9. Juni 2022. Donnerstag. Der Kollege in der Galerie sitzt mit einem angeschlagenen Knie zu Hause, und erzählt mir, wie es ihm so ergeht. Eine große Rolle spielt dabei seine Lebensgefährtin L. – ‚L. macht dies, L. sagt das‘, so höre ich es immer wieder.
So sehr ich mich für ihn freue, dass er L. hat (auch wenn diese Beziehung wie jede andere ihre Höhen und Tiefen hat), so sehr geht es mir gegen den Strich, immer wieder ihren Namen zu hören.
Ich bin neidisch auf dieses ‚wir‘. Neidisch darauf, sagen zu können, ‚x hat jetzt ganz viel … gekauft, jetzt probieren wir das mal aus‘. Neidisch darauf, dass jemand von mir spricht: ‚ich war schon ganz verzweifelt, aber x hat sich dann darum gekümmert, und mir einen Termin bei … besorgt‘.
Ich bin neidisch auf die Nähe, auf die Gemeinschaftlichkeit, auf das ‚wir gegen den Rest der Welt‘.
Ich bin neidisch darauf, abends nicht alleine dasitzen und essen zu müssen, nicht alleine im Bett zu liegen, nicht alleine aufzuwachen.
Ich bin neidisch auf die Unterstützung, auf Gesellschaft, auf Geräusche im Nebenzimmer..
Ich bin neidisch auf die Möglichkeit, jederzeit jeden noch so unbedeutenden Gedanken mit jemandem teilen zu können, der sich das geduldig anhört und mir etwas dazu sagt, wenn ich es möchte. Auf die Möglichkeit, jederzeit mit einem vertrauten und wohlwollenden Menschen sprechen zu können.
Ich hatte das alles, und es wurde mir von einer Minute auf die andere entrissen. Weg. Vorbei.
Das Leben streckt mir die Zunge raus und zeigt mir den Stinkefinger.
Der Kopf hat es relativ schnell begriffen, aber die Seele streckt auch nach 16 Monaten noch greinend die Händchen aus und will auf den Arm. Will festgehalten werden. Will Sicherheit, Wärme, Geborgenheit, Gemeinschaftlichkeit. Will Zugehörigkeit.
Zugehörigkeit. Teil von etwas zu sein. Teil eines ‚Wir‘.
Das ist das, womit ich im Laufe meiner Trauerzeit am meisten hadere: Dass da kein ‚Wir‘ mehr ist. Dass es zwar Freunde und Bekannte gibt, aber keiner von all diesen Menschen mir so nahe ist – oder mir jemals so nahe kommen könnte – wie es H. war.
Und dass das im Grunde die große Sehnsucht ist: Nach dem einen, der mich „auf den Arm“ nimmt, für mich da ist, komme, was da wolle.
Und für den umgekehrt ich da sein kann. Um den ich mich sorgen und kümmern kann, der den ganzen Tag irgendwo im Hintergrund in meinen Gedanken ist, sei es beim Einkaufen (‚Ach, H. mag das doch so gerne, das hole ich mal wieder‘), sei es bei der Arbeit (‚Ich werde H. nachher fragen, vielleicht hat er noch eine Idee dazu‘), sei es bei alltäglichen Dingen (‚Ich mache das später, das macht jetzt zuviel Lärm, H. soll ruhig noch ein bisschen schlafen‘).
Liebe, die ins Leere läuft. Fürsorge, die kein Ziel mehr findet. Sorgen, die ungetröstet bleiben.
Teil von etwas zu sein. Gemeinschaftlichkeit. Zugehörigkeit. – Das ist die große Sehnsucht und das, was momentan am meisten fehlt.
Ja, ich kann gut allein sein. Ja, ich habe viele Menschen in meinem Leben. Ja, ich habe Hilfe und Unterstützung – als ich wegen einer Covid-Infektion zehn Tage in Isolation musste, boten am ersten Tag fünf Menschen an, für mich einkaufen zu gehen, und als ich Stress mit dem Finanzamt hatte, wurde mir ohne Umstände Geld geliehen. Ich bin nicht vereinsamt. Ich bin nicht ohne Support.
Aber das ist alles für den Kopf, für praktische Dinge. Die Seele, die innere Vierjährige, fühlt sich alleingelassen und möchte auf den Arm. Sie möchte sich an jemanden kuscheln und sich sicher und geborgen fühlen. Sie möchte nicht von a nach b rennen, wenn sie irgendein Bedürfnis hat. Sie möchte Mama. Oder Papa. Oder Oma. Ihre Bezugsperson halt. Aber die ist weg. Und die Kleine kann – und will – nicht begreifen, dass sie nie zurückkommt.
Kann es Ersatz geben? Kann jemand anderes diese Rolle übernehmen?
Sicher, mit der Zeit. Es wird nicht dasselbe sein, aber es kann wieder gut sein.
Höchstwahrscheinlich binde ich mich nie wieder mit Haut und Haaren an einen anderen Menschen – die Angst vor einem erneuten Verlust ist zu groß.
Aber all die Liebe und Fürsorge, die in mir ist, die will irgendwo hin. Im Moment bekommen meine Freunde und Kollegen sie ab.
Ja, Kollegen. Denn ich habe mir eine Gemeinschaft gesucht, zu der ich gehören möchte. Ein ‚Wir‘.
Ich hatte kurz nach H.s Tod diese Menschen getroffen, die eine Galerie betreiben. Sie haben ebenfalls persönliche Erfahrungen mit schweren Verlusten, und bei ihnen fühlte ich mich von Anfang an gesehen und aufgehoben, weil sie verstehen, wie es mir geht. Weil sie es nicht seltsam oder anstrengend finden, wenn ich plötzlich beim Erklingen einer Melodie oder beim Erwähnen eines Ortes in Tränen ausbreche. Weil sie damit umgehen können, dass ich nicht dauerhaft gleichmäßig belastbar bin. Dass ich sehr gute und sehr schlechte Tage oder Wochen habe.
Von Anfang an schlich ich im diese Galerie herum und wollte Teil dieses Teams sein, wollte dazugehören, wollte mich dort aufgehoben fühlen.
Kurz nach der Beisetzung bot ich meine Hilfe an und wurde erstmal vertröstet. Heute weiß ich, ich war noch nicht so weit, und sie wussten das auch. Damals war ich mutlos, dachte, ich passe da nicht hin. Fühlte mich – erneut – alleingelassen.
Ein halbes Jahr später machte ich einen erneuten Anlauf, und diesmal ging es ganz schnell – zwei Tage später wurde ich zum gemeinsamen Gespräch eingeladen, und dann wurde es festgemacht: ich arbeitete fortan ehrenamtlich in der Galerie mit und kann mich im Gegenzug mit dem Laptop in die Räumlichkeiten setzen und dort arbeiten, wenn mir zu Hause die Decke auf den Kopf fällt.
An die Galerie angeschlossen sind etliche Projekte, die teils mit Kunst/ Kultur zu tun haben, teils aber auch ganz andere Sachen. Mir ist freigestellt, wo ich mitarbeiten möchte und in welchem Umfang, das Ganze ist ein bisschen wie ein Kollektiv organisiert, jeder hat gleiche Rechte und Pflichten, die anstehende Arbeit wird wöchentlich im Team verteilt.
Acht Monate bin ich jetzt dort, und für mich war es wie nach Hause Kommen. Meine Lebensrettung.
Natürlich ersetzt ein solches Team keine Beziehung. Natürlich gibt es traurige Tage, an denen es mich angreift, dass alle mit oder zu ihren Partnern heim gehen und auf mich nur eine leere dunkle Wohnung und ein Abend allein wartet.
Die Sehnsucht nach „dem einen“ für mich ist immer noch da. Der Verlustschmerz ist nach wie vor beinahe unerträglich. Der Neid auf diejenigen, die das haben, was mir entrissen wurde, ist immer noch stark.
Da ist kein ‚Ersatz‘, keine ‚Heilung‘, kein ‚Trost‘.
Aber da ist das Gefühl, dass es da draußen noch ein Leben gibt, das sich zu leben lohnt. Da ist die Gewissheit, dass ich nicht allein sein werde, wenn es mir schlecht geht. Da ist die Hoffnung, dass auch ich eines Tages wieder Teil eines ‚Wir‘ sein kann und sein werde.
Ersatz gibt es nicht – Heilung und Trost vielleicht mit der Zeit. Aber es dauert. Alles Gute.
Ich hadere noch mit meiner Definition von „Ersatz“. Dasselbe wird es nie wieder geben, das ist klar. Aber vielleicht etwas anderes, ebenso- nur anders – Gutes. Dass da nichts mehr kommen soll, geht gar nicht.
Ich freue mich auch, dass hier wieder geschrieben wird. Einiges empfinde ich nach einer (selbstgewählten) Trennung ähnlich. Habe mir selbst und dem ehemaligen Partner das „wir“ genommen. Erkenne den Wert dieses Wirs erst jetzt gänzlich. Bewundere diese bewusste Suche nach Neuem, z.B. die Arbeit in der Galerie. Denke auch oft, ich müsste doch diese oder jene Chance nutzen und mache dann doch nichts.
Wünsche alles Gute und viel Kraft und bedanke mich für das Teilen der Gedanken!
Auch ich komme erst jetzt dazu, die Chancen zu nutzen und lange bebrütete Änderungswünsche tatsächlich zu realisieren. Man muss dieses Bedürfnis wirklich in sich spüren – müsste, sollte, könnte machen einem selbst nur das Leben schwer. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, machst Du es. Wenn Du es im Moment nicht machen willst, ist der Zeitpunkt eben nicht richtig.
Das mit der Trennung hast Du ja auch gemacht. Vertrau auf Dich selbst und mach Dir keinen Druck. Es kommt. Und wenn nicht, ist es nicht richtig oder wichtig. Wenn die Trennung noch nicht allzu lange her ist, musst Du auch diese noch betrauern. Gib Dir Zeit!
Und danke für die lieben Worte…
Ja, das wäre schön, wenn man „richtige“ und „wichtige“ Impulse immer daran erkennen könnte, dass sie sich dann auch tatsächlich (relativ leicht) in die Tat umsetzen liessen. Und du hast ja selbst vom inneren Sklaventreiber geschrieben, der sich (zum Glück!) aber durch eine gute Argumentation in die Ecke verbannen lässt (Aufgabe ist nicht leicht, Umstände auch nicht, es gibt gute Gründe – Zeit-, Kraft-, Ressourcenmangel, andere Prioritäten -, die erklären, warum man Wichtiges und Richtiges nicht tut). Aber so richtig gute Gründe hab ich eigentlich nicht. Es sei denn, Bequemlichkeit gehört dazu. Aber Selbstgeißelung ist kein konstruktiver Weg, damit umzugehen, das stimmt auch.
In jedem Fall vielen Dank für die Antwort. Und alles Gute für die anstehende Putz-, Entrümpel- und Räumaktion!