8. Juni 2022. Mittwoch. Die Eltern werden zunehmend schwach und gebrechlich. Als Einzelkind geschiedener und getrennt lebender Eltern ohne neue Partner, hängt die Verantwortung für beide komplett an mir allein.
H. hatte mir versprochen, mich zu unterstützen, „wenn es mal soweit ist“. Nun ist es langsam soweit, und er ist nicht mehr da.
Ich empfinde den Verlust doppelt hart, denn ich hatte mich auf sein „zusammen schaffen wir das“ verlassen, es war meine Rettung aus einer jahrzehntelangen Angst gewesen.
Der Verlust des geliebten Menschen macht sich auf vielen Ebenen bemerkbar und berührt alle Bereiche meines Lebens.
„Ersatz“ ist kaum zu finden – wieviel kann man Verwandten und Freunden wirklich dauerhaft zumuten? Und wie weit reicht die Kraft, sich Unterstützung zu suchen, um Hilfe zu bitten, Support zu organisieren?
Kraft ist ja das, was am meisten gebraucht wird und am wenigsten vorhanden ist, weil die Trauer soviel davon verzehrt. Nun kommt also neben der Anstrengung des täglichen Aufstehens und den Tag Meisterns, der Arbeit und dem dauernden Abbremsen des Gedankenkarussels noch eine weitere Aufgabe hinzu: die zunehmende Pflegebdürftigkeit des schwerkranken Vaters, der zwar geistig voll auf der Höhe ist, aber körperlich in rasendem Tempo verfällt.
Noch geht es nur darum, einmal pro Woche zum Duschen hinzufahren und vor und nach Arztterminen zur Stelle zu sein. Schon sehr bald wird das nicht mehr reichen, und ich muss sehr genau aufpassen, wann es für mich zuviel wird (physisch, mental, psychisch und zeitlich) und wie ich mir Unterstützung organisiere.
Und eigentlich muss ich genau jetzt anfangen: Muss mir Informationen holen, zur Beratung zum Pflegestützpunkt gehen, vielleicht schon mal prophylaktisch Kontakt zu (SAPV-)Pflegediensten oder ambulanten Hospizdiensten aufnehmen. Der Entwicklung immer möglichst einen Schritt voraus sein, vorbereitet sein, einen Plan, Informationen, Adressen, Kontakte haben.
Und genau dafür habe ich im Moment so gar keine Kraft, also vertröste ich mich selbst: Ich erledige jetzt erstmal dieses Projekt für die Lieblingskundin. Fahre zwei-, dreimal zum Vater und schaue, wie es geht. Schaue, wie es sich bei ihm entwickelt. Warte mal ab, wie sich die angestrebte neue Therapie auswirkt. Und strecke nebenbei schon mal die Fühler aus.
Im Moment wüsste ich ja nicht mal, welche Fragen ich bei einem Beratungsgespräch stellen sollte, es ist alles ein großer Wust diffuser Ängste. Ich muss das zunächst mal sammeln, sortieren, strukturieren. Fragen formulieren. Vielleicht schon mal das eine oder andere recherchieren. Mich mit dem Thema (und meinen Gefühlen dazu) vertraut machen.
Babyschritte.
„Den Berg in Hügel aufteilen“ wie H. immer sagte.
Der erste Schritt: Anerkennen, dass da eine Situation entsteht, der ich mich auf Dauer nicht entziehen kann. Anerkennen, dass ich ein Problem mit dieser Situation habe. Anerkennen, dass meine Sorgen und Ängste vor Überfoderung berechtigt sind. Anerkennen, dass meine Bedürfnisse (und Grenzen) in dieser Situation genauso viel zählen wie die jedes anderen Beteiligten.
Ich bin sehr dankbar, dass sowohl meine Freunde wie meine Trauerbegleiterin mir hierbei zur Seite stehen und mir den Rücken stärken…
Ja, das sind Sorgen, die man in unserem Alter hat (auch wenn ich es leichter habe, da ich noch zwei Geschwister habe und meine Mutter im selben Haus wie mein Bruder wohnt.) Dazu die Frage: wer pflegt uns einmal.
Eine ganz wichtige Frage, gerade für die ohne Kinder – und auch die mit Kindern möchten es – und sich – den ihren vielleicht gar nicht mehr so selbstverständlich zumuten…