Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Einen schönen Tag zum Sterben…

14. Juli 2022. Donnerstag. …hast Du Dir ausgesucht, lieber Papa:
Die Sonne scheint von einem wolkenlosen, strahlend blauen Himmel, es ist angenehme 24 Grad warm, die Vögel singen, es grünt und blüht, es sind Ferien, die Menschen haben gute Laune und Zeit, es ist Vormittag, der Tag liegt frisch und vielversprechend vor uns, das Wochenende ist schon zu erahnen.

Diesen Zeitpunkt hast Du Dir ausgesucht, um zu gehen, und Du konntest oder wolltest die halbe Stunde nicht mehr auf mich warten, damit wir uns verabschieden können.
Schweigend hatten wir gestern Abend noch lange beisammen gesessen, ein friedliches, einvernehmliches Schweigen war das, es gab nichts Wichtiges mehr zu sagen.

Außer vielleicht das: Du bist mir in den letzten anderthalb Jahren auf eine Art ans Herz gewachsen, die ich nie für möglich gehalten hätte, und Du wirst eine unglaublich große Lücke in meinem Leben hinterlassen.

Du warst sicher nicht der beste Papa der Welt, zumindest für mich konntest Du es nicht sein – falsche Zeit, falsche Mutter, falsches Geschlecht, beängstigend schlau, erschreckend anders.
Aber in den letzten Jahren konntest Du mich zumindest respektieren lernen und auf dem Umweg über H. sind wir uns sogar ein klein wenig nahe gekommen.

Nach seinem Tod brachst Du auf eine Weise körperlich zusammen, die mich ahnen ließ, was er Dir bedeutet haben muss und wie schwer sein Tod Dich traf.

Du begannst abzubauen. Kamst zweimal kurz hintereinander ins Krankenhaus, berappeltest Dich wieder, aber im Grunde ging es bergab. Du brauchtest nun rund um die Uhr Dein Sauerstoffgerät, wurdest immer schwächer, schafftest immer weniger.

Aber Du sorgtest für Dich: Zwangst mich in meiner großen, frischen Trauer, mit Dir alle Papiere und Unterlagen durchzugehen – Du hattest alles „für den Notfall“ vorbereitet. Holtest mich als betreuende Angehörige ins Boot und bekamst die ersehnte Pflegestufe. Suchtest Dir eine Haushaltshilfe, besorgtest Dir einen Hausnotruf, beantragtest ein Pflegebett, schöpftest das System vollständig aus, nahmst in Anspruch, was Dir zustand.

Du wurdest milder in den letzten Monaten, und wir kamen uns näher. Führten lange und offene Gespräche. Ich begann, von meinem Leben zu erzählen, der Arbeit in der Galerie, meinen Freunden.
Du sprachst über den Frust des Schwächerwerdens, über nächtliche Angstattacken und Alpträume. Sprachst zum ersten Mal vom Pflegeheim: „Wenn es so weitergeht, muss ich bald dahin. Informiere Dich bitte mal.“

Und nun bist Du gegangen – ungewöhnlich schnell ging es am Ende, selbst die Ärzte waren überrascht.
Ob Du wirklich schon bereit warst oder Dich, wie so oft in Deinem Leben, in Dein Schicksal fügtest? Ich weiß es nicht.

In Gedanken durchlebe ich jede unserer Begegnungen in den letzten Wochen, höre Deine Stimme in meinem Kopf, lausche unzähligen Gesprächsfetzen. Sehr intensiv habe ich die letzte Zeit mit Dir erlebt, und obwohl es oft höllenanstrengend war, habe ich mich auf jedes Treffen, über jeden Anruf gefreut.

Ich hätte gerne noch sehr viel Zeit mit Dir gehabt – gerade jetzt, wo wir anfingen, uns besser – und neu – kennenzulernen. Gerade jetzt, wo Du anfingst, wirklich ein Papa für mich zu sein.

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6 Gedanken zu “Einen schönen Tag zum Sterben…

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