14. April 2023. Freitag. Wir definieren uns (und werden definiert) über die Dinge, die wir besitzen, über unsere Handlungen und Gewohnheiten, über unsere Werte und Vorstellungen, unsere Wünsche und Träume.
Stirbt ein nahestehender Mensch, ändert sich das ganze Gefüge unseres Lebens. Vielleicht verlieren wir Dinge, weil wir uns ihren Unterhalt nicht mehr leisten können, oder wir trennen uns von ihnen, weil sie schmerzhafte Erinnerungen hervorrufen. Handlungen und Gewohnheiten können allein nicht mehr ausgeübt werden oder snd nicht mehr mit denselben Gefühlen verbunden oder laufen ins Leere. Die bisherigen Wünsche und Träume machen plötzlich keinen Sinn mehr oder lassen sich nicht mehr verwirklichen. Werte und Vorstellungen werden in Zweifel gezogen und hinterfragt.
Unsere bisherige Identität existiert plötzlich nicht mehr.
Je nach Todesfall sind die Veränderungen mehr oder weniger gravierend, aber ‚die, die ich war, bin ich nun nicht mehr‘, so das Gefühl. Auch nicht mehr ‚die, die ich sein/ werden wollte‘.
Mit dem Tod des geliebten Partners ist auch ein mehr oder weniger großer Teil meines Lebens, meiner Identität, meiner Person gestorben.
„Trauer ist vor allem Selbstmitleid“, sagt eine Freundin, „junge“ Witwe wie ich.
Ich gebe ihr insofern recht, dass ein Großteil der Trauer sich um den eigenen Schmerz dreht – um den Schmerz des Verlustes nicht nur des geliebten Menschen, des Sexualpartners, des Ratgebers, des Freundes, des Kochs, des Reisegefährten usw., aber eben auch um den Schmerz des Verlustes der eigenen Identität, des eigenen Lebens.
Nicht nur muss man viele Bereiche seines Lebens neu organisieren, man muss Aufgaben des Partners nun selbst übernehmen (oder mühsam Unterstützung durch andere finden), man muss das Alleinsein aushalten, die Tatsache, dass ich nicht mal eben schnell rübergehen oder anrufen kann, um etwas zu fragen oder einen Gedanken zu teilen, man muss mit dem Verlust körperlicher Zärtlichkeit und Geborgenheit klarkommen.
Aber man muss eben auch sich selbst neu organisieren. Herausfinden, wer man jetzt ist – und wer man künftig sein möchte. Welcher Besitz macht mir noch Freude? Welche Handlungen und Gewohnheiten machen noch Sinn, geben mir Sicherheit und ein Gefühl von das bin ich? Welche Werte und Vorstellungen geben mir Halt? Und ganz besonders schwierig: Wo will ich von hier aus hingehen? Welche Wünsche und Träume habe ich jetzt noch? Wie kann ich neue entwickeln?
Die äußere Umwelt verändert sich, die Wahrnehmung meiner Person durch mich und andere verändert sich, ich verändere mich.
Anders als bei einem freiwilligen Ausbruch aus dem bisherigen Leben geschieht all dies höchst unfreiwillig. Ich wurde schreiend und um mich tretend aus meinem gemütlichen Zuhause gezerrt und in eine Welt geworfen, in der ich nicht sein will, niemals sein wollte.
Ja, diese Welt bietet Möglichkeiten, von denen ich nichts ahnte, sicher passieren mir auch gute Dinge – aber ich wollte niemals hierher! Ich will hier nicht sein!
Zu akzeptieren, dass es keinen Weg zurück gibt, ist die eigentliche Trauerleistung.
Zu akzeptieren – und sich irgendwann vielleicht sogar damit anzufreunden -, dass sich plötzlich alles verändert hat – meine Welt, ich, meine Wahrnehmung der Welt und meiner Person, die Wahrnehmung meiner Person durch andere – das ist die gigantische Arbeit, die man nach dem Tod einer nahestehenden Person machen muss.
Diese Arbeit gleicht einer Häutung. Mir wächst eine neue Haut, und bis sie fertig ist, bin ich extrem empfindlich und verletzlich. „Dünnhäutig“ im wahrsten Sinne des Wortes.
Plötzlich treffen mich Dinge, die ich in besseren Zeiten mit einem Schulterzucken abgetan habe.
Eine unbedachte Bemerkung einer Freundin kann mich tief verletzten.
Ein gehetztes Telefonat mit einem, der sich immer viel Zeit für mich genommen hat, verunsichert mich zutiefst.
Dinge, die schief gehen – und sei es nur, dass ich einen Teller fallenlasse – stürzen mich in eine Existenzkrise.
In dieser dünnhäutigen Phase des Suchens, der Neuorientierung, des mich neu Findens bin ich extrem bedürftig nach Bestätigung, nach Zuwendung, nach Halt, nach Sicherheit. Nach einem so bist Du oder zumindest einem so sehe ich Dich.
Jede vermeintlich „negative“ Sicht auf mich verunsichert mich zutiefst: Bin das wirklich ich? Meint er mich oder ist er mit eigenen Dingen beschäftigt? Mache ich ‚das‘ richtig?
Dazu kreisen endlos die Gedanken: Wer war ich vor diesem Todesfall? Vielleicht sogar vor der Beziehung zu dem verstorbenen Menschen? Inwieweit hat er/ sie mich geprägt, mich zu der gemacht, die ich bis zu seinem/ ihrem Tod war? Was ist davon noch übrig? Was macht noch Sinn? Was will, was kann ich behalten? Welchen Verlust will ich betrauern, welchen begrüßen? Was soll Neues kommen? Wo will ich hin? Wer will ich zukünftig sein? Was soll mich definieren? Wie möchte ich selbst mich sehen und von anderen gesehen werden? Wofür will ich stehen?
Das ist die Arbeit.
Und die ist unglaublich anstrengend und wahnsinnig schmerzhaft.
Und nicht nach einem „Trauerjahr“ abeschlossen.