Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Der dreihundertdreiundvierzigste Tag im Danach: Dem Leben eine Richtung geben

4. Januar 2022. Dienstag. Ein Neustart hier, ohne zu wissen, wohin er mich führen wird.
Wo doch gerade Richtung und Ziele und (neuer) Inhalt mein Thema sind.
Währenddessen banges Herumschleichen um den Kalender, Abwehren von Erinnerungen an letzte gemeinsame Tage um diese Zeit vor einem Jahr.
Fun Fact: Ich habe eine solche Angst vor dem Januar und den Erinnerungen, die er bringen mag, dass ich das Datum nicht schreiben kann. 1.1.2022 ging noch problemlos, seitdem schreibe ich: 2.2.2022, 3.2.2022, 4.2.2022. Ich will diesen Monat nicht.

Die Tage seit Silvester seltsam glücklich und ausgeglichen gewesen: Mit mir und der Welt im Reinen. Gestern um exakt 17:55 Uhr ein Mini-Zusammenbruch. Ich denke an TSO, und mir kommen die Tränen (zu ihm habe ich in diesem vergangenen Jahr ein etwas kompliziertes Verhältnis aufgebaut, zu dem ich vielleicht an anderer Stelle mehr schreiben werde). Merke nach wenigen Minuten: Um ihn geht es eigentlich gar nicht. Dann 20 Minuten lang Fotos von H. angeschaut und bitterlich geweint. Dann musste ich mich anziehen, weil ich mit den Freundinnen B. und E. verabredet war, E. war seit langer Zeit mal wieder in Berlin.
Ich komme runter, B. steht vor meinem Haus, ich putze mir nochmal die Nase. B. weicht entsetzt zurück: „Bist Du etwa erkältet?!“ – „Nein, ich habe nur gerade eine halbe Stunde geheult…“ – „Na, Gott sei Dank!“
So absurde Zeiten sind das.
Wir kommen schnell ins Lachen, ich bin in einer etwas albern-kratzbürstigen Stimmung mit einem Hang zu geschmacklosen und bösartigen Witzen. Es wird ein schöner Abend mit uns dreien und zum x-ten Mal bin ich so unendlich dankbar für all die wunderbaren Menschen in meinem Leben.

Wieder mal fällt es mir schwer, mich zur Arbeit zu motivieren. Das ist keine Auswirkung der Trauer, ich habe einfach von Zeit zu Zeit Projekte (aktuell drei Stück), die sich endlos hinziehen und zu denen ich dann immer weniger Lust habe, gerade auch, weil die letzten zehn oder zwanzg Prozent Arbeit sich endlos ausdehnen und unangemssen viel Zeit und Energie beanspruchen. Und ich bin immer weniger dazu bereit, meine kostbare Zeit für solches Zeug zu opfern. Ein Dilemma, für das ich eine Lösung finden muss.

Nachmittags Termin bei der Trauerbegleiterin. Unsere gemeinsame Zeit neigt sich wohl langsam dem Ende zu, ich habe den Eindruck, dass ich meine nächsten Schritte mit anderen Menschen gehen muss, etwa mit Coach A. oder mit einer Trauergruppe. Im Moment hänge ich aber noch an ihr, schließlich hat sie mich jetzt acht Monate begleitet, kennt mich, weiß um meine Mechanismen. Weil die nächsten Wochen nochmal schwierig werden, bleibe ich noch bei ihr. Sie ist für den verlustorientierten Teil der Trauerarbeit zuständig. Bei ihr kann ich mich ausweinen und am Ende der Stunde den Raum mit einem schwarz-humorigen, selbstironischen Scherz verlassen, der uns beide zum Lachen bringt. Sie hat mir geholfen, meinen Werkzeugkasten zu füllen und mich mit dem Running Gag „Atmen, Anna-Mathilde!“ versorgt (ich neige dazu, in Momenten großer Anspannung die Schultern hochzuziehen und die Luft anzuhalten).

Nebenbei notiere ich Gedankenschnipsel in ein dickes Buch. Dabei geht es um Ideen, Pläne, Vorhaben – etwas, was ich mir nur vorsichtig und ängstlich langsam wieder erlaube. Ich muss das neu lernen: Über den heutigen oder morgigen Tag hinaus Pläne machen im Vertrauen darauf, dass die beteiligten Personen bis dahin noch am Leben und bei guter Gesundheit sind, um die Pläne auszuführen.

Also fange ich mit Plänen an, die erstmal nur mich betreffen:
Dass ich vielleicht Dinge in meiner Wohnung verändere (was mir lange undenkbar erschien, ich bewahrte mein Leben mit H. wie einen Schrein – erst im Sommer konnte ich Dinge vom Wohnzimmertisch nehmen, die dort seit Januar lagen).
Wie ich meine Arbeitsweise und organisatorische Abläufe verändern kann.
Was ich mir insgesamt von diesem neuen Jahr wünschen könnte.
Wie ich mich (noch) besser um mich kümmern, für mich sorgen kann.

Allein das macht schon eine Höllenangst.
Aber auch Lust. Und Vorfreude. Aufbruchstimmung.
Ich heile.

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2 Gedanken zu “Der dreihundertdreiundvierzigste Tag im Danach: Dem Leben eine Richtung geben

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