Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Der hundertzweite Tag im Danach: Schwacher Trost

Steigende Flut. Einsamkeit. Liebe Menschen. Wehmut.

8. Mai 2021. Samstag. Gegen fünf kurz wach, aber heute ist ja Wochenende!, also warum sollte ich mich rausquälen, auch wenn ich könnte? Der frühe Vogel kann mich mal. Also nochmal eingeschlafen bis sechs, dann drückte allerdings die Blase.

Die Morgensonne scheint in mein Zimmer und zeichnet gelbe Rechtecke an die Wand. Das ist immer einer der schönsten Momente des Tages. Vielleicht sollte ich mir das als Kraft-Bild mental abspeichern und in schwierigen Situationen hervorholen? Sollte ich mir nicht überhaupt ein Arsenal an Kraftbildern und -gedanken zulegen?

Ich gehe den Tag entspannt an, folge erstmal Lust und Laune (Wochenende!).

* * * * *

Im Feedreader bleibe ich bei einigen Formulierungen hängen, die mich ansprechen:

André Spiegel beschreibt, wie sich ganz normale Dinge plötzlich wieder ganz besonders anfühlen:

4. Mai. Heute in der Firma durfte ich zum ersten Mal wieder die Mikrowelle benutzen, wenn auch nur mit selbst mitgebrachtem Essen und eigenem Besteck. Ein Stand mit Snacks war in der Cafeteria aufgebaut und wurde vielfach bestaunt. In ein paar Tagen soll es sogar Kaffee geben. Alle diese Einschränkungen beruhen auf Forschung, die seit Monaten überholt ist, aber ihre Aufrechterhaltung und ihr Wegfall scheinen genau das Ritual zu sein, das es braucht, um den Spuk hinter uns zu lassen.

André Spiegel, fortlaufend (https://flfnd.tumblr.com/post/650345465039159296/2021-05-04)

Mit Freundin B. hatte ich das Thema gestern beim abendlichen Spaziergang auch: Wie sie nach Monaten wieder mal „einfach shoppen“ im Kaufhaus war und dann hinterher vor der Tür ihre Einkaufstüten fotografieren und das Bild an Freunde schicken musste – weil es sich wie ein herausragendes Ereignis angefühlt hat. Oder wie man bei der Aussage eines anderen, man sei dann „Kaffee trinken gegangen“ sofort aufhorcht: Geht das wieder? Wo denn? Wie denn? Und dann die Enttäuschung, wenn es natürlich eben doch nur Coffee to go und eine Parkbank war.

Christian Fischer zum ähnlichen Thema:

(…) DAS war jetzt gerade wichtig. Beides – der Impftermin und der beinah-Unfall.
Nicht wichtig hingegen: Nicht die wirren Schulmails, nicht „hier noch ein Pixel links“, nicht der Kollege der Zoom nicht mag und nicht die letzten 0.1% SEO.
Vielleicht ist es das, was uns seit Monaten so fertig macht: Dass wir einerseits mit etwas potentiell lebensbedrohlichem kämpfen müssten aber statt dessen unter erschwerten Bedingungen weiter machen sollen wie bisher. Mit all den – im Vergleich – Pseudo-Prioritäten. Während jemand anders den Überlebenskampf für uns führt und sich dabei ebenso so unwillig wie ungeschickt anstellt.

hmbl, 5.5.2021 – #wmdedgt (https://hmbl.blog/5-5-2021-wmdedgt/?pk_campaign=feed&pk_kwd=5-5-2021-wmdedgt)

Wie uns Alltäglichkeiten, die wir nicht mehr haben, plötzlich als große Wunder erscheinen, während andere Alltäglichkeiten als Zumutung empfunden werden, weil es sich doch eigentlich um Wichtigeres drehen müsste.
Lustige Widersprüche.

Und die Oecherin spricht mir aus der Seele – das könnte ich mir aktuell über jeden einzelnen Tag schreiben, und solange das stimmt, ist alles gut akzeptabel erträglich ok:

Einmal mehr aufgestanden als unten gewesen.

18 Worte, I call it a day (https://18worte.wordpress.com/2021/05/05/i-call-it-a-day/)

* * * * *

Ich sehe mir die Fotos an, die ich von den Filmstudenten gemacht habe. Wie jung sie sind! Ich wünschte, ich könnte den Film sehen, den sie vielleicht in 30 Jahren von demselben Thema machen, aus ihrer dann mit Sicherheit veränderten Weltsicht. Ob der eine oder die andere in 30 Jahren denkt: ‚Jetzt bin ich ungefähr so alt wie sie damals war. Wie ungewöhnlich und beeindruckend war sie mir damals erschienen. Wie selbstverständlich haben wir sie auf der anderen Seite für unseren Film benutzt. Heute verstehe ich, wie sie sich gefühlt haben muss. Wie konnten wir?‘
Und ich kann sagen: Leute, Ihr wart toll, Ihr habt alles richtig gemacht. Wärt ihr heute dreißig Jahre älter, hätte ich vielleicht etwas anderes erwartet, aber das seid ihr nicht, also alles cool. Ich liebe Euch!

* * * * *

Ich lese, schreibe, denke, führe Dialoge mit imaginären Personen, um mir Dinge und Zusammenhänge zu verdeutlichen. Kopfarbeit. Umbau. Sammeln, sortieren, neu anordnen. Was geht noch, was muss weg? Wo wird Neues gebraucht?

Beschäftige mich mit den Zeitmanagement-Methoden von Mark Forster, um einen kleinen Kickstart zu bekommen, mal ein bisschen mehr Projektarbeit zu schaffen. Es muss Geld her! Dazu muss ich Rechnungen schreiben! Dazu muss ich Projekte abschließen! Dazu muss ich mich mal überwinden, wieder an Projekten zu arbeiten!

Mittags kleine Einkaufsrunde. Zuerst schaue ich auf dem Markt nach, ob der Trödler da ist, denn ich denke, er sollte noch Geld bekommen. Aber kurz vor zwölf ist von ihm (noch?) nichts zu sehen. Dann zur Bank, Geld für P. abheben. Mein Kontostand schrumpft dramatisch. Dann zum Bäcker, wo ich mir ein Franzbrötchen zum Kaffee hole. Dies nur, um eine Euromünze für den Einkaufswagen im Discounter zu bekommen, denn ich habe wieder vergessen, eine einzustecken. Einkauf beim Discounter.

Das Einkaufen ging inzwischen ja schon wieder recht gut, jetzt treten allerdings vermehrt wieder kleine Piekser aus Trauer und Verlustschmerz auf. Ich drücke sie im Laden weg und widme mich Ihnen später.
Ich muss wirklich neu lernen, nicht so viel einzukaufen. Klar hätte ich beim Frühstück gern eine gewisse Auswahl, wir haben da ja luxuriös gelebt mit täglich je 3-4 Sorten Wurst und Käse, dazu Frischkäse, Feinkostsalaten und ähnlichem. Gerne auch zwei Sorten Brot. Das geht aktuell nicht, weil ich keinen Platz im Tiefkühler habe und mir vier gleichzeitig geöffnete Packungen Wurst einfach schlecht werden würden. Oder zwei Brote.

* * * * *

Wieder zu Hause räume ich die Einkäufe weg und schaue mir die Sale-Seite meiner Klamottenlieferantin an, aber ich habe eigentlich gar kein Geld, und es schreit auch nichts lauthals meinen Namen, also lasse ich diesen Sale wohl vorübergehen.

Schreibe noch eine Mail an den Kunden des GroßenNeuenProjekts.
Schreibe, esse Knäckebrot mit Butter, sortiere alte Papiere (zur Abwechslung mal meine eigenen).

Kurz nach vier mache ich mich auf Richtung Friedhof. Die Sonne scheint und versteckt sich nur immer kurz hinter Wolken. Es ist derselbe dramatische Himmel seit Mitte März, so fühlt es sich wenigstens an. Der Baum ist fast verblüht, jetzt wird der dahinter sichtbar, der auch sehr schön ist, aber nicht ganz so überschäumend prächtig wie „unserer“.

Ich sitze lange am Grab, weine, halte Zwiesprache mit H., hole mir Rat und Bekräftigung. Es ist gut, dass diese innere Zwiesprache (wieder? momentan?) funktioniert, ich schöpfe Kraft und Vertrauen daraus. Das ich seien Stimme wieder höre…

Wandere ein wenig über den Friedhof, besuche das Grab eines jungen Mannes, den ich nicht kannte, aber dessen Mutter – die ich ebenfalls (noch) nicht persönlich kenne – ich mich auf mehreren Ebenen seltsam verbunden fühle. Wie, warum, woran bist Du gestorben?

Suche eine Bank, wo ich in der Sonne sitzen und etwas arbeiten und denken kann und finde keine. Die freien Bänke sind privat oder liegen im Schatten, die freien Sonnenbänke stehen an Hauptwegen, das ist mir zu öffentlich.
Am Ende lande ich wieder in „unserer“ Abteilung, setze mich auf die höhergelegene Bank unter dem großen Baum, die wenigstens noch einen Rest Sonne abbekommt.

Die Frau, die in einiger Entfernung auf der anderen Seite des Hauptweges ein Grab bepflanzt hat, ist nun fertig und bricht auf; ich bin allein, es kommen nur noch sehr vereinzelt Spaziergänger vorbei, aber die gehen auf dem Hauptweg und kommen nicht in unsere Abteilung.

Arbeiten kann ich trotzdem nicht, es ist fast keine Konzentration möglich, der Kopf ist mit eigenen Dingen beschäftigt und mag sich nicht um Angebote und Programmierung und Konzepte kümmern. Hat einfach keine Lust dazu und verweigert die Zusammenarbeit.

* * * * *

Auf dem Heimweg treffe ich eine Bekannte, die Künstlerin S., der ich ein bisschen erzähle und die mir spontan Blumen schenken möchte (wir stehen vor einem Blumenladen). Mir ist das ein wenig unangenehm, aber natürlich freue ich mich über das kleine Sträußchen Duftwicken sehr. Danke!

Gegen 19:00 zu Hause. M. angerufen, sie hat seit ihrer Heimkehr gestern viel geschlafen und wenig getan, aber das ist ja klar, es ist eine Umstellung vom Krankenhausalltag, und man ist ja auch nicht pumperlg’sund, wenn man entlassen wird. Bei ihr herrschen nun wieder depressive Stimmungen vor – ob sie ihr doch den einen oder anderen Stimmungsaufheller verpasst haben? Oder ist das jetzt einfach wieder die Umstellung von ‚Den ganzen Tag versorgt und mit Gesellschaft und Ansprache und Kümmern‘ zu ‚Zwar zu Hause in gewohnter Umgebung sein, aber eben doch allein und für alles selbst verantwortlich mit einem nur sehr eingeschränkten sozialen Umfeld‘? Vielleicht tut sie sich ja auch zunehmend mit Veränderungen schwer, auch funktioniert der Kopf nach der OP und mit den Medikamenten noch nicht so richtig, das spielt sicher auch eine Rolle (Ängste vor zunehmender Hilfsbedürftigkeit und Abhängigkeit).

Das gestrige Aneinanderrasseln wird von keinem von uns erwähnt, und ich schlucke ein paar bissige Bemerkungen runter, die mir auf der Zunge liegen. Mehr kann ich momentan nicht tun, denn in mir steigt gerade weder die Trauerflut, ich bin jetzt einfach auch mal mit mir beschäftigt und kann nicht noch den Therapeuten für sie machen.

Noch anderthalb Stunden schreiben, dann spätes Abendbrot (zum letzten Mal gebratene Fleischwurst und Pastinaken-Sellerie-Stampf).

In der ARTE App zwei Folgen Bron – Die Brücke – Transit in den Tod gesehen.

* * * * *

Woran ich mich erinnern will:
Leidlich zur Ruhe kommen. Blumen geschenkt bekommen.

What I did today that could matter a year from now:
In Gedanken mit H. sprechen und mir Rat holen.

Was wichtig war:
Rausgehen.
Weinen.
Nachdenken.
Schreiben.
Traurig sein.
Mich zusammenreißen.
Reden.

Begegnungsnotizen:
Menschen auf der Straße, am Geldautomaten, im Supermarkt.
Künstlerin S:

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