Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Gedankenkarussell

12. Juni 2022. Sonntag. Was tun, wenn sich die Gedanken an etwas festbeißen, was nicht durchdenkbar, nicht durch Nachdenken lösbar ist? Wenn sie ewig um dieselben Fragen kreisen, auf die so keine Antwort gefunden werden kann?

Fast immer hilft es, den Standort zu wechseln, den Blickwinkel. Entweder physisch, indem ich aufstehe, woanders hingehe, etwas mit den Händen tue, was gleichzeitig ein wenig Konzentration erfordert und so den Kopf anderweitig beschäftigt.
Oder mental, indem ich bewusst an bestimmte Dinge denke – zum Beispiel meinen Tagesablauf oder ein Projekt plane – oder indem ich ein Selbstgespräch mit meiner inneren Therapeutin führe, die mir kluge Fragen stellt, etwa ‚Frau X, was denken Sie gerade? Und wie fühlen Sie sich dabei, während Sie das denken?‘ Immer siezt sie mich, das schafft Distanz, und Distanz ist das, was ich in diesen Momenten brauche.

Der Kopf muss anderes zu tun bekommen, sonst lässt er nicht locker. Lesen hilft nicht, in jeder Geschichte sucht der Kopf Ankerpunkte, um zu seinem Gedankenkarussell zurückkehren zu können. Film schauen ist das gleiche.
Nein, der Kopf muss mit greifbaren Dingen zu tun bekommen, „realen“ Dingen.

Mal drehen sich die Gedanken um einen Menschen, den ich kurz nach H.s Tod kennengelernt habe und den ich sehr schätze und der mir ein Herzensmensch geworden ist. Die innere Vierjährige will bei ihm auf den Arm und sich an seinen weichen Pullover kuscheln, die Erwachsene sehnt sich nach Nähe, nach vertraulichen Gesprächen, nach einer freundschaftlichen Umarmung hier und da; danach, dass er in meinem Leben, meinem Alltag präsent ist.
Es ist keine Verliebtheit, aber irgendetwas in mir scheint der Überzeugung zu sein, dass es unbedingt dieser Mensch ist, der ein Vertrauter und enger Freund werden muss.
Und wenn wir mal eine Zeitlang keinen Kontakt hatten, beginnen irgendwann die Gedanken um ihn zu kreisen, und das sind keine sinnvollen oder hilfreichen oder konstruktiven Gedanken, sondern eher eine Art Besessenheit, wahllose Schnipsel, Erinnerungen, Bilder, Situationen, Gespräche, Begegnungen.

Ein anderes Mal kreisen die Gedanken um meine Zukunft: Wer bin ich, wer will ich sein, was will ich tun? Auch das sind keine Gedanken, die irgendeine Form von Planung beinhalten, irgendetwas steuern wollen, sondern wahllose Fantasiebilder, wie ich mich gerne sehen würde, was für ein Mensch ich gerne sein würde. Ich sehe mich in Situationen mit anderen Menschen, ich sehe mich in bestimmter Kleidung (allerdings bin ich 10 Zentimeter größer und 30 Kilo leichter), ich sehe mich umgeben von Herzensmenschen und guten Freunden jeden Alters, im Kreise meiner „Großfamilie“, der Tag hat 72 Stunden und ich Kraft und Energie ohne Ende, und Geld scheint auch keine Rolle zu spielen.

Wieder ein anderes Mal sind es schwarze Gedanken, an denen ich mich festbeiße: Ich werde immer allein bleiben, irgendwann krank werden, von Altersarmut betroffen sein, ohne Zähne in einem zugigen, feuchten Loch leben und mich von Nudeln für 29 Cent ernähren. Ich werde niemanden haben und von allen als die verrückte Alte angesehen werden, die ihr Leben verpfuscht hat. Meine Herzensmenschen sind alle tot, und ehemalige Bekannte sagen ‚Schade, sie war mal ganz ok, und sie hatte doch alle Möglichkeiten, aber irgendwas ist wohl schief gelaufen…‘.

Die Trauerbegleiterin sagt, diese Gedanken seien normal – ich sei noch dabei, zu akzeptieren, dass das alte Leben mit H. zu Ende ist, und würde schauen, wie mein zukünftiges Leben aussehen könnte.
Dass diese Gedankenkarussells und das Festbeißen ein Teil des Trauerprozesses seien. Dass meine Seele an möglichst viel Vertrautem festhalten möchte, während gleichzeitig mehr und mehr Raum und Offenheit für Neues entstehe. Neue Menschen, neue Aktivitäten, neue Zukunftsperspektiven – aber natürlich auch alte Ängste, alte Probleme, alte Lösungswege.

Ich akzeptiere, dass die Seele diese Zeit braucht, aber diese Gedankenkarussells lähmen mich, blockieren mich, treiben mich zum Wahnsinn, stürzen mich in depressive Verstimmungen, nehmen mir die Lebensfreude.
Also versuche ich, den Blickwinkel zu wechseln, den Standort zu ändern.
Was manchmal schwer ist, denn die Gedanken entwickeln einen unglaublichen Sog – ein Teil von mir will sie denken.

Aber was bei der Vermeidung unangenehmer Arbeiten funktioniert, klappt auch hier: Es wird Geschirr gespült, der Schreibtisch aufgeräumt, der Kalender aktualisiert, eine Schubade aufgeräumt. Es wird spazieren gegangen, jemand angerufen, Briefe geschrieben.
Alles, nur jetzt nicht darüber nachdenken…

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