Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Der hundertsiebzigste Tag im Danach: Aufräumen

15. Juli 2021. Donnerstag. Der Tag beginnt nach fünf Stunden Schlaf mit einer heftigen Angstattacke und Matschkopf.

Er geht weiter mit einem Anruf von P., der sich gerade wieder ins Krankenhaus bringen lässt, weil die Lunge komplett verschleimt ist.
Mir sinkt sofort das Herz in die Hose. Nicht jetzt das. Dann die ersten Gedanken: Dann fällt der Geburtstag wohl aus. Hoffentlich muss ich nicht wieder durch die Gegend gurken, um Sachen zu bringen. Und was ist mit meiner geplanten Fahrt nach K. nächste Woche?
Dann schäme ich mich, dass ich nur an mich denke, anstatt mir Sorgen zu machen. Aber was würden Sorgen nützen?

Meine morgendliche Angst geht einher mit einer großen Verwirrtheit und Überforderung nach all den vielen Begegnungen gestern.
Das war definitiv zuviel, zumindest emotional. Andererseits war es so, so wichtig.

Schon unter normalen Umständen hätte dieser Tag mich „gekillt“.
Aber damit habe ich gerechnet, und es ist okay. Es war ja auch ein Experiment: Würde dieses massive „Socializing“ mit immerhin „sicheren“ Menschen den Break verursachen, von dem ich mir eine Erleichterung oder Veränderung im Denken und Empfinden erhoffe?

Ob das Experiment erfolgreich war, wird sich zeigen; morgens überwiegen die negativen Folgen: Ich habe Angst. Ich bin extrem dünnhäutig. Die Gedanken rasen und springen. Ich habe große Sehnsucht nach einer Schulter zum Ausweinen. Überhaupt Sehnsucht. Und weinen.

Diese Angst in meinem Bauch. Körperliche Symptome: Herzrasen, Knoten im Magen, Hitzewallungen, Kopfschmerzen, brennende Augen, Atembeschwerden, Enge in der Brust, aufwallende Tränen.

Ich möchte schreiben, schreiben, schreiben, nichts als schreiben. Alle Gedanken und Bilder aus meinem Kopf herausströmen lassen. Und dann weinen. Alles raus. Leer werden. Ruhe finden.
Aber die Leere ist keine gute Ruhe. Kein Frieden, kein In-sich-Ruhen. Die Leere ist Abwesenheit von allem, auch von allem, das schön ist und wärmt und nährt. Die Leere ist Tod.

Also schreibe ich. Und weine. Heftig und lang. Greine, heule.
Ich möchte schreien. Ich möchte in den Arm genommen werden, mich ausweinen. Getröstet werden.

H. konnte mich nie gut trösten, wenn ich geweint habe.
„Nimm mich einfach in den Arm“ sagte ich dann, „Du musst gar nichts sagen oder tun, halt mich einfach fest.“
Und das tat er, und es wurde ganz schnell wieder gut.
Weil ich seine Wärme spürte und seine Gewissheit, seine Stärke, seine Liebe.
Und dann redeten wir. Wir sind beides Kopfmenschen und wir haben das Problem analysiert und Lösungen gesucht.

Aber dazu habe ich jetzt keine Kraft. Was soll ich auch analysieren? Die Situation ist ja klar, ich muss da jetzt eben durch.
Und die Erinnerung an ihn löst einen neuen Weinkrampf aus.

In meinem Schmerz, inmitten all dieser Tränen kommen mir Bildideen. Bilder, mit denen ich meine Gefühle ausdrücken könnte. Keine genialen Sachen, das meiste sind schreckliche Klischees, aber vielleicht finde ich da doch zu einer eigenen Interpretation, die mir helfen könnte, mich künstlerisch auszudrücken?

Irgendwann bin ich erschöpft. Watte im Kopf, nichts geht mehr. Darin liegt auch eine Erleichterung: Nichts mehr müssen. Surrender. Annehmen. Nicht mehr kämpfen müssen. Müde. Schlafen. Stille. Wenigstens für den Moment. Nicht Frieden aber zumindest Abwesenheit des Geschreis in meinem Kopf.

Und ich schreibe noch ein bisschen. Und noch ein bisschen mehr.
Vier Stunden schreibe ich, dann ist es Mittag, aber ich bin ruhig. Und zuversichtlich. Ich spüre, wie gut mir bestimmte Dinge gestern getan haben: Die Vertrautheit mit Freund G. Die Sicherheit. Die Wärme. Und wie in all dem gleichzeitig Platz ist für meine Trauer um H. und um meinen großen Verlust, aber auch für Zuversicht und Albernheit und Lachen. Freundschaft.
Und ich bin unendlich dankbar.

Und dann lese und höre ich von den schrecklichen Überschwemmungen in der Eifel und in Nordrhein-Westfalen, und ich denke, an Schuld bin ich doch eben im Juni noch vorbeigefahren, und ich sehe das Ahrtal vor mir und denke: Wie schrecklich. Und: Gut, dass H. das nicht mitbekommen muss.
Und dann höre ich, dass der Zugverkehr ausgesetzt ist und denke: Bis Ende nächster Woche wird das doch wieder laufen, das wird unsere Fahrt nicht verhindern. Aber wer weiß, was mit P. ist, vielleicht muss ich doch hierbleiben.
Und dann mache ich mir Sorgen, weil P. sich noch nicht gemeldet hat. Hoffe, dass es einfach nur die Krankenhausabläufe sind und kein Hinweis auf ein schlimmes Geschehen.

Erledige ein bisschen Orga-Kram. Arbeite ein Stündchen. Denke ein wenig nach. Arbeite noch ein halbes Stündchen. Sehe Fotos durch, die ich eventuell bei einem Fotowettbewerb einreichen möchte. Schreibe, lese, denke nach. Drehe ein bisschen durch, weil sich meine Gedanken nur im Kreise drehen und nirgendwo hinführen. Beginne, das Wohnzimmer aufzuräumen, die letztens bestellten Klamotten auszupacken und anzuprobieren. Zu saugen.

Zwischendrin ruft P. an, er hat acht Stunden in der Notaufnahme gewartet. Und dort nichts zu essen bekommen. Als Diabetiker. Wie ist so etwas in einem Krankenhaus möglich? Nun gab es „zwei Brote mit alter Wurst“. Immerhin hat er ein Einzelzimmer. Privatpatienten-Status? Oder Vorsichtsmaßnahme wegen Covid?

Ich will mir zum Abendbrot ebenfalls Brote machen, muss aber feststellen, dass fast das ganze Brot seit gestern verschimmelt ist. Das ist diese widerwärtige Luftfeuchtigkeit im Moment. Alles, was nicht im Kühlschrank ist, vergammelt, man kann beinahe zusehen. Ich könnte heulen, als ich das Brot wegwerfe, da ist nichts mehr zu retten.
Ich mümmele die letzte Scheibe als Abendbrot, es ist alles so unsäglich schwer und traurig.

* * * * *

Woran ich mich erinnern will:
Innere Ruhe nach exzessivem Schreiben. Selbstberuhigung funktioniert, ist aber unglaublich zeit- und kraftaufwändig.

What I did today that could matter a year from now:
Mich auf meine kreativen Bedürfnisse einlassen, zumindest mal gedanklich.

Was wichtig war:
Nachdenken.
Schreiben.
Beruhigen.
Weinen.

Begegnungsnotizen:
‚-

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