Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Der hundertsechsundachzigste Tag im Danach: Wieder allein

31. Juli 2021. Samstag. Wecker um 7:00, ich bin kurz vorher wach und mache ihn aus, bevor er klingeln kann.

Heute ist Freund B.s Abreisetag, und ich bin zwiegespalten, wie es mir damit geht: Ich bin froh, mich nicht mehr dauernd seinetwegen unwohl zu fühlen oder mir dauernd Gedanken um ihn machen zu müssen. Andererseits wird es mir fehlen, jemanden im Haus zu haben. Und seit ein paar Tagen steigt der Verlustschmerz um H. in mir auf, der wird sich natürlich Bahn brechen, wenn ich alleine bin. Andererseits: Ungestört weinen zu können, ohne mich erklären oder B.s Umarmungen ertragen zu müssen (oder erklären zu müssen, warum ich von ihm jetzt nicht umarmt werden möchte), könnte auch gut tun.

Also nehmen wir ein letztes gemeinsames Frühstück im Garten ein, wo es recht windig ist, sitzen ein letztes Mal gemeinsam in der Sonne auf der Terrasse, versuche ich ein letztes Mal, ein Gespräch in Gang zu bringen bzw. zu halten.
B. ist nervös, also bin ich extra nett und ruhig. Ich vermisse H., der das Ganze vermutlich noch durch irgendwelchen Blödsinn aufgelockert hätte.

Wir fahren früh genug los, sitzen dann nochmal eine halbe Stunde auf einer Bank an einem Blumenbeet vor der Kirche am Bahnhof und starren auf den Verkehr.
Was war das immer für ein fröhliches Geplauder mit H. – oder wenigstens ein angenehmes, einvernehmliches Schweigen. Er fehlt mir so sehr…

Dann gehen wir endlich zum Bahnhof, zum Gleis, warten noch wenige Minuten, der Zug kommt, B. steigt ein, stellt seinen Rucksack und den Gitarrenkoffer ab, die Türen schließen sich, und er schaut nicht einmal auf, winkt noch nicht mal ein letztes Mal. Der Zug fährt, ich hebe die Hand, vielleicht schaut er ja doch noch, ich kann es durch die spiegelnde Scheibe nicht sehen. Was für ein armseliger, fürchterlicher Abschied.

Fast sofort spüre ich die Tränen aufsteigen, die mir seit ein paar Tagen im Hals sitzen. Aber nicht hier, nicht jetzt. Ich drücke sie weg.
Gehe zurück zum Einkaufszentrum, fahre hoch zum Supermarkt, erledige ein paar Einkäufe und nehme mir auf dem Rückweg ein Spießbratenbrötchen mit.
Nicht, dass ich besonderen Appetit darauf hätte, aber wir hätten das gemacht, wäre ich mit H. unterwegs gewesen.

Ich hatte den halben Morgen gehadert, was ich heute machen soll, nachdem ich B. in den Zug gesetzt habe. Was hätten H. und ich zusammen gemacht? Es gibt mehrere Möglichkeiten: Einen Stadtbummel gemacht, Einkäufe erledigt und in irgendeinem Imbiss zu Mittag gegessen. Oder einen kleinen Ausflug mit der Bahn, irgendwo noch etwas spazieren gehen, an einem Flüsschen oder im Weinberg.
Nach beidem steht mir nicht der Sinn, also entscheide ich mich für Option 3, die auch nicht unwahrscheinlich gewesen wäre: Schnell die nötigen Einkäufe erledigen und dann heim fahren, weil das Wetter gut und jede Menge im Garten zu tun ist – und schließlich ist man in der Woche mit dem Besuch im Haus ja zu nichts gekommen…

Kurz vor halb eins sitze ich also wieder im Bus, der mich hoch ins Dorf bringt.
Zu Hause räume ich die Einkäufe weg, stelle die Waschmaschine an, schreibe ein wenig, überlege, wie es jetzt weitergehen soll mit dem Tag.

Ich bin ziemlich durchgedreht, weiß nicht, was ich will, was H. tun würde, was ich tun würde, wenn H. da wäre, was ich jetzt tun soll usw. In meinem Kopf dreht sich ein Karussell, immer schneller und schneller.
Ich schreibe an paar Chat-Nachrichten – an Freund B., von dem ich weiß, dass er sie unterwegs nicht lesen kann, weil er sein Telefon durch dreimalige Eingabe der falschen PIN gestern Abend außer Gefecht gesetzt hat, und an Freundin B., die heute ebenfalls im Zug nach Berlin sitzt, nachdem sie ein paar Tage bei ihrer Schwester verbracht hat.

Ich zwinge mich, das Spießbratenbrötchen zu essen, dabei beiße ich mir den Zahn halb aus, der eh schon etwas lose sitzt. Weine wieder. Halte innere Zwiesprache mit H., was ich nun tun soll: Was er tun würde, wenn er jetzt hier wäre? Was ich tun würde, wenn er jetzt hier wäre? Was ich gerne jetzt tun möchte (keine Ahnung, was das sein könnte)? Was ansteht und getan werden muss?

Ich bin ziemlich durchgedreht, denke nach, schreibe auf.
Schreibe noch eine Nachricht an Freund B., während ich draußen Kaffee trinke und Kuchen von gestern esse und mich fast ein bisschen normal fühle.

Kurz vor fünf mache ich mich an die Gartenarbeit und mache einen Teil der Ecke hinter der ausgegrabenen Wurzel sauber. Dabei schneide ich reichlich von einem Strauch ab, was mir ein wenig leid tut, denn das ist jetzt ja die komplett falsche Zeit für einen Schnitt, aber der Nachbar guckte neulich schon so seltsam, und unser Garten wächst schon einen halben Meter durch seinen Zaun, das geht nun wirklich nicht.

Um sieben ruft Freund B. an, der gerade nach Hause gekommen und ziemlich erschlagen ist.
Anschließend räume ich draußen noch auf und halte ein Schwätzchen mit der türkischen Nachbarin, die gerade auch große Sorgen hat (Sohn im Krankenhaus, ein junger Verwandter gestorben, außerdem die schweren Brände in der Türkei). Sie schenkt mir eine Schüssel Brombeeren, die ausgesprochen lecker sind.

Ich schreibe noch etwas, dann mache ich mir Essen, esse im Garten (nochmal Nudeln mit Tomatensoße), trinke Wein dazu, denke nach. Ich fühle mich sehr, sehr einsam.
Ich fühlte mich auch mit Freund B. einsam, weil ich nicht wirklich mit ihm rede konnte, aber da war wenigstens ein menschliches Wesen in der Nähe und prinzipiell ansprechbar. Jetztmüsste ich mir Kontakt erst wieder mühsam suchen, dazu bin ich zu erschöpft.
H. fehlt mir so, so sehr…

* * * * *

Woran ich mich erinnern will:
Bei der Gartenarbeit vorübergehend mein Leid vergessen und eins sein mit mir, dem Garten und dem Leben. Brombeeren geschenkt bekommen.

What I did today that could matter a year from now:
?

Was wichtig war:
B. zum Zug bringen
In der Stadt sein.
Weinen.
Schreiben.
Die Arbeit sein lassen und mich um mich kümmern.
Gartenarbeit

Begegnungsnotizen:
Freund B.
Nachbarin M.
Menschen im Bus, im Supermarkt und im Einkaufszentrum

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2 Gedanken zu “Der hundertsechsundachzigste Tag im Danach: Wieder allein

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