Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Die nächste Baustelle

5. Juli 2022. Dienstag. Die Mutter ist gestürzt, in Glas gefallen, hat Schnittwunden. Ich soll kommen.

Also rase ich hin, schaue mir das an, entscheide: Feuerwehr/Notarzt rufen. Die kommen, nehmen sie mit ins Krankenhaus, wo das genäht wird und geschaut, ob sie innere Verletzungen hat.
Währenddessen bleibe ich in ihrer Wohnung, um die blutigen Sachen auszuwaschen.

Und bin entsetzt. Die Wohnung ist ein Chaos, Küche und Bad starren vor Dreck.
Ich war dieses Jahr noch nicht bei ihr in der Wohnung gewesen, wir haben uns immer irgendwo in der Stadt getroffen, das habe ich sogar unterstützt, weil sie zu wenig raus geht.

Aber dass es bei ihr so schlimm aussieht, habe ich nicht geahnt.
Ich verstehe, dass man vielleicht den Boden nicht mehr wischen kann. Dass man nicht jeden Tag Geschirr spült, weil einem das Stehen schwer fällt. Dass man gewaschene Wäsche irgendwo stapelt, falls man doch die Energie aufbringt sie zu bügeln, und das dann nie passiert und dann lebt man halt aus diesem Wäschehaufen.
Aber dass man alles versiffen lässt, den Kühlschrank voll mit abgelaufenen Lebensmitteln hat, die teilweise vor sich hin schimmeln, ausgelaufene Flüssigkeit auf dem Küchentisch antrocknen und festkleben lässt, Tüten vom Supermarkt monatelang unausgepackt lässt (nur die frischen Sachen entnimmt, das immerhin)…

Ich sehe, dass es ihr nicht gut gehen kann, auch wenn sie am Telefon immer fröhlich und guter Dinge klingt.

Bei mir mischen sich Entsetzen, Verständnis, Mitgefühl und schlechtes Gewissen gleichermaßen.
Ich weiß, sie will mich nicht belasten, weil ich mit dem Vater, von dem sie sich vor Jahrzehnten hat scheiden lassen, viel zu tun habe, außerdem mit meiner Arbeit, der Trauer, meiner eigenen Wohnung.

Aber dass es so gar keinen Hilferuf, keine Andeutung gab, spricht ja auch dafür, dass sie es nicht öffentlich machen will. Aus Scham, aus schlechtem Gewissen, vielleicht auch mit dem Gedanken ‚ich ruhe mich jetzt mal aus, und dann mache ich das alles wieder schön‘. Und dass sie es vielleicht irgendwann auch einfach nicht mehr sieht. Verdrängt. Weil es schmerzhaft ist oder Angst macht, zuzugeben, dass man sich eigentlich nicht mehr angemessen versorgen kann.
Die Angst „ins Heim“ zu müssen ist ihr Leben lang übergroß.
Überschattet alles, verstellt anscheinend auch den Blick für andere Möglichkeiten.

Wir werden in absehbarer Zeit ein ernstes Gespräch führen müssen.
Und ich habe die nächste Baustelle.

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2 Gedanken zu “Die nächste Baustelle

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