6. Juni 2022. Pfingstmontag. Ich hadere mit meinem Zeitempfinden: Im Kleinen ziehen die Dinge sich ewig, im Großen rast die Zeit vorbei. Dieses Empfinden teilen viele Menschen im mittleren Lebensalter, und auch ich habe dieses Gefühl schon viele Jahre.
Durch H.s Tod ist eine neue Dimension dazugekommen (oder nur stärker ins Bewusstsein getreten): Ein ausgeprägtes Gefühl für die eigene Vergänglichkeit.
Dass schon wieder die erste Woche im Juni vorbei ist, bedeutet nicht nur „Herrje, wo bleibt denn die Zeit?! Ich wollte doch eigentlich schon längst xy erledigt und z getan haben!“. Sondern es heißt nun noch: „Schon wieder eine Woche verschwendet, ich wollte doch meine Lebenszeit besser nutzen! Ich wollte doch… (mehr Leute treffen, öfter spazierengehen, mehr Zeit einem geliebten Hobby widmen – was auch immer) statt immer nur demselben Trott zu folgen.“
Dieses Gefühl, mein Leben nicht zu leben wird immer drängender, je weiter die Zeit voranschreitet.
Daraus entsteht ein ungeheurer Druck: Leben! Jede Minute auskosten! Ja sagen zu allem, was da kommt! Rausgehen, Menschen treffen, reden, x und y und z tun!
Nun muss ich „nebenbei“ aber auch arbeiten und meinen Lebensunterhalt verdienen. Meinen Haushalt wenigstens notdürftig in Schuss halten. Gefühlt 800 Kartons mit Kram aussortieren und loswerden (alte Sachen von mir, H.s Sachen, Sachen aus dem Häuschen, das die Schwester geerbt und verkauft hat).
All diese Dinge empfinde ich jetzt gerade nicht als „mein Leben leben“. Sie sind aber wichtig und brauchen Zeit und Kraft. Da bleibt fürs Leben leben gerade wenig übrig, und das frustriert mich ohne Ende und ich finde aus diesem Dilemma keinen wirklichen Ausweg:
Eine Woche rum und ich habe nur am Computer gesessen und gearbeitet, geräumt und geputzt, ein wenig geschrieben und viel ausgeruht – das soll es jetzt gewesen sein? Darauf schaue ich zurück, wenn ich morgen den Löffel abgebe? Das kann es doch nicht sein???!!
Diese Gefühle haben natürlich viele Menschen, aber mir ist dabei schmerzlich bewusst, dass mein Leben eben wirklich im nächsten Moment vorbei sein kann, das ist das Trauma von H.s plötzlichem und überraschenden Tod. Mein Gefühl der Zeitverschwendung richtet sich nicht auf eine ferne, unbestimmte Zukunft, sondern auf heute Nachmittag, morgen, nächste Woche. Ich muss JETZT das Ruder herumreißen, sonst ist es vielleicht zu spät.
Das Gefühl ist nicht nur diffuse Unzufriedenheit, sondern hat eine ganz extreme Dringlichkeit. JETZT! SOFORT! Lass die Arbeit liegen und tue stattdessen lieber x. Lass das schmutzige Geschirr stehen und beschäftige Dich lieber mit y. DU HAST VIELELICHT KEINE ZEIT MEHR!
Das ist ein nahezu unerträglicher Druck.
Liebe Anna, ich habe heute früh einen Film gesehen und dabei an dich gedacht.
Liebe Grüße, Reiner
Jetzt machst Du mich neugierig: Was war das denn für ein Film?
Es geht um einen Vater, der sein Kind verloren hat, sich in seiner Trauer von seiner Frau getrennt hat, sich total aus der Gegenwart zurückzieht und auch sein Geschäft vernachlässigt. Er schreibt Briefe an die Zeit, an die Liebe, an den Tod, diese fallen seinen Kollegen/Teilhabern/Angestellten in die Hände. Diese zweifeln an seiner Geschäftsfähigkeit und engagieren vermeintlicheTheaterleute, in die Rolle von Tod, Zeit und Liebe zu schlüpfen und ihm zu antworten. Und so nimmt der Film seine Lauf , ich will nicht weiter spoilern 😉
Oh, das klingt sehr interessant! – Wie heißt der?
„Verborgene Schönheit“, mit Will Smith
Danke!