8. März 2020. Sonntag. H. hat die Nacht durchgemacht, ich bin um fünf wach und habe schlechte Gedanken, irgendwann fließen die Tränen, und das tut gut, die Erstarrung löst sich. Wenn jetzt auch noch das Karussell in meinem Kopf langsamer wird und sich ein paar DInge wieder zurechtrücken, ist alles gut.
Ich stehe um sechs auf, mache mich um halb sieben bemerkbar (H. sitzt mit Kopfhörern in seinem Zimmer und bekommt gar nicht mit, dass ich aufstehe). Er gibt mir zehn Minuten Ruhe um zu mir zu kommen, dann redet er trunken auf mich ein, das kann ich nicht so gut haben und blocke ihn ziemlich rabiat ab.
Und wieder bin ich in der Situation, dass ich etwas eigentlich möchte (den geplanten Ausflug machen), aber nicht so, und wenn ich jetzt Kritik äußere, bin ich wieder diejenige, die alles kompliziert macht oder die schönen Pläne über den Haufen wirft. Denn ich will ja auch nicht hören „Ich würde das Geplante gern durchführen, aber nicht mit Dir, wenn Du so bist“. Denn ich bin sicher auch oft eine Zumutung mit meinen Rückzugsbedürfnissen, meiner Gestresstheit, meinen Ansprüchen.
Es ist kompliziert, und diese tausend Ebenen, die ich bei jeder Entscheidung mitdenke, lassen meinen Kopf platzen.
Er macht Anstalten, sich mit Kaffee ein wenig auszunüchtern und ich denke: Versuchen wir es.
Das geplante Ausflugsziel ist Sonntags blöd zu erreichen, der Zug fährt stündlich, aber immer fünf Minuten, bevor der Bus am Bahnhof ankommt, und eine Stunde dort herumhocken, ist nicht so attraktiv. Nach einigem Hin und Her finden wir ein Ausflugsziel, wo wir nur eine halbe Stunde auf den Zug warten müssen und das auch kleiner ist und näher liegt, wo wir also bei Bedarf schnell abdrehen und nach Hause fahren können.
Kurz vor elf nehmen wir den Bus, kurz nach zwölf sind wir am Ziel, spazieren am Fluss entlang bis die Straße wegen Hochwasser unzugänglich ist, dann durch Gassen durch ein altes Örtchen. Sehr hübsch, sehr tot, alle Geschäfte haben wohl schon vor Jahren aufgegeben.
Nach einem Ortsrundgang spazieren wir hinauf in den Weinberg und dort herum, genießen die Aussicht und Himmelsspektakel. Es ist bewölkt, aber immer wieder spitzt die Sonne durch ein Wolkenloch, die Wolken zunehmend dunkelgrau, aber es bleibt trocken. Milder ist es geworden, und auch der Wind ist nicht mehr so eisig wie noch vor ein paar Tagen.
Schön ist es, und meine Rückenschmerzen melden sich sehr, sehr spät und nicht so heftig wie schon. Bringt Yoga also doch etwas?
Zurück im Ort plagt uns Hunger, aber viel an Gastronomie gibt es nicht. Wir sitzen auf einer Bank vor der Kirche und gehen Lokalitäten durch, die am Wanderweg auf einem Zettel angeschlagen waren. Geschlossen. Winterpause. Öffnet um 17:00 Uhr.
Eins finden wir dann doch, die Speisekarte im Internet sieht akzeptabel aus, also machen wir uns auf, das Lokal im Gassengewirr aufzuspüren. Sehr luschig, ein haus aus dem 16. Jahrhundert, innen weiß getünchte Wände und dunkel gebeizte Holzbalken an der niedrigen Decke. Alles sehr schön, das Essen lecker, und im Sommer lockt ein Garten direkt über der Uferpromenade mit Blick auf den Fluss.
Man schenkt Wein von einem der besseren Winzer des Ortes aus, und wir probieren drei ganz wunderbare und sehr, sehr unterschiedliche Rieslinge, von mineralisch mit einem metallischen Beigeschmack und einemHauch von Ananas (Blauschiefer), über einen frischen, spritzigen, sehr süffigen Alltagsriesling hin zu einem feinen, zitrusfruchtigen, leichten Riesling Kabinett (Goldschiefer). Ich bin im Himmel.
Die Rechnung belastet das Reisebudget erheblich, aber dafür war die Fahrt dank Ticket der Nachbarn umsonst, und das sind Erlebnisse, da zehrt man auch in zehn Jahren noch von.
Der Genuss findet ein etwas abruptes Ende, weil wir beim Blick auf die Uhr feststellen, dass wir jetzt entweder laufen müssen, um den Zug zu erreichen, oder noch eine Stunde dableiben, und irgendwie ist uns das dann doch zu lange, also laufen wir durch die Gassen, durch eine Pfütze Hochwasser und schnell, schnell weiter, und gelangen völlig außer Puste am Bahnsteig an als der Zug einfährt..
Zu Hause noch ein paar Dinge nachrecherchieren (Was ist „Blauschiefer“? Und warum schmeckte dieser Wein so metallisch?), Mails abrufen und Nachrichten lesen. Ich spiele etwas, um meine dröhnende Migräne (Sonne, Wind, Wein) zu beruhigen, während H. sich „nur mal eben“ auf dem Sofa ausstreckt und tief schläft als ich um acht zu den Nachrichten hinunterkomme.
Nach 36 Stunden Wachsein ist das ja dann auch legitim.
Woran ich mich erinnern will:
Ein alter Ort, pittoresk dadurch, dass er nicht zur Touristenattraktion aufgehübscht wurde, sondern dass darin Menschen leben, die sich ihr Umfeld schön machen, aber es nicht herausputzen.
What I did today that could matter a year from now:
Rausgehen, einen neuen Ort besuchen.
Was wichtig war:
Ja sagen.
Meditation.
Den Kopf klar bekommen.
Rausgehen.
Laufen.
Steine, Wasser, Wind.
Ausgezeichnetes Essen und Wein.
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