12. Juli 2021. Montag. Aufgestanden mit Wecker um 5:30 Uhr. Ich will morgens laufen gehen, und es soll warm werden. Feucht und drückend ist es schon früh.
Heute vor einem halben Jahr ist H. morgens um halb acht in meiner Küche zusammengebrochen. Im Grunde ist das für mich sein Todestag, denn es war das letzte Mal, dass ich mit ihm sprach, ihn im Arm hielt, seine Wärme spürte, alles „normal“ war.
Schmerz. Unbeschreiblicher Schmerz.
Das Laufen tut gut. Ich zähle Schritte. Für eine halbe Stunde alle anderen Gedanken aussperren. Nur Schritte zählen und den Minutenzähler im Blick behalten. Ich laufe in festgelegten Intervallen: Eine Minute gehen, anderthalb Minuten laufen, immer im Wechsel. Disziplin. Struktur. Sicherheit.
Freund B. ruft an, er ist besorgt, bricht dann aber wiederum das Gespräch nach guten zehn Minuten ab, weil er sich überzeugt hat, dass ich nicht selbstmordgefährdet sondern einfach nur traurig bin. Einen Sinn, jetzt irgendwie einfach nur herumzuquatschen, sieht er nicht.
Wie anders waren die Gespräche mit H., wo ich teilweise endlos erzählte – und er mich ließ, auch wenn ihn die Hälfte oder mehr davon eigentlich nicht interessierte. Aber er spürte, dass ich das im Moment brauche und ließ mich gewähren.
Und wieder weine ich heiße Tränen über den Verlust und den doch sehr mangelhaften „Ersatz“, den mir Freunde bieten (können).
Mails, Projektplanung, Imbiss, Einkauf.
Auf dem Weg sinniere ich über TSO. Die Gefühle, die ich für ihn hatte, habe ich nun irgendwo tief eingeschlossen, sie beeinträchtigen nicht mehr meinen Alltag. Fort sind sie nicht, ich wünsche mir nach wie vor, ihn zumindest besser kennenzulernen, ihm näher zu kommen. Nicht zuletzt, um herauszufinden, ob das Bild, das ich mir in kurzen Begegnungen in einer besonderen Lebenssituation von ihm gemacht habe, der Realität entspricht.
Aber auch hier tut sich nichts, der vor bald drei Wochen angekündigte Anruf blieb bisher aus.
Überall nur Verlust und Mangel.
Interessanterweise wandelt sich im Laufe des Tages ganz unmerklich meine Stimmung. So, wie sich die Traurigkeit vor ein paar Tagen in mein Denken und Fühlen schlich, so stiehlt sie sich nun langsam wieder davon, verkriecht sich in ihr Zimmer und zieht leise die Tür hinter sich zu.
Nachmittags bin ich ganz entspannt und wieder bedeutend zuversichtlicher, beim abendlichen Chat mit Freund B. geradezu albern und ausgelassen. Das kann ja für ihn auch nicht einfach sein…
H.s Cousine schickt mir ein Buch, das sie im örtlichen Bücherschrank entdeckt hat. Ich freue mich sehr darüber.
Kurzes Nachdenken über derartige unerwartete Geschenke: Man entdeckt den dicken Briefumschlag im Briefkasten, liest den Absender, weiß, das ist etwas Unerwartetes, eine kleine Überraschung, ein anderer hat an einen gedacht. Große Freude und Dankbarkeit, noch bevor man weiß, was es ist. Im selben Moment Panik: Denn dieses unerwartete Geschenk verlangt, dass ich zeitnah Kontakt aufnehme, mich bedanke, zum Ausdruck bringe, dass ich mich darüber freue. In Zeiten, wo jede Kontaktaufnahme und Kommunikation ein Kraftakt ist, mutiert die gut gemeinte Geste zum Übergriff, denn sie zwingt mich zu etwas, zu dem ich mich vielleicht nicht in der Lage fühle. Andererseits halten mich diese kleinen Gesten am Leben und halten die Hoffnung auf ein „Danach“ im Kreise wohlmeinender Menschen aufrecht.
Es ist kompliziert.
Um vier schaffe ich es tatsächlich noch, anderthalb Stunden Projektarbeit zu erledigen. Das überrascht mich selber, denn das Energielevel ist eigentlich schon ziemlich am Boden. Die Gehirnwindungen, die fürs Programmieren zuständig sind, haben aber anscheinend noch Kapazitäten.
Ich will morgen mal nach meinem Rad fragen und erkunde prophylaktisch schon mal Routen, die mich zu Freund B. führen. Ich weiß aber nicht, ob ich mir nach mehr als 15 Jahren Pause gleich mal die einstündige Tour quer durch die Stadt zumuten soll. Vielleicht auch hier erstmal üben, das Rad neu kennenlernen, Muskeln, Hintern und Reaktionsvermögen an die ungewohnte Fortbewegungsart gewöhnen? Außerdem soll es ja noch heißer werden, 32 Grad sind für morgen angesagt, dazu feuchte Luft, da sollte ich mich lieber nicht überanstrengen.
Zum Abendbrot Burrata und Salat und Weißbrot, das ich nach H.s Art toaste, eine Knoblauchzehe darauf verreibe, mit Butter bestreiche und mit Salz bestreue. Das hat er so in Spanien kennengelernt, und wir haben das beide geliebt.
* * * * *
Woran ich mich erinnern will:
Wenn langsam wieder die Zuversicht wächst
What I did today that could matter a year from now:
Gedanken denken.
Was wichtig war:
Laufen gehen.
Immer wieder den Plan ändern.
Sprechen.
Ein Geschenk erhalten.
Geschenke für andere planen.
Nochmal nachfragen.
Weiter hoffen.
Begegnungsnotizen:
Menschen im kleinen Supermarkt.