Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Der hundertsechsundsechzigste Tag im Danach: Tiefer Schmerz

11. Juli 2021. Sonntag. Gestern Abend beim Einschlafen durchzuckte mich plötzlich Todesangst, und ich saß bildlich senkrecht im Bett. Was war? Ein ungewohntes Geräusch? Eine seltsame Körperwahrnehmung? Ein Gedanke?
Einer meiner letzten Gedanken war das – mal wieder – Bewusstwerden der Ungeheuerlichkeit und Monstrosität der momentanen Situation: H. ist nicht mehr da. Und wird nie wieder da sein.

Ich schlief dann doch schnell ein, erinnere mich auch nicht an schlimme Träume, aber ich war die ganze Nacht unruhig, wachte auch mehrfach auf, jedes Mal mit einem heftigen Angstgefühl.
So auch heute morgen um 5:50 Uhr, 10 Minuten vor dem Weckerklingeln. Ja, ich stelle Sonntags meinen Wecker auf sechs Uhr, ich will nämlich was vom Tag haben, und da mein Tag gegen drei Uhr leistungsmäßig zu Ende ist, egal, wann ich aufstehe, stehe ich eben früher auf.

Also Angst. Ich möchte dieser Angst jetzt gar nicht so unbedingt auf den Grund gehen, sondern betrachte sie erstmal ein wenig skeptisch und distanziert und vorsichtig, so wie etwas, was man am Strand gefunden hat, und von dem man noch nicht weiß, ob es noch lebt und einen gleich anspringt, oder ob es schon tot ist und nur noch ein interessantes Anschauungsobjekt. Ich stecke sie erstmal in ein Glas, schraube den Deckel drauf und behalte sie aus dem Augenwinkel im Blick.

Ich sehne mich nach einem sehr, sehr langen Spaziergang. Nach Gedanken. Nach Ruhe.
Nach H. Er fehlt mir so, so sehr.
Endlich fließen die nötigen Tränen.

Ich gehe vormittags zum Friedhof, pflanze ein paar neue Blumen aufs Grab. Sonntag ist Friedhofs-Besuchstag, es sind etliche Leute mit Taschen voller Pflanzen unterwegs.
Ich sitze am Grab und weine lange und heftig. Wie sehr ich Dich vermisse!

Der anschließende Spaziergang über den Friedhof beruhigt mich heute nicht wie sonst, die Tränen fließen auf dem Heimweg weiter.
Kurz vor zu Hause treffe ich die Bekannte SP, wir sprechen kurz. Sie scheint unfähig, meinen Schmerz nachzuempfinden. Sie akzeptiert ihn, aber es ist nicht ihre Realität. Auch sie ist in sich und ihrem Leben gefangen, in ihrem Älterwerden, in gesundheitlichen Problemen, in ihrer Einsamkeit. Ich verdenke es ihr nicht.

Ich mache eine lange Pause, sitze im Sessel, esse, lese.
Dann kann ich mich immerhin doch noch aufraffen, die wichtigste Projektarbeit für einen Kunden zu erledigen.
Ansonsten lasse ich die Gedanken wandern. Die Traurigkeit kommt in Wellen.

Abends Reste von gestern essen (Bandnudeln, Fenchel, Räucherforelle). Im Fernsehen nebenbei „Wiedersehen in Howards End„.

Eine Nachricht von Freund B.: ‚Jemand da?‘ Ich antworte ‚Nicht wirklich. ich hatte enen schwierigen Tag.‘ Seine Antwort treibt mir wieder die Tränen in die Augen: ‚Soll ich Dich in Ruhe lassen oder willst Du reden?‘
Danke. Genau so.
Was habe ich in all dem Scheiß für ein Glück mit den Menschen um mich herum!

Noch lange geweint. Um H. Um mich. Um alles.

* * * * *

Woran ich mich erinnern will:
Weinen können.

What I did today that could matter a year from now:
?

Was wichtig war:
Rausgehen.
In der Erde wühlen.
Menschen meiden.
Ausruhen.
Arbeiten.
Weiterleben.

Begegnungsnotizen:
Zwei Frauen und ein Mann auf dem Friedhof (alle mit reichlich Abstand).
SB und ein Bekannter von ihr auf der Straße.

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