Rück- und Ausblick, ein Wagnis, eine lose Verabredung und Zukunftspläne.
14. Mai 2021. Freitag. Kurz vor sieben aufgestanden. Es ist ein seltsamer Tag: teils regulärer Arbeitstag, teils schon Wochenende, teils halb freier Tag.
Ich denke den halben Tag darauf herum, TSO eine Nachricht zu schicken und meine Hilfe bei einem Einsatz nächste Woche anzubieten. Ich fühle mich gewappnet, ein „Nein“ zu akzeptieren und feile lange an dem Text, damit er möglichst unverbindlich und locker-flockig rüberkommt. Bedenke mögliche Reaktionen aus verschiedenster Perspektive.
Mache es am Ende – und fühle mich sofort schlecht. WTF?
Natürlich kommt keine Antwort, obwohl ich sehe, dass er die Nachricht gelesen hat.
Ich fühle mich, als würde eine ausgestreckte Hand einfach übersehen, ignoriert und ziehe sie mental langsam und vorsichtig wieder zurück. Okay. Dann nicht.
* * * * *
100-Tage-Check-In:
Am 18. April habe ich darüber nachgedacht, wo ich in 100 Tagen sein will.
Inzwischen sind 25 Tage vergangen, heute ist der 26. Tag. Ein Viertel der Zeit ist also rum.
Wo stehe ich?
Das waren die Wünsche:
Ich wünsche mir Menschen in meinem Leben, mit denen ich meine Zeit verbringe.
Das müssen nicht jeden Tag dieselben Menschen sein, es wäre ok, wenn ich zum Beispiel feste Tage für bestimmte Aktivitäten habe:
Einen Tag spazieren mit Freundin B., einen Tag irgendwo ein paar Stunden arbeiten, einen Tag wechselnde Menschen treffen.
Gerne auch einen oder zwei Tage alleine zu Hause mit Zeit für Hausarbeit und Hobbies. Einen Tag für Besuche bei M. oder P. oder anderen Menschen.
Ich wünsche mir, dass Menschen Dinge mit mir unternehmen wollen, mich zum Beispiel einladen, sie irgendwohin zu begleiten.
Ich wünsche mir einen Ort, an dem ich mich einbringen kann, ein Team, in dem ich arbeiten kann. Gerne mit TSO.
Oder mit jemandem, den ich vielleicht erst noch kennenlerne.
Ich möchte meine Arbeit bequem schaffen und so viel Geld verdienen, wie ich brauche.
Ich möchte einen inneren Dialog mit H. haben/ führen können.
Ich möchte an einem Punkt sein, wo ich seinen Tod akzeptiere und darüber traurig sein kann.
Ich möchte die Gefühle nicht mehr wegdrücken müssen.
Ich möchte, dass der ganze Verwaltungskram, der mit seinem Tod zusammenhängt, erledigt ist.
Ich hätte gerne einen Weg gefunden, die innere Anspannung anders loszuwerden als mit skin picking bzw. sie ganz aufzulösen.
Es wäre toll, wenn meine Wohnung wieder wohnlich aussieht und nicht wie ein Lager.
Nicht gerade wenig.
Mal sehen:
„Menschen in meinem Leben, mit denen ich meine Zeit verbringe“ – das sind dieselben wie damals, im Wesentlichen Freund B. und Freundin B., dazu einige Bekannte, die grundsätzlich bereit sind „mal zusammen spazieren zu gehen“. Bis auf B. und B. nichts Regelmäßiges, aber das liegt momentan hauptsächlich an mir, die Bereitschaft bei anderen wäre da. Ich brauche momentan noch sehr viel Zeit für mich, zum Nachdenken, Trauern und Erholen, da ist nicht viel Platz für zu viele andere Menschen. Ich kann aber jeden Tag Verabredungen treffen, wenn ich das will und brauche, das ist gut.
„Ich wünsche mir, dass Menschen Dinge mit mir unternehmen wollen, mich zum Beispiel einladen, sie irgendwohin zu begleiten.“ – Aktuell habe ich eine Einladung für Pfingsten, wo sich zwei, drei Freunde im Grünen treffen wollen, so es denn erlaubt sein wird. Das zählt, denn die Initiative mich einzuladen ging von denen aus.
„Ich wünsche mir einen Ort, an dem ich mich einbringen kann, ein Team, in dem ich arbeiten kann.“ – Das liegt momentan in weiter Ferne. Beim Kulturort mag ich nicht fragen, ich sollte vielleicht auch wirklich erstmal stabiler sein. Ich weiß aber, dass ich vermutlich sofort und ohne Nachdenken zusage, wenn mich die Richtigen fragen oder sich spontan etwas Passendes ergibt.
„Ich möchte meine Arbeit bequem schaffen und so viel Geld verdienen, wie ich brauche.“ – Davon bin och aktuell weit entfernt, ich arbeite immer noch mit Mühe den Rückstau ab und bete, dass nichts Neues hinzukommt in den nächsten 2-3 Wochen. Geld reicht entsprechend kaum.
„Ich möchte einen inneren Dialog mit H. haben/ führen können. Ich möchte an einem Punkt sein, wo ich seinen Tod akzeptiere und darüber traurig sein kann. Ich möchte die Gefühle nicht mehr wegdrücken müssen.“ – Ja, ja und ja. Ich stecke mitten in der Trauerarbeit, ich kann zum Grab gehen und seine Stimme hören, ich kann ihn um Rat fragen, und er antwortet mir. Ich realisiere den Verlust und betrauere ihn, ich kann Gefühle vorübergehend in den Hintergrund schieben, um zu arbeiten oder mit anderen Menschen zusammen zu sein, aber ich lasse sie dann auch zu gegebener Zeit und am richtigen Ort raus und stelle mich ihnen.
„Ich möchte, dass der ganze Verwaltungskram, der mit seinem Tod zusammenhängt, erledigt ist.“ – Ein paar Dinge fehlen noch, vor allem die Sachen in Bezug auf das Haus und die Steuer für seine Firma.
„Ich hätte gerne einen Weg gefunden, die innere Anspannung anders loszuwerden als mit skin picking bzw. sie ganz aufzulösen.“ – Ich vermute, dass Bewegung und körperliche Aktivität ein Weg sein könnte. Eine Mischung aus Meditation, Yoga, Laufen, Radfahren, Schwimmen. Ich muss es ausprobieren.
„Es wäre toll, wenn meine Wohnung wieder wohnlich aussieht und nicht wie ein Lager.“ – Immerhin sieht die Wohnung mittlerweile wie ein aufgeräumtes Lager aus, es gibt Wege zu den Fenstern und den wichtigsten Schränken, und der Tisch kann mit nur wenigen Handgriffen auch von einer zweiten Person genutzt werden.
Was bleibt zu tun?
Ich möchte gerne noch ein, zwei Menschen in meinem engeren Kreis haben. Sehr gerne TSO, wenn er das will und kann. Und vielleicht jemanden, den/ die ich erst noch kennenlerne? Ich habe große Lust auf neue Menschen…
Nach wie vor ist der Ort, an dem ich mich einbringen kann, ein großes Bedürfnis. Ich versuche, Geduld zu haben und Zuversicht, dass sich etwas ergibt, wenn ich offen bleibe und gleichzeitig daran arbeite, stabiler zu werden.
Ich möchte konzentrierter arbeiten können, um wieder mehr zu schaffen und halbwegs Geld zu verdienen.
Ich möchte noch intensiver mit H. in Kontakt kommen und ihn auch an anderen Orten zu Hilfe rufen können, nicht nur am Grab. Ich möchte seine Stimme in meinem Kopf hören können, ohne zu weinen. Ich möchte an ihn denken können, ohne dass es mich jedesmal vollständig zerreißt.
Den Verwaltungskram werde ich jetzt in naher Zukunft nach und nach erledigen: Die restlichen Verträge auf mich umschreiben bzw. kündigen, die Einkommensteuer für letztes Jahr machen, beim Finanzamt nachfragen, was für dieses Jahr zu tun ist. Das sollte bis Quartalsende (Ende Juni) abgeschlossen sein, damit es nicht noch Stress wegen der Umsatzsteuer-Voranmeldung gibt.
Sehr zeitnah muss ich mir etwas überlegen, wie ich mehr Bewegung in meinen Tagesablauf integriere. Ich habe einen starken Bewegungsdrang, merke, wie gut mir auch Meditation und Yoga tun. Wie passt das noch rein? Wo kann ich Zeit (und Kraft) abzwacken?
In der Wohnung arbeite ich nach und nach weiter, das ist auf einem guten Weg. Aktuell kann ich mich nicht so gut mit H.s Sachen beschäftigen, daher mache ich mich gerade an meine, sortiere um, miste aus, hefte ab. Läuft.
* * * * *
Mittags eine Stunde Erwerbsarbeit, Yoga, aufräumen, Wäsche waschen und aufhängen.
Esse Vanillepudding mit Rhabarberkompott, lese, lege mich ins Bett, döse wohl auch kurz ein.
Denke nach, schreibe.
Breche zu einer kleinen Einkaufsrunde auf. Lese, dass der Büroladen mit integrierter Post nächste Woche schließt. Wieder was weg.
Einkauf beim Discounter, diesmal emotional ganz entspannt, der Kopf ist mit anderen Dingen beschäftigt.
Verziehe mich wieder in den Sessel, esse eine Tüte Chips, lese.
Anruf von Freund B., der sich seit seiner Rückkehr aus W. einsam fühlt. Wir verabreden, dass ich ihn am Wochenende besuche.
Telefonat mit M., die nach wie vor gute Laune hat. Ich erzähle, dass ich am Wochenende B. besuchen werde. „Warum?“ – „Weil er einsam ist.“ – „Hat er denn nichts zu tun?“ – „Ihm ist nicht langweilig, er ist einsam!“ – „Ja, Du meine Güte, ich bin auch einsam!“ – „Dann solltest Du Dir vielleicht auch Leute einladen.“ – „Um Himmels Willen, bloß nicht.“
Genau.
Während des Essens (nochmal Kartoffel-Fenchel-Apfel-Auflauf) ruft die Nachbarin aus dem Dorf an, wir plaudern eine Dreiviertelstunde.
Über den neuesten Todesfall. Über einen geplanten Kurztrip mit dem Wohnmobil. Über gemähten Rasen und faulige Äpfel im Keller. Über meinen nächsten Besuch.
Es wird wohl nach Pfingsten werden, das habe ich nun eigentlich beschlossen. Ob gleich anschließend, oder ob ich noch eine Woche warte, entscheide ich dann.
Fertig gegessen, im Fernsehen „Das Fenster zum Hof„. Den Anfang hatte ich Anfang Januar gesehen, während H. seine Schmerzen rausschlief; jetzt schaue ich auch den Rest. Erinnere mich wieder an die Handlung, denn natürlich ist das ein Klassiker, den ich nicht das erste Mal sehe.
Anschließend „In der Hitze der Nacht„. Noch ein Klassiker, diesmal verschlafe ich die Hälfte. Genieße aber die Musik von Quincy Jones.
Zum Abschluss „Psycho„, den ich komplett verschlafe, danach schalte ich Fernseher und Licht aus.
Zwischendrin große Scham wegen der gesendeten Nachricht an TSO. Abhaken.
* * * * *
Woran ich mich erinnern will:
Wie wohltuend Yoga sein kann, wenn man die richtigen Übungen zur richtigen Zeit macht.
What I did today that could matter a year from now:
Eine Nachricht senden. Eine Hand ausstrecken. Ein Freundschaftsangebot machen.
Was wichtig war:
Nachdenken.
Abwägen.
Eine Entscheidung treffen.
Zurückschauen.
Nach vorne sehen.
Reden.
Begegnungsnotizen:
Menschen im Büroladen und im Discounter.
Kiosk-Mitarbeiter (Plausch im Vorbeigehen)
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