8. Juni 2021. Dienstag. In den frühen Morgenstunden zweimal aufgwacht, dabei einmal aufs Klo gegangen. Vom Wecker um halb sieben geweckt, obwohl ich eine halbe Stunde vorher schon mal wach war. Anscheinend doch nochmal eingeschlafen.
Es ist immer noch grau und feucht und mild. Waschküchenwetter.
Die Stimmung und Gedanken gehen morgens ins Depressive: Allgemeines Gefühl der Sinnlosigkeit: Die Zeit verrinnt – der Juni ist schon wieder eine Woche alt, bald ist der Sommer vorbei, und es ist wieder Winter, dann jährt sich der Todestag zum ersten Mal, und so vergehen unterschiedslos Tage, Wochen, Monate und Jahre. Ich werde immer älter, und schaue ich zurück, kann ich mich an wenig Herausragendes erinnern, und wozu das Ganze überhaupt?
TSO, an dem ich immer noch herumkaue, ist die ganze Zeit im Hintergrund präsent – wie eine Folie hinter meinen sonstigen Gedanken. Liegt beim Thema „Sinnlosigkeit“ ja auch irgendwie nahe.
Ich möchte einen Tag nur schreiben.
Dann alle Artikel aus dem RSS-Reader lesen.
Alles leeren, aufräumen, alles auf Anfang.
Große Sehnsucht nach „Urlaub“: Eine Woche frei von sämtlichen beruflichen Verpflichtungen sein – ob sich das realisieren lässt?
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Aber erstmal arbeiten: Mit der Lieblingskundin telefonieren. Mails beantworten. Eine fertige Website freischalten. Das zweite große Angebot für den dicken neuen Kunden ergänzen. Eine Rechnung schreiben. Für eine andere Kundin ein paar Kleinigkeiten herausfinden.
Kurz mit P. telefonieren. Steuer überweisen.
Einen Imbiss auf der Terrasse einnehmen. Zeitung lesen. Ein Nickerchen im Gartenstuhl machen.
Das Fenster im Badezimmer putzen. Wäsche waschen. Geschirr spülen. Wäsche zum Trocknen aufhängen.
Im Laufe des Vormittags kommt die Sonne raus; die hat mir wirklich sehr gefehlt.
Sie verschwindet dann zwar auch wieder hinter Dunst, aber eine Stunde blauer Himmel war Balsam für die Seele.
Die Arbeit lenkt mich erfolgreich ab, auch wenn ich mich überwinden muss, sie zu tun.
Das Gefühl insgesamt: Desillusioniert, resigniert, frustriert. Perspektivlos. Sinnlos.
Die Konzentration funktioniert, ansonsten: dumpf.
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100-Tage-Check-In:
Am 18. April habe ich darüber nachgedacht, wo ich in 100 Tagen sein will.
Inzwischen sind 50 Tage vergangen, Halbzeit.
Wo stehe ich? Auch im Vergleich zum letzten Check-In nach 25 Tagen.
Das waren die Wünsche:
Ich wünsche mir Menschen in meinem Leben, mit denen ich meine Zeit verbringe.
Das müssen nicht jeden Tag dieselben Menschen sein, es wäre ok, wenn ich zum Beispiel feste Tage für bestimmte Aktivitäten habe:
Einen Tag spazieren mit Freundin B., einen Tag irgendwo ein paar Stunden arbeiten, einen Tag wechselnde Menschen treffen.
Gerne auch einen oder zwei Tage alleine zu Hause mit Zeit für Hausarbeit und Hobbies. Einen Tag für Besuche bei M. oder P. oder anderen Menschen.
Ich wünsche mir, dass Menschen Dinge mit mir unternehmen wollen, mich zum Beispiel einladen, sie irgendwohin zu begleiten.
Ich wünsche mir einen Ort, an dem ich mich einbringen kann, ein Team, in dem ich arbeiten kann. Gerne mit TSO.
Oder mit jemandem, den ich vielleicht erst noch kennenlerne.
Ich möchte meine Arbeit bequem schaffen und so viel Geld verdienen, wie ich brauche.
Ich möchte einen inneren Dialog mit H. haben/ führen können.
Ich möchte an einem Punkt sein, wo ich seinen Tod akzeptiere und darüber traurig sein kann.
Ich möchte die Gefühle nicht mehr wegdrücken müssen.
Ich möchte, dass der ganze Verwaltungskram, der mit seinem Tod zusammenhängt, erledigt ist.
Ich hätte gerne einen Weg gefunden, die innere Anspannung anders loszuwerden als mit skin picking bzw. sie ganz aufzulösen.
Es wäre toll, wenn meine Wohnung wieder wohnlich aussieht und nicht wie ein Lager.
Und wie sieht es damit aus, auch im Vergleich zum letzten Check-In nach einem Viertel der Zeit?
Mal sehen:
„Menschen in meinem Leben, mit denen ich meine Zeit verbringe“ – das sind nach wie vor in erster Linie Freundin und Freund B. Mit Freundin B. gehe ich ein-, zweimal die Woche spazieren, Freund B. treffe ich etwa alle 7 bis 10 Tage, mal bei ihm, mal bei mir, ansonsten haben wir beinahe täglich Kontakt per Telefon oder Chat. Es dürften gerne noch ein, zwei Leute mehr sein, vor allem würde ich mir eine Art Arbeitszusammenhang wünschen, ein Projekt, oder ein Team, wo ich andocken kann und etwas Sinnvolles mache. Sporadisch sehe ich natürlich auch andere Leute, und mehr geht im Moment wahrscheinlich auch gar nicht, weil ich nach wie vor viel Zeit für mich brauche und wenig Kraft habe.
„Ich wünsche mir, dass Menschen Dinge mit mir unternehmen wollen, mich zum Beispiel einladen, sie irgendwohin zu begleiten.“ – Die Einladung für Pfingsten war schön, jetzt im Häuschen wird es auch Aktivitäten geben, die von Nachbarn oder der besuchenden Verwandtschaft ausgehen, außerdem haben sich eventuell Berliner Freunde für einen Kurzbesuch angesagt, und auch der hiesige Freund will mich treffen. Das passt schon.
„Ich wünsche mir einen Ort, an dem ich mich einbringen kann, ein Team, in dem ich arbeiten kann.“ – Da sehe ich aktuell wirklich kaum eine Perspektive. Ich bin aber nach wie vor offen und hoffe einfach, dass sich etwas Passendes ergibt.
„Ich möchte meine Arbeit bequem schaffen und so viel Geld verdienen, wie ich brauche.“ – Ich bin nach wie vor dabei, den Rückstau abzuarbeiten, sehe aber langsam Land. Geld ist noch knapp, momentan tauchen aber einige Projekte am Horizont auf, die hoffentlich dafür sorgen werden, dass das zweite Halbjahr finanziell etwas entspannter wird.
„Ich möchte einen inneren Dialog mit H. haben/ führen können. Ich möchte an einem Punkt sein, wo ich seinen Tod akzeptiere und darüber traurig sein kann. Ich möchte die Gefühle nicht mehr wegdrücken müssen.“ – Hier entwickelt sich alles wirklich gut. Natürlich gibt es Höhen und Tiefen, ich komme mit der Trauer nicht immer gleich gut klar, an manchen Tage ist es einfach höllenanstrengend. Aber ich habe mir einen Werkzeugkasten geschaffen, und ich habe Menschen, mit denen ich sprechen kann und die mich gut unterstützen. Am Grab kann ich innerhalb von Sekunden H.s Stimme heraufbeschwören, weinen und mit ihm Zwiesprache halten. Woanders gelingt mir das teilweise auch schon, und hier im Haus ist er permanent irgendwo im Hintergrund anwesend.
„Ich möchte, dass der ganze Verwaltungskram, der mit seinem Tod zusammenhängt, erledigt ist.“ – Hier bin ich noch nicht weitergekommen, es müssen noch Angelegenheiten in Bezug aufs Haus und seine Firma geregelt werden, ebenso wie die Gema-Sachen. Die wichtigen Dinge sind erledigt, der Rest drängt jetzt auch nicht.
„Ich hätte gerne einen Weg gefunden, die innere Anspannung anders loszuwerden als mit skin picking bzw. sie ganz aufzulösen.“ – Von ganz auflösen bin ich natürlich weit entfernt, aber das muss ich mir ja vielleicht auch nicht abverlangen. Bewegung und Yoga und Meditation konnte ich bisher nur sporadisch einsetzen – mir fehlt oft einfach die Kraft hierzu. Meditation und Mini-„Therapiesitzungen“ helfen auf jeden Fall, akuten Druck abzubauen.
„Es wäre toll, wenn meine Wohnung wieder wohnlich aussieht und nicht wie ein Lager.“ – Auch hier hat sich nochmal einiges verbessert. Es steht natürlich noch viel Zeug herum, aber man kann alles bequem nutzen, die Pflanzen sind wieder im Wohnzimmer, so dass der Küchentisch frei ist, und am Wohnzimmertisch kann man zu zweit sitzen, ohne vorher umbauen zu müssen.
Was bleibt zu tun?
Nach wie vor: Ich möchte gerne noch ein, zwei Menschen in meinem engeren Kreis haben. Ich bin offen für neue Bekanntschaften, lerne auch dauerndMenchen kennen (zum Beispiel auf dem Friedhof). Ich muss nun einfach Geduld haben, bis der oder die richtige dabei ist…
Und immer noch ist ein Ort, an dem ich mich einbringen kann, ein großes Bedürfnis. Ich versuche, Geduld und Zuversicht zu haben, dass sich etwas ergibt.
Ich möchte noch wesentlicher konzentrierter arbeiten können, um wieder mehr zu schaffen und halbwegs Geld zu verdienen.
Ich möchte mich besser an H. erinnern können. Es ist soviel verschüttet, weil mein Kopf voll ist und ich an vieles nicht herankomme. Ich möchte ihn dauerhaft in meiner Nähe spüren, und ich möchte liebevoll und mit einem Lächeln an ihn und die gemeinsame Zeit denken können.
Den Verwaltungskram werde ich jetzt endlich nach und nach erledigen, idealerweise bis Ende des Monats. Das muss doch zu schaffen sein…
Mehr Meditation, mehr Yoga. Wieder mehr spazieren gehen. Mal schwimmen? Oder radfahren? Mein Bewegungsdrang ist nicht mehr so groß, ich werde schon wieder faul. Dabei tut es mir unendlich gut…
In der Wohnung gibt es genug zu tun, dass ich je nach Lust und Laune weitermachen kann, sei es mit H.s Sachen, sei es mit meinem eigenen Kram. Das passt schon.
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Woran ich mich erinnern will:
Nach mehreren grauen Tagen endlich die Sonne wiedersehen.
What I did today that could matter a year from now:
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Was wichtig war:
Tun.
Sonne.
Bilder vom Grab bekommen.
Kontakte.
Begegnungsnotizen:
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