Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Arbeits(un)fähig

7. Juni 2022. Dienstag. Es fällt mir nach wie vor schwer, einen „normalen“ Arbeitstag durchzuhalten.

Nach H.s Tod habe ich mir keine Auszeit genommen, denn keine Arbeit bedeutet kein Geld, und Geld ist sowieso immer knapp und mit all den Zusatzausgaben nach seinem Tod dann ohnehin. Glücklicherweise trug die Schwester die finanzielle Hauptlast, aber auch für mich blieb einiges übrig.
Außerdem half es mir, erstmal möglichst viel aus meinem bisherigen Leben beizubehalten, um das Gefühl völliger Zerstörung etwas abzumildern.
Ich arbeitete also weiter, übernahm sogar zusätzlich noch einfache Arbeiten für seine Kunden bis dort ein Ersatz gefunden war.

Was ich sehr schnell feststellte: Trauer ist ein Zeit- und Energiefresser. Kopf und Seele müssen sich an die neue, grundlegend veränderte Situation anpassen. Der Todesfall wird rein physiologisch als existenzielle Bedrohung erlebt und erzeugt entsprechende Stress-Symptome im Körper. Die Gedanken beschäftigen sich permanent mit dem Ereignis, versuchen, es zu begreifen, einzuordnen und zu verarbeiten. Die Seele geht ihren eigenen Weg in ihrem eigenen Tempo und versucht letztendlich aber dasselbe. Ich hatte sehr lange kein Hungergefühl und noch viel länger keinen Appetit. Ich habe extrem schlecht geschlafen.

All das kostet unglaublich viel Energie und Kraft.
Für längeres, konzentriertes Arbeiten war da nicht mehr viel übrig.

Bis heute (mehr als 16 Monate später) bin ich nicht zu der Arbeitsfähigkeit zurückgekehrt, die ich „vorher“ hatte. Denn nach wie vor wandern die Gedanken zu anderen Dingen, umkreisen sie, beißen sich an ihnen fest. Die Themen variieren im Laufe der Zeit, aktuell geht es um Zukunftsängste: Was ist, wenn ich schwer krank werde – wer kümmert sich dann um mich? Was ist, wenn meine Eltern schwer krank oder pflegebedürftig werden oder sterben – wer unterstützt mich dann? Wen habe ich im Alter, wenn ich nicht mehr so mobil bin?

Die Gedanken kreisen um die Vergangenheit, die Gegenwart, die (mögliche) Zukunft. Alles wird neu betrachtet, neu bewertet, neu gedacht.
Und das intensivst.
Das kostet Kraft und Energie.

Und ebenso kostet es unglaublich viel Kraft und Energie, die Gedanken dann immer wieder einzusammeln, zu ordnen und mich auf eine andere Sache zu konzentrieren, wie etwa ein Kundenprojekt – denn nichts interessiert meinen Kopf und meine Seele momentan weniger als die Frage, ob auf einer Website ein Text bündig zu einem Bild steht oder ob die Abstände vor und nach dem Bild gleich groß sind.

Wenn ich am Tag zwei Stunden bezahlte Projektarbeit gemacht habe, bin ich schon zufrieden. Darunter ist es ein „normaler“ Tag, darüber ein Supertag. (Dazu kommt natürlich nochmal etwa dieselbe Zeit für nur indirekt bezahlten Organisationskram, also Telefonate, Mails, Angebote, Rechnungen, Buchhaltung, Projektorganisation, Updates usw.)

Zwei Stunden am Tag, meist weniger. Und diese zwei Stunden Netto-Arbeitszeit kosten mich meist vier bis fünf Stunden realen Zeitaufwand, weil ich mich oft nur zwanzig, fünfundzwanzig Minuten am Stück konzentrieren kann, dann muss ich eine Viertelstunde weg vom Rechner und etwas anderes machen. Das andere darf aber weder zu interessant sein, noch meine Gedanken zu sehr wandern lassen, denn sonst finde ich ganz schwer und nur mit großem Kraftaufwand wieder zur eigentlichen Arbeit zurück. Es darf aber auch nicht zu anstrengend oder ermüdend sein, sonst ist die Konzentration gleich ganz flöten. Und zu erholsam sollte es auch nicht sein, sonst kann ich mich gar nicht mehr aufraffen, an den Rechner zurückzukehren.
Besonders produktiv bin ich in diesen vier bis fünf Stunden also nicht, und alles ist furchtbar anstrengend.

Diese ganze Situation erzeugt natürlich Druck:
Es ist Kunden schwer zu vermitteln, warum Projekte, die früher zwei bis drei Wochen gebraucht haben nun nach sechs Wochen noch nicht fertig sind – selbst, wenn diese Kunden meine Situation kennen.
Ich bin frustriert, dass es mir so selten gelingt, die Kontrolle über meine Gedanken zu behalten und die Kräfte in eine bestimmte Richtung zu lenken.
Weniger schaffen bedeutet weniger Geld verdienen. Weniger Geld bedeutet Existenzsorgen.
Diese ganze Qual, immer wieder zum Arzt zu gehen und mich krankschreiben zu lassen (ich habe durch H.s Krankenhausaufenthalt ein Trauma in Bezug auf Ärzte und Wartezimmer), dann zum Amt zu rennen, um das bisschen Krankengeld aufzustocken, stresst mich mehr als die Geldsorgen, deshalb lasse ich es und wurschtele mich irgendwie durch, bekomme auch etwas Unterstützung von Familie und Freunden.
Ich habe Angst, dass das noch sehr lange andauert – und vielleicht nie wieder wird wie früher.

Auch dieser Druck, die Sorgen, die Frustration binden Kraft und Energie.
Ein Teufelskreis.

Der Ausweg?
Babyschritte.

Ich muss Geduld mit mir selbst haben, anerkennen, dass ich immer noch dabei bin, das Ereignis und alles, was damit zusammenhängt zu verarbeiten. Dieses Anerkennen reduziert den selbstgemachten Druck, irgendwas schaffen zu müssen, „weil es doch früher ging“.

Ich nehme aktuell keine neuen Aufträge an, sondern konzentriere mich darauf, meine Stammkunden zu betreuen.

Ich kommuniziere sehr offen und transparent mit diesen Stammkunden, so dass sie die Situation verstehen und ihrerseits Projekte längerfristiger planen als früher.

Ich versuche es jeden Tag aufs Neue und versuche, jeden Tag mein Bestes zu geben. Was gestern war, spielt heute keine Rolle, es zählt die nächste Stunde. Und die nächste und die nächste.
Ich versuche, mich nicht entmutigen zu lassen, wenn es nicht geht. Eine kleine Pause und dann ein neuer Versuch.

Ich nutze die Pausen zwischen den Arbeitseinheiten, um Sachen durchzusehen und auszusortieren. Harmlose Sachen, von denen ich weiß, dass sie keine Erinnerungen und keinen Verlustschmerz triggern. Oder für leichte Hausarbeit. Gespültes Geschirr wegräumen, Blumen gießen, bügeln. So habe ich am Ende des Tages sichtbare Ergebnisse und fühle mich in meinem Umfeld ein klein wenig wohler.

Ich schaue mehrmals am Tag auf mich und meine momentane Gefühlslage: Wie geht es mir im Moment? Was brauche ich, was würde mir jetzt in diesem Augenblick gut tun? Und nach Möglichkeit mache ich das dann, denn so erhalte ich mir am besten meine Kraftreserven bzw. kann die Akkus wieder etwas aufladen.

Ich baue viele Puffer in meine täglichen Pläne und To-Do-Listen ein. Liste alternative Tätigkeiten auf: Wenn Du das nicht schaffst, dann vielleicht dies? Schreibe Dinge auf, die einfach sind oder mir Spaß machen, so dass der Blick auf die Liste nicht nur Druck macht.

Ich versuche, mich auszutricksen: Sage ‚ich möchte gerne xy tun, weil…‘ statt ‚ich muss xy tun, sonst…‘. Verspreche mir kleine Belohnungen bei Erreichen irgendwelcher (schaffbaren) Zwischenziele.

Durch all diese Maßnahmen schaffe ich nicht mehr, aber wenigstens kontinuierlich das Wenige, was geht. Und ich reduziere vor allem den selbstgemachten Druck.
Anders geht es im Moment nicht – und ich fürchte, das wird noch für eine ganze Weile so bleiben.

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