Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Der hundertvierte Tag im Danach: Bahnhofsgedanken

Schmerzhafte Begegnungen mit der Vergangenheit, während man in der Gegenwart jemandem eine Freude bereitet. Gefühl der Einsamkeit nimmt zu.

10. Mai 2021. Montag. Wach um halb fünf, nochmal eingeschlafen, aufgestanden um halb sieben. Das ist jetzt das aktuelle tägliche Morgenritual. Passt schon. Wieder Lichtrechtecke an der Zimmerwand.
Die Stimmung ist eher gedämpft-müde, aber versöhnlich. Leicht resigniert vielleicht. Schwer zu beschreiben. Ich freue mich auf das Treffen mit Freund B., der heute Mittag nach einer Woche bei der Tante in W. zurückkehrt, und den ich vom Zug abholen werde.

* * * * *

M. ruft morgens um halb acht an, hat in einer Schublade Geld gefunden. Ob das ihrs sei? – Wessen denn sonst? – Na, könnte a sein, dass es meins ist, dass ich das gerade in der Hand gehabt hätte, dann sei der Handwerker (sie meint wohl den Rauchmelder-Monteur) reingekommen und ich hätte das schnell in die Schublade gelegt, damit er es nicht sieht, und dann später vergessen…

Ich bin ein bisschen sprachlos, aber so ist sie: hält das unwahrscheinlichste Konstrukt meist für glaubwürdiger als die simple Wirklichkeit, Hauptsache, ihr erwächst daraus irgendein Nachteil, den sie dann märtyrerhaft auskosten kann.

* * * * *

Ich lese und schreibe bis kurz nach neun, dann mache ich mich an das rausgezögerte Angebot für das GroßeNeueProjekt , schreibe es in einer Stunde runter und schicke es der Lieblingskundin.
Als Antwort kommt etwas später eine Sprachnachricht: Angesichts des schönen Wetters sei man für den Tag ans Meer gefahren. Recht so.

Für M. rufe ich bei ihrem früheren Arzt an, zu dem sie jetzt dann doch gerne wieder gehen würde. Den nächsten freien Termin gebe es im Juli. Bei einem Allgemeinmediziner. In zwei Monaten bin ich entweder tot oder gesund. Was läuft denn falsch in diesem Land?! Als ich sage, es gehe um eine Behandlungsfortsetzung nach Krankenhausentlassung, meint die Dame am Telefon, sie könne ja einfach so ohne Termin kommen, dann halt mit Wartezeit. Wie lange die Wartezeit im Schnitt sei? 15-20 Minuten. Na, dafür muss ich nicht zwei Monate (!) auf einen Termin „warten“…

Duschen, Wäsche waschen, spielen, schreiben. Ich habe keinen Kopf mehr für Arbeit. Es ist warm, drückend, und ich muss bald los.
Esse um halb zwölf Frühstück, heute mit meinem Buch im Sessel. Die Augen fallen mir zu. Noch eine gute Stunde, bis ich mich fertig machen muss. Ich lege mich mit dem Buch ins Bett, stelle zur Sicherheit den Wecker, döse aber nur ein paar Minuten weg.

Um eins klingelt der Wecker, um halb zwei muss ich los. Noch schnell Wäsche aufhängen, anziehen, zusammenpacken, fertig machen.

Ich fahre zum Bahnhof, der zwischen Freund B.s und meiner Wohnung liegt. Gute 20 Minuten inklusive Geld am Automaten abheben und dadurch eine U-Bahn durchfahren lassen.

Von hier sind H. und ich auch ein-, zweimal abgefahren. Oder abends angekommen. Meistens fahren unsere Züge aber die andere Strecke durch den Westen der Stadt.

Abgeholt habe ich H. hier noch nie. Schon gar nicht mittags. Trotzdem kommt da ein heftiger Erinnerungsflash, und ich sehe mich am Bahnhof stehen, es ist teils der Hauptbahnhof in Berlin, teils der in K., ich stehe da mit vor Vorfreude klopfendem Herzen, der Zug fährt ein, aber durch die getönten Scheiben sind die Menschen im Innern schwer zu unterscheiden , der Zug hält an, es dauert einen Moment, bis die Türen sich öffnen, die ersten Leute steigen aus, ich schaue links, rechts, oft war H. einer der ersten, die aussteigen, er stand ja immer früh genug auf. Und wieder sehe ich seine Gestalt auf mich zukommen, in einem braunen oder dunkelroten T-Shirt im Sommer oder einer roten oder grünen Strickjacke an kühlen Abenden oder in der dicken braunen Winterjacke. Und ich sehe, wie sich ein etwas erschöpftes Lächeln (es war ein langer Tag, sicher hat er vormittags bis kurz vor der Abfahrt des Busses noch gewirbelt) auf seinem Gesicht ausbreitet, kurz bevor er stehenbleibt, den Koffer loslässt und wir uns fest und lange umarmen.

Und es reißt mich, und die Tränen laufen, und zum Glück ist der Bahnsteig fast leer und ich drehe mich um und laufe eine Weile herum, bis ich wieder im Hier und Jetzt angekommen bin: An diesem Montag Mittag, an diesem Bahnhof, wartend auf einen anderen Mann in einem anderen Zug.

* * * * *

Freund B. ist wortkarg wie immer, bestätigt mir aber mehrfach, dass er sich freut. Wir fahren in seine Wohnung, ich lasse ihn ankommen, die Post lesen, umziehen, etwas trinken. Dann gehen wir los und holen uns Essen beim Asia-Imbiss am nahegelegenen S-Bahnhof. Wieder zurück zu ihm, Essen in der Küche. Gemütlich. Alltäglich. Er hatte das ja jetzt eine Woche, ich bin regelrecht ausgehungert nach Gesellschaft. Fühle mich auch ein bisschen unsicher, ungelenk. reagiere darauf mit übertriebener Munterkeit. Chaos im Kopf.

Kurz vor halb fünf breche ich auf, B. will noch einkaufen, Mails lesen, auspacken, waschen, ankommen. Ich beneide ihn ein wenig um diese alltäglichen, einfachen Aufgaben. Natürlich habe ich keine Ahnung, mit welchen Gefühlen er sie ausführt, aber von außen sieht das beneidenswert klar, einfach und übersichtlich aus.

Die Bahnen sind nun etwas leerer, aber auf dem Heimweg überrollen mich nun Gedanken an TSO. Was hat der plötzlich wieder in meinem Kopf zu suchen? Ich zähle: Heute ist der vierte Tag ohne Nachricht von ihm. Wenn er sich irgendwas aus mir machen würde, könnte er sich doch denken, dass ich eine schwere Zeit habe und sich mal unverfänglich melden. Wenn er sich etwas aus mir machen würde, hätte er doch auch das Bedürfnis nach Kontakt und würde irgendeinen Anlass suchen, um mir zu schreiben.
Der Umkehrschluss ‚dann macht er sich wohl nicht genug aus mir‘ stürzt mich dann gleich wieder in noch tiefere Verlassenheitsgefühle.

Ich versuche, mir das zu verbieten, es ist unsinnig, fruchtlos und ein idiotisches Ablenkungsmanöver: Es geht nicht um TSO, es geht um H.! Halte es aus oder drücke es weg, aber zieh nicht Unbeteiligte mit hinein!
Der Anschiss wirkt eine Weile.

* * * * *

Halb sechs zu Hause. Ich überprüfe auf H.s Konto, ob die Hausverwaltung die Kaution überwiesen hat. Hat sie nicht. Dafür zahle ich die Heizkosten, die noch offen sind. Die Strom-Gesellschaft hat 6,55 Euro Guthaben erstattet. Ich hatte mit mehr gerechnet, im letzten halben Jahr wurde in der Wohnung doch praktisch kein Strom verbraucht. Im November waren wir weg, im Dezember war er nur knappe drei Wochen in der Wohnung am Arbeiten, danach nicht mehr. Es lief eigentlich nur der Kühlschrank, zweimal die Waschmaschine, einmal der Herd, als ich mir was warm gemacht habe. Und der Staubsauger. Na ja, was soll’s. Abhaken.

Ich rufe H.s Schwester an, rede eine Stunde mit ihr. Erzähle vom Wein, der zurückgekommen ist, und von der Kaution und lange von M. Das Thema Bezahlung des Entrümplers lasse ich mal außen vor. Sie will klären, wann sie ins Häuschen kommen. Es steht jetzt ein Termin Mitte Juni im Raum. Das ist ein bisschen blöd, weil ich eigentlich nächste Woche fahren will. Aber wenn ich nur eine Woche bleibe, wären es dann wieder drei Wochen in Berlin, bevor ich erneut fahre. Oder lieber eine Woche später fahren und dann gleich drei oder vier Wochen bleiben? Das wäre praktischer, und zu zweit würden wir es wohl so machen. Aber vier Wochen alleine im Haus? Würde ich das schaffen? Und wenn nicht, müsste ich innerhalb von zehn Tagen hin und her fahren, das ist ja auch Stress. Ich muss mir das gut überlegen, fahre aber wohl besser öfter relativ kurz.

Dann noch das tägliche Pflichttelefonat mit M. Sie ist immer noch sehr depressiv: Die Schmerzen sind noch da, wenn auch anders und aushaltbarer als vor Ostern. Der Kopf ist nach wie vor matschig, sie kann sich schlecht konzentrieren und wenig merken.

Sie beharrt darauf, da seien Unterlagen in einem großen Briefumschlag auf einem Schränkchen gewesen. Wo ich die hingetan habe. Ich kann mich weder an die Unterlagen noch an einen Umschlag erinnern. Sie glaubt mir nicht. „Ich habe überall gesucht. Der müsste ja da sein.“ Ich weiß, wie sie sucht (sehr oberflächlich und unsystematisch) und bin sicher, ich würde den Umschlag vor Ort in wenigen Minuten finden. Jetzt bleibt mir nichts als zu sagen, „Ich kann mich an keinen Umschlag erinnern und habe auch keinen mitgenommen.“ Sie glaubt mir nicht.

Ich lege ihr also Geld in die Schublade, das ich dann vergesse, nehme stattdessen den Arztbrief des Radiologen mit nach Hause und streite das dann später ab.

Ich mache mir Gedanken. Muss abwarten, ob dieser Zustand vorübergehend ist oder ein erstes Anzeichen für Demenz.

* * * * *

Draußen sausen die ersten Mauersegler vorbei. Frühsommer.

Ich schreibe noch eine Weile, bearbeite ein paar Fotos und rufe nebenbei H.s Mails ab (praktisch nur noch irgendwelche Newsletter, die werde ich irgendwann abbestellen, aber im Moment erinnern sie mich an ihn: Lotto, Baumarkt, Software-Bude, Computer-Nachrichten, Elektronik-Markt, Stiftung Warentest, Campact).

Kurz vor zehn mit einem Imbiss (Brote) ins Bett. Barnaby. Lesen bei laufendem Fernseher, so bin ich es jahrelang gewohnt. Irgendwann einschlafen.

Um halb zwei muss ich aufs Klo, ich taumele wie ein Betrunkener, kann vor Schlaftrunkenheit nicht gerade gehen. Mache den Fernseher und das Licht aus (der Fernseher hatte sich wie immer abgeschaltet und läuft im Standby-Betrieb).

* * * * *

Woran ich mich erinnern will:
Bei Freund B. in der Küche sitzen, essen, plaudern

What I did today that could matter a year from now:
Am ehesten irgendwelche Gedanken, die irgendwann zu irgendwelchen Handlungen führen mögen.

Was wichtig war:
Das Angebot fertig machen.
Ausruhen.
Fühlen.
Weinen.
Lachen.
Plaudern.
Gemeinschaftlichkeit.
Vertrautheit.

Begegnungsnotizen:
Menschen in U- und S-Bahnen.
Freund B.

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