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Identitätskrise

14. April 2023. Freitag. Wir definieren uns (und werden definiert) über die Dinge, die wir besitzen, über unsere Handlungen und Gewohnheiten, über unsere Werte und Vorstellungen, unsere Wünsche und Träume.

Stirbt ein nahestehender Mensch, ändert sich das ganze Gefüge unseres Lebens. Vielleicht verlieren wir Dinge, weil wir uns ihren Unterhalt nicht mehr leisten können, oder wir trennen uns von ihnen, weil sie schmerzhafte Erinnerungen hervorrufen. Handlungen und Gewohnheiten können allein nicht mehr ausgeübt werden oder snd nicht mehr mit denselben Gefühlen verbunden oder laufen ins Leere. Die bisherigen Wünsche und Träume machen plötzlich keinen Sinn mehr oder lassen sich nicht mehr verwirklichen. Werte und Vorstellungen werden in Zweifel gezogen und hinterfragt.

Unsere bisherige Identität existiert plötzlich nicht mehr.
Je nach Todesfall sind die Veränderungen mehr oder weniger gravierend, aber ‚die, die ich war, bin ich nun nicht mehr‘, so das Gefühl. Auch nicht mehr ‚die, die ich sein/ werden wollte‘.
Mit dem Tod des geliebten Partners ist auch ein mehr oder weniger großer Teil meines Lebens, meiner Identität, meiner Person gestorben.

„Trauer ist vor allem Selbstmitleid“, sagt eine Freundin, „junge“ Witwe wie ich.
Ich gebe ihr insofern recht, dass ein Großteil der Trauer sich um den eigenen Schmerz dreht – um den Schmerz des Verlustes nicht nur des geliebten Menschen, des Sexualpartners, des Ratgebers, des Freundes, des Kochs, des Reisegefährten usw., aber eben auch um den Schmerz des Verlustes der eigenen Identität, des eigenen Lebens.

Nicht nur muss man viele Bereiche seines Lebens neu organisieren, man muss Aufgaben des Partners nun selbst übernehmen (oder mühsam Unterstützung durch andere finden), man muss das Alleinsein aushalten, die Tatsache, dass ich nicht mal eben schnell rübergehen oder anrufen kann, um etwas zu fragen oder einen Gedanken zu teilen, man muss mit dem Verlust körperlicher Zärtlichkeit und Geborgenheit klarkommen.

Aber man muss eben auch sich selbst neu organisieren. Herausfinden, wer man jetzt ist – und wer man künftig sein möchte. Welcher Besitz macht mir noch Freude? Welche Handlungen und Gewohnheiten machen noch Sinn, geben mir Sicherheit und ein Gefühl von das bin ich? Welche Werte und Vorstellungen geben mir Halt? Und ganz besonders schwierig: Wo will ich von hier aus hingehen? Welche Wünsche und Träume habe ich jetzt noch? Wie kann ich neue entwickeln?

Die äußere Umwelt verändert sich, die Wahrnehmung meiner Person durch mich und andere verändert sich, ich verändere mich.

Anders als bei einem freiwilligen Ausbruch aus dem bisherigen Leben geschieht all dies höchst unfreiwillig. Ich wurde schreiend und um mich tretend aus meinem gemütlichen Zuhause gezerrt und in eine Welt geworfen, in der ich nicht sein will, niemals sein wollte.
Ja, diese Welt bietet Möglichkeiten, von denen ich nichts ahnte, sicher passieren mir auch gute Dinge – aber ich wollte niemals hierher! Ich will hier nicht sein!

Zu akzeptieren, dass es keinen Weg zurück gibt, ist die eigentliche Trauerleistung.
Zu akzeptieren – und sich irgendwann vielleicht sogar damit anzufreunden -, dass sich plötzlich alles verändert hat – meine Welt, ich, meine Wahrnehmung der Welt und meiner Person, die Wahrnehmung meiner Person durch andere – das ist die gigantische Arbeit, die man nach dem Tod einer nahestehenden Person machen muss.

Diese Arbeit gleicht einer Häutung. Mir wächst eine neue Haut, und bis sie fertig ist, bin ich extrem empfindlich und verletzlich. „Dünnhäutig“ im wahrsten Sinne des Wortes.

Plötzlich treffen mich Dinge, die ich in besseren Zeiten mit einem Schulterzucken abgetan habe.
Eine unbedachte Bemerkung einer Freundin kann mich tief verletzten.
Ein gehetztes Telefonat mit einem, der sich immer viel Zeit für mich genommen hat, verunsichert mich zutiefst.
Dinge, die schief gehen – und sei es nur, dass ich einen Teller fallenlasse – stürzen mich in eine Existenzkrise.

In dieser dünnhäutigen Phase des Suchens, der Neuorientierung, des mich neu Findens bin ich extrem bedürftig nach Bestätigung, nach Zuwendung, nach Halt, nach Sicherheit. Nach einem so bist Du oder zumindest einem so sehe ich Dich.
Jede vermeintlich „negative“ Sicht auf mich verunsichert mich zutiefst: Bin das wirklich ich? Meint er mich oder ist er mit eigenen Dingen beschäftigt? Mache ich ‚das‘ richtig?

Dazu kreisen endlos die Gedanken: Wer war ich vor diesem Todesfall? Vielleicht sogar vor der Beziehung zu dem verstorbenen Menschen? Inwieweit hat er/ sie mich geprägt, mich zu der gemacht, die ich bis zu seinem/ ihrem Tod war? Was ist davon noch übrig? Was macht noch Sinn? Was will, was kann ich behalten? Welchen Verlust will ich betrauern, welchen begrüßen? Was soll Neues kommen? Wo will ich hin? Wer will ich zukünftig sein? Was soll mich definieren? Wie möchte ich selbst mich sehen und von anderen gesehen werden? Wofür will ich stehen?

Das ist die Arbeit.
Und die ist unglaublich anstrengend und wahnsinnig schmerzhaft.
Und nicht nach einem „Trauerjahr“ abeschlossen.

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WG

11. Februar 2023. Samstag. Neues tun ist anstrengend. Der Kopf baut schon eine Weile um (‚Bin ich noch? Wer bin ich jetzt? Wer will ich sein? Wohin soll die Reise von nun an gehen? Schaffe ich das? Wie sorge ich dafür, nicht allein zu sein?‘), nun ist der Körper dran. Es zuckt und ziept und drückt und schmerzt und juckt an den unmöglichsten Stellen in den unerwartetsten Situationen. Ein Schmerz im Rücken, der mich seit Jahren zuverlässig begleitet, ändert plötzlich die Intensität und die Reaktion auf Gegenmaßnahmen. Plötzlich klappt nicht mehr, was sich lange bewährt hat, dafür funktionieren andere Sachen wieder. Neue Beschwerden sind hinzugekommen, andere haben sich verändert, alles scheint in Bewegung.

Zur Trauerfrau sage ich, ich fühle mich gerade wie ein Gast im eigenen Körper. Als würde ich in einer durchgeknallten WG wohnen, wo ständig urplötzlich eine Tür aufgerissen oder zugeknallt wird, jemand überraschend über den Flur rennt, dabei unverständliches Zeug brüllt oder aus einem Raum plötzlich laute Musik dröhnt und ebenso unvermittelt wieder abbricht. Währenddessen sitze ich in der Küche, versuche, ruhig zu bleiben und in all dem einen Sinn zu entdecken, oder wenigstens ein Muster.

„Hoffentlich müssen Sie nicht irgendwann ausziehen, weil es Ihnen zuviel wird!“ scherzt sie lachend. Und ich denke: Deshalb möchte ich wahrscheinlich momentan so viel schlafen und bin immer erschöpft. Um dem Chaos für eine Weile zu entkommen. Weil Ausziehen keine Option ist. Entweder ich gewöhne mich, oder die Mitbewohner beruhigen sich und wir finden einen Weg, miteinander klarzukommen.

Aber irgendwie genieße ich dieses Chaos auch, sitze eigentlich gern in meiner imaginären WG-Küche, in der Hand eine große Tasse Milchkaffee, auf dem Tisch Reste des umfangreichen Frühstücks und beobachte halb fasziniert, halb amüsiert das Chaos um mich herum. Genieße die Lebendigkeit, das Durcheinander, die Möglichkeiten, die Überraschungen. Das Neue.
Habe Vertrauen, dass alles irgendwann zur Ruhe kommen wird – aber dass ich mit einer kleinen Veränderung, einer neuen Gewohnheit, einer ungewohnten Aktivität auch wieder Unruhe stiften kann, wenn es mir zu eintönig wird.

Dieser unbändige Lebenshunger…

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69

7. Februar 2023. Dienstag. „Dein Stoffwechselalter ist 69 Jahre“ sagt der Jungspund, der mir gegenüber sitzt und schaut mich erwartungsvoll an. „Aha“ sage ich lahm. Was soll man dazu auch sagen? Ich bin 54 Jahre alt, fühle mich in den letzten Monaten zunehmend unfit und lahm, deswegen sitze ich jetzt in diesem Fitness-Studio diesem Endzwanziger gegenüber, der mich wieder auf Trab bringen soll. 69? Fühlt sich gar nicht so falsch an…

Irgendwas sieht er wohl in meiner Mimik – oder vielleicht irritiert ihn auch das ausbleibende Entsetzen – jedenfalls fügt er schnell und beflissen hinzu: „Das sagt natürlich nicht viel aus, es heißt nur, dass Dein Stoffwechsel ziemlich auf Sparflamme läuft und Du zu wenig Muskelmasse im Körper hast. Aber deswegen bist Du ja hier, um das zu ändern!“ – „Ja, klar.“

Das „Du“ gefällt mir, ich werde von Angehörigen dieser Generation eher nicht mehr geduzt, selbst hier in Kreuzberg nicht. Aber es ist wohl Firmenpolitik, in einem anderen Zusammenhang wäre der Junior sicher beim vermeintlich respektvolleren „Sie“ geblieben.

Und so schleppe ich nun jeden dritten Tag meinen muskelmassearmen sesselliebenden Körper in das Fitness-Studio, lasse ihn an mysteriösen Geräten Stangen wegdrücken oder Griffe ziehen, versuche, nicht vom Laufband zu fallen (anscheinend gehe ich auch sehr unrund, denn ich will immer links herunterkippen) und zähle die Sekunden, die ich irgendeine Muskelgruppe angespannt halten muss – „und dabei das Atmen nicht vergessen!“

Die Hoffnung: Irgendwann wieder in einem Rutsch meine drei Etagen hinaufgehen zu können, ohne anhalten und verschnaufen zu müssen. Mit Einkauf! Oder länger als zehn Minuten ohne Rückenschmerzen gehen zu können, weil sich mein chronisch verspannter Nacken (Computerarbeit! Im Home Office!!) ein Pendant im unteren Rücken gesucht hat, das er zu heftigen Kontraktionen und damit Schmerzen reizt, sobald ich von meinem Arbeitsplatz aufstehe und herumlaufe. Einem schlimmeren Schaden im zunehmend pieksenden und wackligen Knie vorbeugen.

Die Ursachen sind klar: Ich habe die letzten zwei Jahre zum Großteil damit verbracht, mich um kranke oder sterbende Menschen und schließlich um deren Beisetzung und Nachlässe zu kümmern – und ganz nebenbei auch noch um meine Erwerbsarbeit. Da blieb wenig Zeit für ausgedehnte Spaziergänge, Radtouren, Schwimmen und ähnliche Aktivitäten. Hinzu kommt, dass die vier bis fünf jährlichen Aufenthalte in K. weggefallen sind, wo wir immer viel bergauf und bergab liefen, viel wanderten, Gartenarbeit machten usw. Eben aktiv waren. Das bisschen Wohnungen ausräumen und Sachen von A nach B schleppen, zählt irgendwie nicht. Beziehungsweise ohne das wäre mein Stoffwechselalter vermutlich 79 Jahre.

Nun also gegensteuern. Und, wie meine Trauerbegleiterin freudig sagte als ich ihr die Neuigkeit eröffnete (das war nämlich ausnahmsweise nicht wochenlang überlegt und von langer Hand geplant, sondern ein reichlich spontaner Entschluss, für dessen Umsetzung Freundin K. nachdrücklich sorgte): „Jetzt tun Sie endlich mal was für Ihren Körper – für sich!“

Jo.

Ich habe ja beschlossen, dass dieses Jahr „mein“ Jahr wird, es jetzt mal „um mich“ geht. Da mir das Ganze dann doch etwas schwammig war als Ziel, beschloss ich Ende Januar als verspäteten Neujahrs-Vorsatz: ‚Du machst jetzt jeden Monat etwas Neues!‘ Also etwas nachhaltig Neues, nicht nur ein neues Restaurant oder Kochrezept ausprobieren oder so.

Das erste Neue war (quasi in vorauseilender Vorsatz-Erfüllung) eine Reise im Dezember auf die Kanaren. Neu in mehrfacher Hinsicht: Es war meine erste Flugreise seit Mitte der 1990er Jahre, es ging in ein spanischsprachiges Land, ich reiste mit Freundinnen, und es war die erste Reise seit H.s Tod.

Nun im Januar also der Entschluss, ins Fitness-Studio zu gehen, und für den Februar habe ich den Einstieg in eine berufliche Neuorientierung geplant, aber da muss ich noch schauen, ob mein Bestatter zeitlich in die Pötte kommt, ich will nämlich bei ihm ein Praktikum machen und herausfinden, ob dieser Beruf was für mich wäre. Vielleicht wird das auch erst im März starten, aber es zählt zum Februar, denn da habe ich das initiiert.

Weiter ist noch nichts geplant, das reicht ja auch erstmal. Obwohl ich mir für den März ein kreatives Projekt vorstellen könnte, um endlich anzufangen, all die Dinge auszudrücken, die ich im Kopf und in der Seele herumtrage.
Mal sehen.
Aufbruch…

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Beim zweiten Mal ist es leichter. Aber es tut deshalb nicht weniger weh.

13. August 2022. Samstag. Endspurt. Am Dienstag wird der Vater beerdigt. Ab jetzt arbeite ich nur noch Listen und Tagespläne ab, das gibt Sicherheit und Ruhe und Struktur. Ich habe so gut geplant und vorgearbeitet, dass ich dieses Mal wirklich die Zeit und den Raum habe, den Prozess bewusst wahrzunehmen und nicht wie im Hamsterrad zu rennen.
Zeit habe, ausgiebig mit Verwandten und Bekannten zu telefonieren, Erinnerungen auszutauschen, Unsicherheiten wegen der Beisetzung zu zerstreuen.
Raum habe, auch mal einfach eine halbe Stunde mit dem Fotoalbum in der Hand dazusitzen und zu weinen.
Dinge, die erst viel später nach H.s Tod und Beisetzung möglich waren.

Der Tod des Vaters ist natürlicher, denn auch wenn er zu früh und überraschend kam, so kann man in seinem Fall doch eher akzeptieren, dass die Zeit gekommen war. Es war letztendlich ein Tod mit Ansage.
Das macht es leichter zu akzeptieren.
Natürlich mindert das nicht die Trauer, aber die Schockphase ist kürzer und weniger intensiv.

Hilfreich ist auch, dass ich „das alles“ vor anderthalb Jahren schon durchgemacht habe. Ich weiß, was zu tun ist. Ich weiß, was wichtig ist. Ich weiß, wo ich Zeit brauche. Ich weiß, was ich abgeben und wo ich mich auf andere verlassen kann. Es hilft, dass ich den Bestatter kenne und weiß, wie er arbeitet. Es hilft, Freunde an meiner Seite zu haben, mit denen ich das alles schon mal durchgestanden habe. Es hilft, die Abläufe zu kennen, sowohl formal wie auch emotional.

Es ist die fünfte Beerdigung in anderthalb Jahren, an der ich planerisch und organisatorisch beteiligt war, da entwickelt sich bei aller emotionalen Anstrengung doch auch eine gewisse Routine: H.s Beisetzung, dann die von Freund F. im November, die von H.s Freund T. in K. im Dezember, letztens eine des befreundeten Bestatters, bei der ich ihn unterstützt hatte und nun die des Vaters.
Bestimmte Sachen nehme ich nicht mehr so wichtig, vertraue den beteiligten Menschen und Abläufen, konzentriere mich eher auf die eigenen Gefühle und die anderen Trauernden. Erlebe bewusster, weiß, wann ich Zeit brauche, was Energie frisst und was auch ohne mein Zutun funktioniert.
Das macht vieles leichter.

Ich erlebe den Prozess des Abschiednehmens bewusster und intensiver als bei H. Bei seiner Beisetzung war ich noch gar nicht in der Lage zu glauben, geschweige denn die Bedeutung zu erfassen, dass er nicht mehr da ist. Des Vaters Tod war zwar schmerzlich, aber ich hatte kein Problem, die Tatsache zu akzeptieren.

Die Trauergefühle gelten nun für beide: Wenn ich Fotos des Vaters ansehe und weine, so fast immer bei Bildern, auf denen er mit H. zu sehen ist. „Beide fort“ denke ich dann und das zerreißt mich fast. Wenn ich weine, dann gleichermaßen um die beiden. Und um mich, weil ich jetzt ohne sie weitermachen muss und das doch nicht will.

Ich weine gerne, und ich möchte gar nicht getröstet werden. Ich frage die Trauerrednerin, warum alle unbedingt vermeiden wollen, dass man weint, dass die Tränen schnell wieder getrocknet werden, warum sie das Weinen so schlecht aushalten können.
Sie meint, dahinter stecke die Angst, mit dem Weinen nicht mehr aufhören zu können.
Ein interessanter Gedanke…

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Unbegreiflich.

9. August 2022. Dienstag. Du hast diese Aschekapsel und Du hast diese Fotos. Und es ist einfach unbegreiflich, dass der Mensch von diesen Fotos sich jetzt in dieser Kapsel befinden soll. Dieser Mensch, mit dem Du vor kurzem noch gesprochen hast, dessen Hand Du gehalten hast, dessen Wange Du geküsst hast.
Du hebst die Urne an, spürst ihr Gewicht, drückst sie an Dein Herz, weil Du den Menschen nicht mehr drücken kannst. Er ist da und zugleich fort.

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Interferenzen

30. Juli 2022. Samstag. Die Verluste überlagern sich, vermischen sich, verstärken und vermindern sich gleichermaßen – wie Wellen in einem großen Gewässer, die aus verschiedenen Richtungen kommen und hier bei mir aufeinandertreffen.

Ich sitze an H.s Rechner und wundere mich plötzlich, warum der Vater dieses oder jenes Programm hatte – weil ich kurz glaube, an des Vaters Rechner zu sitzen.

Beim ersten Besuch des Vaters auf der Intensivstation sah ich stattdessen H. im Bett liegen und erlebte einen winzig kurzen Moment des Glücks, dass H. aus dem Koma aufgewacht sei und mit mir reden könne.
Und kurz eine tiefe Enttäuschung, dass dies nicht der Fall war.

Ich denke jetzt seltener an H., die Erinnerungen und Gedanken beziehen sich auf den Vater. Der Verlustschmerz um H. manifestiert sich eher in einer allgemeinen Sehnsucht nach Nähe, Schutz, Zuwendung, Aufmerksamkeit, Interesse, Gemeinschaftlichkeit.

Wenn ich weine, vermischt sich alles, ich weine gleichermaßen um H., um den Vater und um mich. Und ich weine dreimal so heftig.

Es gibt jetzt sehr viel mehr Dinge, die die verschiedensten Erinnerungen und Gefühle triggern – eigentlich beinahe alles. Das ist extrem anstrengend.

Die Gemeinsamkeiten oder gemeinsamen Interessen, die H. und der Vater hatten, sind für mich nun beinahe unerträglich geworden.

So gibt es höhere Wellen und Bereiche, wo fast keine Bewegung spürbar ist, und an anderer Stelle taucht plötzlich ein unerwarteter Strudel auf.

Des Vaters Tod hat mich nicht so einschneidend in meiner aktuellen Existenz getroffen, hat nicht wie H.s Tod meine Gegenwart und meine Zukunft mit sich gerissen. Sein Tod betrifft eher die Vergangenheit, die in einem anderen Licht betrachtet, neu bewertet und abgeschlossen werden muss.

Andere Aufgaben liegen nun vor mir, Aufgaben, für die ich keine Kraft zu haben glaube, weil ich noch mit den Aufgaben beschäftigt bin, die aus H.s Tod resultieren.

Meine Umgebung ist müde geworden und hat keine Lust mehr auf meine Trauer. Ich befand mich auf einem guten Weg – dass ich jetzt von zehn gegangenen Schritten wieder sechs zurückgefallen bin, ist schwer auszuhalten. In das ‚Ach Du Arme!‘ mischt sich unüberhörbar ein überdrüssiges ‚Nicht schon wieder!‘
Selbst der Bestatter ist nur halbherzig bei der Sache, weil ‚Na, Du kennst das ja. Du weißt ja Bescheid.‘
Ich kann es ihnen nicht verdenken, denke und fühle ja manchmal selber so, weil ich irgendwann nicht mehr kann.

Das Floß, das in ruhigeres Fahrwasser geraten war, ist wieder den Wellen und Untiefen ausgesetzt, und erneut klammere ich mich am glitschigen Holz fest – mit weniger Kraft aber mehr Wissen.

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Besser so?

28. Juli 2022. Donnerstag. Wenn ich Menschen die Kurzversion von H.s Tod erzähle (Herzinfarkt morgens beim Kaffeemachen in der Küche, sofort bewusstlos, später im Krankenhaus gestorben – die zwei Wochen künstliches Koma lasse ich oft unter den Tisch fallen oder erwähne sie nur am Rande), kommt unweigerlich früher oder später (eher früher) der Satz: „Im Grunde war es so aber doch besser für ihn. So schnell zu sterben ohne großes Leiden.“

Ist das so?

Jetzt, nach des Vaters Tod, der ein Tod war mit Ankündigung, mit einem langen „Vorlauf“, bin ich mir nicht mehr so sicher.

Ich weiß, aus der Aussage ‚im Grunde war es so besser‘ spricht in erster Linie die Angst vieler Menschen vor einem langen, qualvollen, schmerzhaften Tod. Die Angst vor Hilflosigkeit, vor Handlungsunfähigkeit, vor Kontrollverlust, vor quälendem Ersticken, vor unerträglichen Schmerzen.

Sie übersehen dabei, dass es noch viele, viele andere Arten zu sterben gibt.

Der Vater hat mir dies eindrücklich demonstriert: Jahrelang krank, dem Tod mehrmals „von der Schippe gesprungen“ (wegen hervorragender ärztlicher Versorgung, guter Selbstheilungskräfte, ausgeprägtem Lebenswillen – wer weiß das schon?), am Ende der zunehmende körperliche Abbau.

Bei der vorletzten akuten Lebensbedrohung vor acht Jahren begann er, seine Angelegenheiten zu regeln. Er erstellte Vorsorgevollmacht, Bankvollmacht und Patientenverfügung, eine Liste wichtiger Versicherungs- und Mitgliedsnummern, eine Anleitung, wie man sich „im Ernstfall“ auf seinem Rechner zurechtfände. Er setzte mich als Verantwortliche ein und stellte mir seinen jüngeren Bruder und H. als Unterstützung zur Seite.
In diesem Jahr war H.s Mutter gestorben und er hatte wohl den Eindruck, H. sei in der Lage, sich um „diese Dinge“ kümmern zu können, sei mir also „im Notfall“ eine Hilfe.
(Ich setze das in Anführungsstriche, weil bei all dieser Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben das Wort „Tod“ nie erwähnt wurde.)

Als H. Anfang letzten Jahres starb, schrieb er alles nochmal um, erstellte alles nochmal neu. Strich H.s Namen und den des Bruders aus allen Verfügungen, übertrug nun die gesamte Verantwortung mir allein.
Und ordnete alle seine Angelegenheiten. Erstellte auf seinem Rechner einen Notfallordner, darin alle wichtigen Unterlagen zu Kranken- und Pflegeversicherung und Rente und Beihilfe, zu Bankkonten, Versicherungen, Mitgliedschaften. Erstellte einer Liste seiner Verwandten, Freunde und Bekannten mit Telefonnummern und Adressen, die im Todesfall zu benachrichtigen seien. Markierte farbig, wer, sofern möglich, unbedingt zur Beerdigung kommen solle. Er ließ seine Wohnung neu streichen – was er seit Jahren vorgehabt hatte, aber nun war klar, dass er das alleine nicht mehr schaffen würde. Er mistete aus, verpackte wohl erstmalig in seinem Leben Geräte und Werkzeuge in beschriftete Kartons und trennte sich von Unmengen Zeug, was er sowieso nicht mehr benutzen würde.

Und er begann, mit mir zu sprechen. Zeigte und erklärte mir alles, ließ mich nach und nach an allen Angelegenheiten teilhaben. Teils, weil es ihm tatsächlich langsam zuviel wurde, aber größtenteils, um vorzusorgen: Dass ich wisse, was ablaufe und was zu tun sei.

Wir hatten zwei lange und anstrengende „Sitzungen“, eine kurz nach H.s Beerdigung und eine im letzten Herbst, weil ich bei der ersten aus nachvollziehbaren Gründen vielleicht 10 Prozent des Gesagten aufnehmen und behalten konnte.
Bei diesen Treffen zeigte und erklärte er mir alles, angefangen bei seinem Medikamentenplan bis hin zur Sterbegeldversicherung. Schlug vor, dass er zu einem Bestatter gehen und alles vorab regeln würde. Ich riet ab, hatte ich doch durch H.s Tod einen wunderbaren Bestatter gefunden, dem ich alles übertragen und bei dem ich mich gut aufgehoben fühlen würde.

Er hatte Zeit, sich auf seinen Tod vorzubereiten – und er hat diese Zeit genutzt. Hat aufgeräumt in seinem Leben, hat sich von Dingen und Träumen und Wünschen und Zukunftsvorstellungen getrennt, hat seine Beziehungen zu anderen Menschen geklärt und alte Konflikte ausgeräumt, hat für mich als seine Nachlassverwalterin alles geordnet und vorbereitet.

Er ist trotzdem nicht leichten Herzens gestorben. Er hing am Leben wie alle anderen, auch wenn sein Aktionsradius immer kleiner wurde, seine Kraft kontinuierlich nachließ und am Ende der Gang zur Toilette einem Marathonlauf gleichkam, so anstrengend wurde ihm die kleinste Tätigkeit.

Er ist sehenden Auges gestorben. Und obwohl er bis zuletzt nicht gehen wollte – wenigstens noch durchhalten bis zum Geburtstag in der kommenden Woche, nochmal Sahnetorte essen, vielleicht sogar nochmal nach Hause kommen und auf der Terrasse sitzen und in den Garten schauen können – frage ich mich:
War das nicht der „bessere“, der „schönere“ Tod? Lebenshungrig bis zum Schluss, die Augen vielleicht mit Bedauern aber in dem Wissen schließend, dass man alles getan hat, sein Leben zu einem „ordentlichen“ Abschluss zu bringen? Am Ende dann vielleicht nicht loslassen wollen, aber es dennoch in dem Wissen tun können, dass man „alles“ getan hat?

Und ich frage mich: Wäre H. nicht auch viel lieber so gestorben?
Würde ich selbst nicht viel lieber so sterben?

Nicht „einfach“ tot umfallen und weg, sondern sehenden Auges und mit der Gewissheit, meinen Lieben kein komplettes Chaos hinterlassen und alles geklärt zu haben?

Ich frage mich.

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Was Kraft gibt

27. Juli 2022. Mittwoch. Schlafen (wenn ich kann). Lesen. Der Kontakt mit ganz bestimmten (wenigen) Menschen. Die Trauergruppe. Die Trauerbegleiterin. Gartenarbeit. In der Natur sein. Sonne. Wind. Wasser. Essen, das ich nicht selber kochen muss. Zeichen der Zuneigung. Eine zärtliche Berührung am Arm. Neubeginn. Klarheit. Ordnung. Ein Gefühl von Kontrolle. Raum und Zeit zur freien Verfügung.

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Alles anstrengend

27. Juli 2022. Mittwoch. Schlafen, träumen, aufwachen, wieder einschlafen, aufstehen, Kaffee kochen, wach bleiben, Mails lesen, Telefonate führen, Menschen treffen, keine Menschen treffen, arbeiten, Briefe lesen, Anfragen beantworten, nachdenken, sich erinnern, schreiben, zusammen sein, allein sein, Termine planen, überhaupt irgendwas planen, fernsehen, einkaufen, abwaschen, aufräumen, irgendwo hinfahren, zu warm, zu kalt, Essen kochen, genug trinken, Müll runterbringen, Ordnung halten, nicht verwahrlosen.

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Viel

24. Juli 2022. Sonntag. Eine anstrengende Woche liegt hinter mir, ich habe alles gut geschafft und überstanden, aber nun bin ich auch erschöpft:

Am Montag Telefonate wegen des Vaters Angelegenheiten (gemietete medizinische Geräte und Dienste abmelden und Abholung organisieren), eine Liste für den Bestatter machen, wo er überall abgemeldet werden muss (Rente usw., den Kleinkram erledige ich selber nach und nach), Telefonat mit der Floristin, ob sie wieder eine Überurne machen kann, mit Blumen aus seinem Garten; eine Liste machen, wer alles eine Trauerkarte bekommen soll. Nachmittags Freundin K. getroffen und zur Trauerbegleiterin gegangen, die nun zwei Wochen verreist. Immerhin gab es diesen Termin noch.

Am Dienstag alles geplant, was jetzt bis zur Beisetzung (und kurz danach) ansteht, alles irgendwie im Kalender sortiert und Aufgabenlisten erstellt. So ist es aus dem Kopf heraus und ich muss jeden Tag nur abarbeiten und ergänzen. Weitere Telefonate: Mit dem Krankenhaus wegen der Autopsie und der Abholung der Papiere, mit der Mutter wegen einer möglichen Aufbahrung/ Abschiednahme, mit dem Bestatter, mit der Verleihfirma der Sauerstoffgeräte. Der Bestatter sendet mir den Bestattungsauftrag per E-Mail, den ich ausfülle und zurückschicke. Was bin ich froh, dass wir befreundet und ein eingespieltes Team sind, so können wir solchen Verwaltungskram nebenbei erledigen und die Treffen für wirklich Wichtiges nutzen. Abends die Trauerkarte gebastelt und bestellt, dafür recht großen Aufwand mit der Bildbearbeitung betrieben, weil auf den schönen Fotos immer jemand rausretuschiert werden musste. Langes Telefonat mit der Cousine.

Am Mittwoch war des Vaters Geburtstag und bei 38 Grad wollte ich seinen Wunsch nach Sahnetorte so nicht erfüllen. Ich versprach ihm, dass wir das nachholen. Ich fuhr in seine Wohnung, goss den Garten, sah Lebensmittel durch und arbeitete mich in seine Krankenkostenabrechnung ein. Nachmittags fuhr ich zur Tante, sie hatte Schoko-Sahne-Torte besorgt (nicht ganz des Vaters Geschmack, aber unserer), und wir saßen lange und redeten. Der Bestatter hatte mir noch ein Formular fürs Standesamt geschickt, das ich ausfüllte. Außerdem die benötigten Urkunden kopiert.

Am Donnerstag Vormittag kam der Bestatter auf dem Weg zum Standesamt bei mir vorbei, sammelte die Unterlagen ein und wir hielten noch ein Schwätzchen und besprachen die nächsten Schritte. Später rief er an und berichtete vom Standesamtsbesuch, wo es ihm gelungen war, die einzige momentan anwesende Mitarbeiterin (alle sind krank oder in Urlaub) zu erwischen. Nachmittags war ich in der Galerie, wo nochmal eine kleine Veranstaltung stattfand. Das sind so nette Leute, es tat gut, mit ihnen zu tun zu haben. Ich hätte das jetzt nicht machen müssen, hätte „natürlich“ zu Hause bleiben können, aber es tat mir gut, was anderes, vertrautes zu machen und normales Leben zu leben. Eine Stunde, in der es sich nicht um Trauer und Tod dreht, war sehr willkommen. Anschließend noch H.s Grab begossen und mir den Platz angeschaut, den wohl der Vater bekommt. Der Kopf heckt schon Pläne für die Bepflanzung aus.

Am Freitag um fünf Uhr aufgestanden, weil zwischen sieben und neun die Medizintechnikfirma zur Wohnung meines Vaters kommen wollte, um die Sauerstoffgeräte abzuholen. Bei einer knappen Stunde Fahrweg musste ich also um sechs los. Der Techniker kam – natürlich – erst um halb neun, bis dahin beschäftigte ich mich damit, Schränke durchzusehen und mir einen Überblick zu verschaffen, wo was ist. Wieder zu Hause holte ich beim Nachbarn das Päckchen mit den Trauerkarten ab, setzte Stecklinge von des Vaters Kletterrose ein und telefonierte mit der Mutter. Der Bestatter rief an und berichtete, dass der Vater wahrscheinlich am Dienstag aus dem Krankenhaus abgeholt werde. Ich packte die Sachen zusammen, die ihm angezogen werden sollen und brachte sie nachmittags beim Bestatter vorbei. Anschließend traf ich die Freundinnen K. und I., die nun ein Winterquartier auf den Kanaren buchen, wohin ich eingeladen bin. Auch die Tanten in Schwaben und in Amerika haben mich eingeladen, wenn ich also irgendwann wieder Reiselust verspüre, gibt es Anlaufstellen. Abends ging ich des Vaters MP3-CDs durch und wählte Lieder für die Trauerfeier aus. Es ist absolut nicht meine Musik, aber ich weiß, ihm hätte sie gefallen, und er hätte sie „angemessen“ gefunden. Nur darauf kommt es mir an.

Gestern war ich ziemlich durch, auch weil ich diese Woche durchgehend sehr schlecht geschlafen habe. Es ist wie damals bei H.s Tod: tagsüber bin ich im Tun, da geht es mir sogar ganz gut, aber nachts kommen Stress und Angst heraus und quälen mich. Es war mir wichtig, die Wohnung wieder ein bisschen in Ordnung zu bringen, aber ich war körperlich kaum in der Lage, viel zu schaffen, so blieb es nach einer kleinen Einkaufsrunde beim Aufräumen, Spülen und Wäschewaschen. Danach war ich fix und fertig, und ich hoffe sehr, dass ich irgendwann körperlich wieder ähnlich belastbar sein werde wie vor H.s Tod.

Auf dem Heimweg vom Supermarkt hatte ich gestern eine Idee für eine Collage. Überhaupt gehen mir seit Monaten Ideen für Zeichnungen, Drucke, Collagen und Gemälde durch den Kopf. Mich überrascht das etwas, denn eigentlich sehe ich mich selbst nicht als künstlerischen Menschen, aber offensichtlich ist etwas in mir, das sich anders ausdrücken möchte, bildhaft, nicht in Worten.
Ich setzte mich also abends an den Rechner und „skizzierte“ die Bildidee digital, werde sie aber irgendwann später auf Papier umsetzen.

Zum erstenmal seit zwei Wochen saß ich mal wieder zwei Stunden konzentriert an einer Sache, das war auch schön.

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