange.

* * * * *

Kurz nach sieben bin ich zurück, die Straßen gleichen dem Ziel eines Betriebsausflugs der Berliner Polizei, aber es ist ruhig und friedlich.

Ich telefoniere eine halbe Stunde mit Freund B., der die letzte Stunde schon versucht hatte, mich zu erreichen, aber es ist gar nichts, er will nur plaudern. Na ja, vielleicht ist das Plaudern gerade sehr wichtig für ihn, auch wenn er nichts davon sagt, also ist es vielleicht nicht „nichts“.

Danach noch eine halbe Stunde mit M., die heute knatschig ist, weil sie sich langweilt.

Hunger habe ich nicht mehr, aber Appetit auf meinen Kuchen, also gibt es Marmorkuchen zum „Abendbrot“. Wen juckt’s?

Ich chatte mit H.s Cousine D., seiner Nichte N. und der Nachbarin in K. Frauenprogramm zum Ausgleich.

Nachdenken. Schreiben. Aufräumen.
Ich räume noch ein wenig um und gehe zwei Tüten mit Papieren und alten Fotos aus den 1980ern durch. Von diesem H., seinen Träumen, Wünschen und Gedanken weiß ich wenig. Wie jung er auf den Bildern aussieht, und dennoch ganz unverkennbar wie er selbst. Selbstbewusst. Klar. Wissend, wer er ist und wo es hingehen wird. Hingehen soll. Zumindest wirkt es so.

Müde. Angestrengt. Nichts mehr denken wollen.
An TSO denken. Nicht mehr wissen, was ist Fantasie, was Realität, was Wunschtraum?
Das geschickte Bild ist ein Fakt.
Aber was dieser Fakt bedeutet, ändert sich stündlich.

Ich sage, H. hat mich geliebt – aber stimmt das? Hat er sich nicht vielleicht im Grunde etwas anderes – jemand anderen – gewünscht und sich dann mit dem, was er bekommen hat, arrangiert, weil es Vorteile hatte und allemal besser war als die Alternative: Alleine sein und sich wieder auf die Suche machen? Lieber den Spatz in der Hand…?
Habe ich es umgekehrt mit ihm so empfunden?
„Die Liebe meines Lebens“ oder die Karte, die das Leben mir gegeben hat?

Die Monate dieses Jahr:
JANUAR = ANGST, STRESS
FEBRUAR = VERZWEIFLUNG, STRESS
MÄRZ = GEFÜHLSCHAOS, STRESS
APRIL = KÖRPERLICHE ANSTRENGUNG, STRESS
MAI = ???, STRESS?

Und wie oft habe ich heute TSOs Foto betrachtet? Und jedes Mal mit anderen Gefühlen und Gedanken.
Was für ein Chaos.

* * * * *

Woran ich mich erinnern will:
Vater-Tochter-Dinge tun, fast wie normale Väter und Töchter

What I did today that could matter a year from now:
Einiges, aber wer weiß?

Was wichtig war:
Nachdenken.
Zur Ruhe kommen.
Offen sein.
Lachen.
Mit dem Nachbarn in seinen Teich schauen, ob die Frösche nach oben kommen. Sicher sind es Kröten, aber ich will ihn nicht enttäuschen.

Begegnungsnotizen:
Menschen in Bussen und U-Bahnen und abends auf dem Platz.
P.
P.s Nachbar B.

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