Anna denkt nach, Anna schreibt

Disclaimer & Triggerwarnung

Hier ist nach wie vor viel von meiner Trauer(arbeit) zu lesen. Es ist also viel von Tod die Rede und von meinen widersprüchlichen Trauergefühlen bzw. meinen Versuchen, sie zu verstehen und damit umzugehen. Eigentlich fast ausschließlich.

Hintergrund:
Mitte Januar 2021 erlitt mein langjähriger Lebensgefährte H. einen schweren Herzinfarkt. Danach lag er zwei Wochen im künstlichen Koma und starb Ende Januar 2021, ohne nochmal das Bewusstsein zu erlangen.

Sein Tod hat mein Leben schwer erschüttert und meine Existenz auf den Kopf gestellt. Dementsprechend haben meine Gedanken und Erlebnisse nach wie vor viel mit diesem Verlust zu tun – und mit dem Versuch weiterzuleben.

Im Juli 2022 starb nach langer Krankheit mein Vater – ein Tod „mit Ansage“, der mich trotzdem tief erschütterte, wenn auch auf ganz andere Weise als H.s Tod.

Irgendwann werde ich sicher auch wieder über andere Themen schreiben können. Wenn es soweit ist, werde ich diesen Beitrag hier entfernen. Bis dahin: Seien Sie gewarnt.

(28.7.2022)

Grabsteine auf einem Friedhof im Schnee
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Identitätskrise

14. April 2023. Freitag. Wir definieren uns (und werden definiert) über die Dinge, die wir besitzen, über unsere Handlungen und Gewohnheiten, über unsere Werte und Vorstellungen, unsere Wünsche und Träume.

Stirbt ein nahestehender Mensch, ändert sich das ganze Gefüge unseres Lebens. Vielleicht verlieren wir Dinge, weil wir uns ihren Unterhalt nicht mehr leisten können, oder wir trennen uns von ihnen, weil sie schmerzhafte Erinnerungen hervorrufen. Handlungen und Gewohnheiten können allein nicht mehr ausgeübt werden oder snd nicht mehr mit denselben Gefühlen verbunden oder laufen ins Leere. Die bisherigen Wünsche und Träume machen plötzlich keinen Sinn mehr oder lassen sich nicht mehr verwirklichen. Werte und Vorstellungen werden in Zweifel gezogen und hinterfragt.

Unsere bisherige Identität existiert plötzlich nicht mehr.
Je nach Todesfall sind die Veränderungen mehr oder weniger gravierend, aber ‚die, die ich war, bin ich nun nicht mehr‘, so das Gefühl. Auch nicht mehr ‚die, die ich sein/ werden wollte‘.
Mit dem Tod des geliebten Partners ist auch ein mehr oder weniger großer Teil meines Lebens, meiner Identität, meiner Person gestorben.

„Trauer ist vor allem Selbstmitleid“, sagt eine Freundin, „junge“ Witwe wie ich.
Ich gebe ihr insofern recht, dass ein Großteil der Trauer sich um den eigenen Schmerz dreht – um den Schmerz des Verlustes nicht nur des geliebten Menschen, des Sexualpartners, des Ratgebers, des Freundes, des Kochs, des Reisegefährten usw., aber eben auch um den Schmerz des Verlustes der eigenen Identität, des eigenen Lebens.

Nicht nur muss man viele Bereiche seines Lebens neu organisieren, man muss Aufgaben des Partners nun selbst übernehmen (oder mühsam Unterstützung durch andere finden), man muss das Alleinsein aushalten, die Tatsache, dass ich nicht mal eben schnell rübergehen oder anrufen kann, um etwas zu fragen oder einen Gedanken zu teilen, man muss mit dem Verlust körperlicher Zärtlichkeit und Geborgenheit klarkommen.

Aber man muss eben auch sich selbst neu organisieren. Herausfinden, wer man jetzt ist – und wer man künftig sein möchte. Welcher Besitz macht mir noch Freude? Welche Handlungen und Gewohnheiten machen noch Sinn, geben mir Sicherheit und ein Gefühl von das bin ich? Welche Werte und Vorstellungen geben mir Halt? Und ganz besonders schwierig: Wo will ich von hier aus hingehen? Welche Wünsche und Träume habe ich jetzt noch? Wie kann ich neue entwickeln?

Die äußere Umwelt verändert sich, die Wahrnehmung meiner Person durch mich und andere verändert sich, ich verändere mich.

Anders als bei einem freiwilligen Ausbruch aus dem bisherigen Leben geschieht all dies höchst unfreiwillig. Ich wurde schreiend und um mich tretend aus meinem gemütlichen Zuhause gezerrt und in eine Welt geworfen, in der ich nicht sein will, niemals sein wollte.
Ja, diese Welt bietet Möglichkeiten, von denen ich nichts ahnte, sicher passieren mir auch gute Dinge – aber ich wollte niemals hierher! Ich will hier nicht sein!

Zu akzeptieren, dass es keinen Weg zurück gibt, ist die eigentliche Trauerleistung.
Zu akzeptieren – und sich irgendwann vielleicht sogar damit anzufreunden -, dass sich plötzlich alles verändert hat – meine Welt, ich, meine Wahrnehmung der Welt und meiner Person, die Wahrnehmung meiner Person durch andere – das ist die gigantische Arbeit, die man nach dem Tod einer nahestehenden Person machen muss.

Diese Arbeit gleicht einer Häutung. Mir wächst eine neue Haut, und bis sie fertig ist, bin ich extrem empfindlich und verletzlich. „Dünnhäutig“ im wahrsten Sinne des Wortes.

Plötzlich treffen mich Dinge, die ich in besseren Zeiten mit einem Schulterzucken abgetan habe.
Eine unbedachte Bemerkung einer Freundin kann mich tief verletzten.
Ein gehetztes Telefonat mit einem, der sich immer viel Zeit für mich genommen hat, verunsichert mich zutiefst.
Dinge, die schief gehen – und sei es nur, dass ich einen Teller fallenlasse – stürzen mich in eine Existenzkrise.

In dieser dünnhäutigen Phase des Suchens, der Neuorientierung, des mich neu Findens bin ich extrem bedürftig nach Bestätigung, nach Zuwendung, nach Halt, nach Sicherheit. Nach einem so bist Du oder zumindest einem so sehe ich Dich.
Jede vermeintlich „negative“ Sicht auf mich verunsichert mich zutiefst: Bin das wirklich ich? Meint er mich oder ist er mit eigenen Dingen beschäftigt? Mache ich ‚das‘ richtig?

Dazu kreisen endlos die Gedanken: Wer war ich vor diesem Todesfall? Vielleicht sogar vor der Beziehung zu dem verstorbenen Menschen? Inwieweit hat er/ sie mich geprägt, mich zu der gemacht, die ich bis zu seinem/ ihrem Tod war? Was ist davon noch übrig? Was macht noch Sinn? Was will, was kann ich behalten? Welchen Verlust will ich betrauern, welchen begrüßen? Was soll Neues kommen? Wo will ich hin? Wer will ich zukünftig sein? Was soll mich definieren? Wie möchte ich selbst mich sehen und von anderen gesehen werden? Wofür will ich stehen?

Das ist die Arbeit.
Und die ist unglaublich anstrengend und wahnsinnig schmerzhaft.
Und nicht nach einem „Trauerjahr“ abeschlossen.

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WG

11. Februar 2023. Samstag. Neues tun ist anstrengend. Der Kopf baut schon eine Weile um (‚Bin ich noch? Wer bin ich jetzt? Wer will ich sein? Wohin soll die Reise von nun an gehen? Schaffe ich das? Wie sorge ich dafür, nicht allein zu sein?‘), nun ist der Körper dran. Es zuckt und ziept und drückt und schmerzt und juckt an den unmöglichsten Stellen in den unerwartetsten Situationen. Ein Schmerz im Rücken, der mich seit Jahren zuverlässig begleitet, ändert plötzlich die Intensität und die Reaktion auf Gegenmaßnahmen. Plötzlich klappt nicht mehr, was sich lange bewährt hat, dafür funktionieren andere Sachen wieder. Neue Beschwerden sind hinzugekommen, andere haben sich verändert, alles scheint in Bewegung.

Zur Trauerfrau sage ich, ich fühle mich gerade wie ein Gast im eigenen Körper. Als würde ich in einer durchgeknallten WG wohnen, wo ständig urplötzlich eine Tür aufgerissen oder zugeknallt wird, jemand überraschend über den Flur rennt, dabei unverständliches Zeug brüllt oder aus einem Raum plötzlich laute Musik dröhnt und ebenso unvermittelt wieder abbricht. Währenddessen sitze ich in der Küche, versuche, ruhig zu bleiben und in all dem einen Sinn zu entdecken, oder wenigstens ein Muster.

„Hoffentlich müssen Sie nicht irgendwann ausziehen, weil es Ihnen zuviel wird!“ scherzt sie lachend. Und ich denke: Deshalb möchte ich wahrscheinlich momentan so viel schlafen und bin immer erschöpft. Um dem Chaos für eine Weile zu entkommen. Weil Ausziehen keine Option ist. Entweder ich gewöhne mich, oder die Mitbewohner beruhigen sich und wir finden einen Weg, miteinander klarzukommen.

Aber irgendwie genieße ich dieses Chaos auch, sitze eigentlich gern in meiner imaginären WG-Küche, in der Hand eine große Tasse Milchkaffee, auf dem Tisch Reste des umfangreichen Frühstücks und beobachte halb fasziniert, halb amüsiert das Chaos um mich herum. Genieße die Lebendigkeit, das Durcheinander, die Möglichkeiten, die Überraschungen. Das Neue.
Habe Vertrauen, dass alles irgendwann zur Ruhe kommen wird – aber dass ich mit einer kleinen Veränderung, einer neuen Gewohnheit, einer ungewohnten Aktivität auch wieder Unruhe stiften kann, wenn es mir zu eintönig wird.

Dieser unbändige Lebenshunger…

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69

7. Februar 2023. Dienstag. „Dein Stoffwechselalter ist 69 Jahre“ sagt der Jungspund, der mir gegenüber sitzt und schaut mich erwartungsvoll an. „Aha“ sage ich lahm. Was soll man dazu auch sagen? Ich bin 54 Jahre alt, fühle mich in den letzten Monaten zunehmend unfit und lahm, deswegen sitze ich jetzt in diesem Fitness-Studio diesem Endzwanziger gegenüber, der mich wieder auf Trab bringen soll. 69? Fühlt sich gar nicht so falsch an…

Irgendwas sieht er wohl in meiner Mimik – oder vielleicht irritiert ihn auch das ausbleibende Entsetzen – jedenfalls fügt er schnell und beflissen hinzu: „Das sagt natürlich nicht viel aus, es heißt nur, dass Dein Stoffwechsel ziemlich auf Sparflamme läuft und Du zu wenig Muskelmasse im Körper hast. Aber deswegen bist Du ja hier, um das zu ändern!“ – „Ja, klar.“

Das „Du“ gefällt mir, ich werde von Angehörigen dieser Generation eher nicht mehr geduzt, selbst hier in Kreuzberg nicht. Aber es ist wohl Firmenpolitik, in einem anderen Zusammenhang wäre der Junior sicher beim vermeintlich respektvolleren „Sie“ geblieben.

Und so schleppe ich nun jeden dritten Tag meinen muskelmassearmen sesselliebenden Körper in das Fitness-Studio, lasse ihn an mysteriösen Geräten Stangen wegdrücken oder Griffe ziehen, versuche, nicht vom Laufband zu fallen (anscheinend gehe ich auch sehr unrund, denn ich will immer links herunterkippen) und zähle die Sekunden, die ich irgendeine Muskelgruppe angespannt halten muss – „und dabei das Atmen nicht vergessen!“

Die Hoffnung: Irgendwann wieder in einem Rutsch meine drei Etagen hinaufgehen zu können, ohne anhalten und verschnaufen zu müssen. Mit Einkauf! Oder länger als zehn Minuten ohne Rückenschmerzen gehen zu können, weil sich mein chronisch verspannter Nacken (Computerarbeit! Im Home Office!!) ein Pendant im unteren Rücken gesucht hat, das er zu heftigen Kontraktionen und damit Schmerzen reizt, sobald ich von meinem Arbeitsplatz aufstehe und herumlaufe. Einem schlimmeren Schaden im zunehmend pieksenden und wackligen Knie vorbeugen.

Die Ursachen sind klar: Ich habe die letzten zwei Jahre zum Großteil damit verbracht, mich um kranke oder sterbende Menschen und schließlich um deren Beisetzung und Nachlässe zu kümmern – und ganz nebenbei auch noch um meine Erwerbsarbeit. Da blieb wenig Zeit für ausgedehnte Spaziergänge, Radtouren, Schwimmen und ähnliche Aktivitäten. Hinzu kommt, dass die vier bis fünf jährlichen Aufenthalte in K. weggefallen sind, wo wir immer viel bergauf und bergab liefen, viel wanderten, Gartenarbeit machten usw. Eben aktiv waren. Das bisschen Wohnungen ausräumen und Sachen von A nach B schleppen, zählt irgendwie nicht. Beziehungsweise ohne das wäre mein Stoffwechselalter vermutlich 79 Jahre.

Nun also gegensteuern. Und, wie meine Trauerbegleiterin freudig sagte als ich ihr die Neuigkeit eröffnete (das war nämlich ausnahmsweise nicht wochenlang überlegt und von langer Hand geplant, sondern ein reichlich spontaner Entschluss, für dessen Umsetzung Freundin K. nachdrücklich sorgte): „Jetzt tun Sie endlich mal was für Ihren Körper – für sich!“

Jo.

Ich habe ja beschlossen, dass dieses Jahr „mein“ Jahr wird, es jetzt mal „um mich“ geht. Da mir das Ganze dann doch etwas schwammig war als Ziel, beschloss ich Ende Januar als verspäteten Neujahrs-Vorsatz: ‚Du machst jetzt jeden Monat etwas Neues!‘ Also etwas nachhaltig Neues, nicht nur ein neues Restaurant oder Kochrezept ausprobieren oder so.

Das erste Neue war (quasi in vorauseilender Vorsatz-Erfüllung) eine Reise im Dezember auf die Kanaren. Neu in mehrfacher Hinsicht: Es war meine erste Flugreise seit Mitte der 1990er Jahre, es ging in ein spanischsprachiges Land, ich reiste mit Freundinnen, und es war die erste Reise seit H.s Tod.

Nun im Januar also der Entschluss, ins Fitness-Studio zu gehen, und für den Februar habe ich den Einstieg in eine berufliche Neuorientierung geplant, aber da muss ich noch schauen, ob mein Bestatter zeitlich in die Pötte kommt, ich will nämlich bei ihm ein Praktikum machen und herausfinden, ob dieser Beruf was für mich wäre. Vielleicht wird das auch erst im März starten, aber es zählt zum Februar, denn da habe ich das initiiert.

Weiter ist noch nichts geplant, das reicht ja auch erstmal. Obwohl ich mir für den März ein kreatives Projekt vorstellen könnte, um endlich anzufangen, all die Dinge auszudrücken, die ich im Kopf und in der Seele herumtrage.
Mal sehen.
Aufbruch…

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Kleiner Rück- und Ausblick

30. Dezember 2022. Freitag. Gestern von einer lieben Wegbegleiterin Abschied genommen, die Ende Januar aus Berlin wegziehen wird. Es ist kein endgültiger Abschied, wir werden uns wahrscheinlich im Januar noch einmal in Arbeitszusammenhängen begegnen, außerdem sind mehrere Zoom-Treffen geplant, um unseren Austausch zumindest mal vorläufig fortzusetzen. Trotzdem bin ich heute sehr traurig – wohl weil diese letzten Tage des Jahres insgesamt von Abschieden geprägt sind. Und Abschied ist etwas, was ich als Trauernde ganz schwer hinbekomme, wovon ich jetzt einfach mal genug habe.

Zeit, sich mal das Positive in diesem Jahr ins Gedächtnis zu rufen:

Der erste Todestag von H. im Januar war weniger schlimm als befürchtet. Viele Menschen dachten an mich, schrieben mir, sandten Grüße und gute Wünsche. Das tat unglaublich gut.

H.s Schwester räumte das Haus in K. aus. Mir blieb im April der Transport meiner Sachen – viele, viele Kartons – nach Berlin. Eine Spedition machte es zwar nicht ganz billig aber verhältnismäßig stressfrei möglich. Tatkräftige Unterstützung an beiden Enden tat ein Übriges.

Bis zum Frühsommer hatte ich die meisten Kartons ausgepackt und die Sachen verräumt; übrig blieben Werkzeuge, Maschinen, große Gartengeräte. Für die hatte ich in der Innenstadt ohne Garten, ja sogar ohne Balkon, keine Verwendung. Nun, das würde sich finden.

Die Krankheit des Vaters wurde von Mai bis Juli in rasendem Tempo schlimmer, ich verbrachte mehr und mehr Zeit bei ihm, musste schließlich seinen dann doch überraschend schnellen Tod verkraften.
Und erfuhr erneut eine unglaubliche Welle an Unterstützung von Kunden, Kollegen, Nachbarn, Bekannten, Freunden und Verwandten.

Der Monat bis zur Beerdigung war schwer, noch schwerer die drei Monate danach, in denen ich seine Wohnung ausräumen und auflösen musste. Am Ende stand erneut die Anlieferung vieler, vieler Kartons mit Sachen in meine Wohnung. Immerhin war ich die Gartengeräte aus K. bei einem Hausflohmarkt in des Vaters Wohnung losgeworden.

Nach der Wohnungsübergabe Ende November machte ich mich wenige Tage später auf zu einem Kurzurlaub auf den Kanaren. Zwei Freundinnen und Mit-Witwen hatten sich dort für den Winter ins Exil begeben und luden mich ein, auf ihrer Couch zu übernachten, so dass ich nur den Flug zahlen musste. Meine erste Fernreise seit 17 Jahren!

Trotz eines lästigen Erkältungsinfekts waren diese 8 Tage ein unglaublich schönes Erlebnis: Die Gesellschaft rund um die Uhr, die Gemeinschaftlichkeit, die üppige Natur, die Wärme, die Sonne, das Meer, das Essen, die Menschen – unbeschreiblich wohltuend war das alles.

Und so kam ich zwar krank aber voller Zuversicht Mitte Dezember zurück nach Berlin: Jetzt beginnt ein neuer Lebensabschnitt!

Weihnachten war entspannt, die zwei Wochen seit meiner Rückkehr angefüllt mit netten Begegnungen, guten Gesprächen, Freundschaft, Wärme.

Überhaupt war dieses ein Jahr mit vielfältigen Begegnungen und wunderbaren Menschen, die neu in mein Leben getreten sind: Die Leute aus der Trauergruppe. I., die Mit-Witwe und Dritte im Bund, mit der ich nun auch auf den Kanaren war. S., die Haushaltshilfe meines Vaters. B., sein Nachbar, den ich zwar schon kannte, aber nun ganz neu kennenlernen durfte und der mir so sehr geholfen hat wie kein anderer in diesem Jahr. Die vielen Menschen, die ich über die Galerie kennengelernt habe.

Und natürlich sind da all die Kontakte, die sich vertieft haben, wo aus Bekanntschaften Freundschaften entstanden sind: Der Bestatter. Die Leute aus der Galerie. Die Lieblings-Kundin. Die Trauerrednerin und Trauer-Coach A. Die Trauerbegleiterin B. Die Freundinnen B. und K., die Freunde B. und G., die vielen Bekannten und Weggefährten aus meinem Viertel. Die Cousine und ihre Frau, die mich besuchen kamen und unterstützten. Der Sohn von H.s bestem Freund. Und, und, und…
Menschen, die mich begleitet haben, für mich da waren, mich unterstützt haben.

Sehr vieles, für das ich dankbar bin. Und glücklich.

Die Zeit, die ich mit diesen Menschen hatte. Und weiterhin haben werde!
Die Eindrücke, die ich aufnehmen durfte: in der Natur, auf den Kanaren, im Zimmer von A., die Kunst in der Galerie…
Die Dinge, die ich geschafft habe, die mir vorher beinahe unschaffbar erschienen.
Die Dinge, die ich in der Trauergruppe und bei der Trauerbegleitung erfahren und gelernt habe.
Die Dinge, die ich über mich erfahren und gelernt habe.
Alles, was ich erleben und tun durfte.
Wieviel reicher mein Leben nun, ein Jahr später ist, wieviel sicherer und klarer und aufgeräumter.

Das sind die guten Dinge, die bei aller Traurigkeit und allem Verlustschmerz eben auch ein Teil meines Seins sind und das Schlimme erträglicher und das Leben dennoch lebenswert machen.

Ich sehe mit Dankbarkeit und Erleichterung zurück und mit Bangigkeit nach vorne, denn neue Dinge stehen an und noch weiß man nicht, wie diese sich entwickeln werden:

Die Reise im Januar.
Eine neue, anders geartete Trauergruppe.
A.s Umzug und die Treffen, die künftig per Videokonferenz stattfinden werden und nicht mehr in ihrem gemütlichen Zimmer.
Der Kontakt zu I., einer Frau, die ich über die Galerie kennenlernte und die ich voraussichtlich in den nächsten Monaten auf ihrem ganz anders schweren Weg begleiten werde.
Die Möglichkeit, selbst kreativ tätig zu werden und meiner Trauer auf andere Weise Ausdruck zu geben.
Die Notwendigkeit, all die Sachen aus den drei aufgelösten Wohnungen loszuwerden und meine Wohnung wieder für mich zu haben. dort wieder Leute einladen zu können.
Die Notwendigkeit, eine Lösung für die Mutter zu finden.
Andere Menschen, Impulse, Möglichkeiten.
Dieses neue Jahr.

Möge es für uns alle ein gutes werden.

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Beim zweiten Mal ist es leichter. Aber es tut deshalb nicht weniger weh.

13. August 2022. Samstag. Endspurt. Am Dienstag wird der Vater beerdigt. Ab jetzt arbeite ich nur noch Listen und Tagespläne ab, das gibt Sicherheit und Ruhe und Struktur. Ich habe so gut geplant und vorgearbeitet, dass ich dieses Mal wirklich die Zeit und den Raum habe, den Prozess bewusst wahrzunehmen und nicht wie im Hamsterrad zu rennen.
Zeit habe, ausgiebig mit Verwandten und Bekannten zu telefonieren, Erinnerungen auszutauschen, Unsicherheiten wegen der Beisetzung zu zerstreuen.
Raum habe, auch mal einfach eine halbe Stunde mit dem Fotoalbum in der Hand dazusitzen und zu weinen.
Dinge, die erst viel später nach H.s Tod und Beisetzung möglich waren.

Der Tod des Vaters ist natürlicher, denn auch wenn er zu früh und überraschend kam, so kann man in seinem Fall doch eher akzeptieren, dass die Zeit gekommen war. Es war letztendlich ein Tod mit Ansage.
Das macht es leichter zu akzeptieren.
Natürlich mindert das nicht die Trauer, aber die Schockphase ist kürzer und weniger intensiv.

Hilfreich ist auch, dass ich „das alles“ vor anderthalb Jahren schon durchgemacht habe. Ich weiß, was zu tun ist. Ich weiß, was wichtig ist. Ich weiß, wo ich Zeit brauche. Ich weiß, was ich abgeben und wo ich mich auf andere verlassen kann. Es hilft, dass ich den Bestatter kenne und weiß, wie er arbeitet. Es hilft, Freunde an meiner Seite zu haben, mit denen ich das alles schon mal durchgestanden habe. Es hilft, die Abläufe zu kennen, sowohl formal wie auch emotional.

Es ist die fünfte Beerdigung in anderthalb Jahren, an der ich planerisch und organisatorisch beteiligt war, da entwickelt sich bei aller emotionalen Anstrengung doch auch eine gewisse Routine: H.s Beisetzung, dann die von Freund F. im November, die von H.s Freund T. in K. im Dezember, letztens eine des befreundeten Bestatters, bei der ich ihn unterstützt hatte und nun die des Vaters.
Bestimmte Sachen nehme ich nicht mehr so wichtig, vertraue den beteiligten Menschen und Abläufen, konzentriere mich eher auf die eigenen Gefühle und die anderen Trauernden. Erlebe bewusster, weiß, wann ich Zeit brauche, was Energie frisst und was auch ohne mein Zutun funktioniert.
Das macht vieles leichter.

Ich erlebe den Prozess des Abschiednehmens bewusster und intensiver als bei H. Bei seiner Beisetzung war ich noch gar nicht in der Lage zu glauben, geschweige denn die Bedeutung zu erfassen, dass er nicht mehr da ist. Des Vaters Tod war zwar schmerzlich, aber ich hatte kein Problem, die Tatsache zu akzeptieren.

Die Trauergefühle gelten nun für beide: Wenn ich Fotos des Vaters ansehe und weine, so fast immer bei Bildern, auf denen er mit H. zu sehen ist. „Beide fort“ denke ich dann und das zerreißt mich fast. Wenn ich weine, dann gleichermaßen um die beiden. Und um mich, weil ich jetzt ohne sie weitermachen muss und das doch nicht will.

Ich weine gerne, und ich möchte gar nicht getröstet werden. Ich frage die Trauerrednerin, warum alle unbedingt vermeiden wollen, dass man weint, dass die Tränen schnell wieder getrocknet werden, warum sie das Weinen so schlecht aushalten können.
Sie meint, dahinter stecke die Angst, mit dem Weinen nicht mehr aufhören zu können.
Ein interessanter Gedanke…

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Unbegreiflich.

9. August 2022. Dienstag. Du hast diese Aschekapsel und Du hast diese Fotos. Und es ist einfach unbegreiflich, dass der Mensch von diesen Fotos sich jetzt in dieser Kapsel befinden soll. Dieser Mensch, mit dem Du vor kurzem noch gesprochen hast, dessen Hand Du gehalten hast, dessen Wange Du geküsst hast.
Du hebst die Urne an, spürst ihr Gewicht, drückst sie an Dein Herz, weil Du den Menschen nicht mehr drücken kannst. Er ist da und zugleich fort.

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Interferenzen

30. Juli 2022. Samstag. Die Verluste überlagern sich, vermischen sich, verstärken und vermindern sich gleichermaßen – wie Wellen in einem großen Gewässer, die aus verschiedenen Richtungen kommen und hier bei mir aufeinandertreffen.

Ich sitze an H.s Rechner und wundere mich plötzlich, warum der Vater dieses oder jenes Programm hatte – weil ich kurz glaube, an des Vaters Rechner zu sitzen.

Beim ersten Besuch des Vaters auf der Intensivstation sah ich stattdessen H. im Bett liegen und erlebte einen winzig kurzen Moment des Glücks, dass H. aus dem Koma aufgewacht sei und mit mir reden könne.
Und kurz eine tiefe Enttäuschung, dass dies nicht der Fall war.

Ich denke jetzt seltener an H., die Erinnerungen und Gedanken beziehen sich auf den Vater. Der Verlustschmerz um H. manifestiert sich eher in einer allgemeinen Sehnsucht nach Nähe, Schutz, Zuwendung, Aufmerksamkeit, Interesse, Gemeinschaftlichkeit.

Wenn ich weine, vermischt sich alles, ich weine gleichermaßen um H., um den Vater und um mich. Und ich weine dreimal so heftig.

Es gibt jetzt sehr viel mehr Dinge, die die verschiedensten Erinnerungen und Gefühle triggern – eigentlich beinahe alles. Das ist extrem anstrengend.

Die Gemeinsamkeiten oder gemeinsamen Interessen, die H. und der Vater hatten, sind für mich nun beinahe unerträglich geworden.

So gibt es höhere Wellen und Bereiche, wo fast keine Bewegung spürbar ist, und an anderer Stelle taucht plötzlich ein unerwarteter Strudel auf.

Des Vaters Tod hat mich nicht so einschneidend in meiner aktuellen Existenz getroffen, hat nicht wie H.s Tod meine Gegenwart und meine Zukunft mit sich gerissen. Sein Tod betrifft eher die Vergangenheit, die in einem anderen Licht betrachtet, neu bewertet und abgeschlossen werden muss.

Andere Aufgaben liegen nun vor mir, Aufgaben, für die ich keine Kraft zu haben glaube, weil ich noch mit den Aufgaben beschäftigt bin, die aus H.s Tod resultieren.

Meine Umgebung ist müde geworden und hat keine Lust mehr auf meine Trauer. Ich befand mich auf einem guten Weg – dass ich jetzt von zehn gegangenen Schritten wieder sechs zurückgefallen bin, ist schwer auszuhalten. In das ‚Ach Du Arme!‘ mischt sich unüberhörbar ein überdrüssiges ‚Nicht schon wieder!‘
Selbst der Bestatter ist nur halbherzig bei der Sache, weil ‚Na, Du kennst das ja. Du weißt ja Bescheid.‘
Ich kann es ihnen nicht verdenken, denke und fühle ja manchmal selber so, weil ich irgendwann nicht mehr kann.

Das Floß, das in ruhigeres Fahrwasser geraten war, ist wieder den Wellen und Untiefen ausgesetzt, und erneut klammere ich mich am glitschigen Holz fest – mit weniger Kraft aber mehr Wissen.

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Besser so?

28. Juli 2022. Donnerstag. Wenn ich Menschen die Kurzversion von H.s Tod erzähle (Herzinfarkt morgens beim Kaffeemachen in der Küche, sofort bewusstlos, später im Krankenhaus gestorben – die zwei Wochen künstliches Koma lasse ich oft unter den Tisch fallen oder erwähne sie nur am Rande), kommt unweigerlich früher oder später (eher früher) der Satz: „Im Grunde war es so aber doch besser für ihn. So schnell zu sterben ohne großes Leiden.“

Ist das so?

Jetzt, nach des Vaters Tod, der ein Tod war mit Ankündigung, mit einem langen „Vorlauf“, bin ich mir nicht mehr so sicher.

Ich weiß, aus der Aussage ‚im Grunde war es so besser‘ spricht in erster Linie die Angst vieler Menschen vor einem langen, qualvollen, schmerzhaften Tod. Die Angst vor Hilflosigkeit, vor Handlungsunfähigkeit, vor Kontrollverlust, vor quälendem Ersticken, vor unerträglichen Schmerzen.

Sie übersehen dabei, dass es noch viele, viele andere Arten zu sterben gibt.

Der Vater hat mir dies eindrücklich demonstriert: Jahrelang krank, dem Tod mehrmals „von der Schippe gesprungen“ (wegen hervorragender ärztlicher Versorgung, guter Selbstheilungskräfte, ausgeprägtem Lebenswillen – wer weiß das schon?), am Ende der zunehmende körperliche Abbau.

Bei der vorletzten akuten Lebensbedrohung vor acht Jahren begann er, seine Angelegenheiten zu regeln. Er erstellte Vorsorgevollmacht, Bankvollmacht und Patientenverfügung, eine Liste wichtiger Versicherungs- und Mitgliedsnummern, eine Anleitung, wie man sich „im Ernstfall“ auf seinem Rechner zurechtfände. Er setzte mich als Verantwortliche ein und stellte mir seinen jüngeren Bruder und H. als Unterstützung zur Seite.
In diesem Jahr war H.s Mutter gestorben und er hatte wohl den Eindruck, H. sei in der Lage, sich um „diese Dinge“ kümmern zu können, sei mir also „im Notfall“ eine Hilfe.
(Ich setze das in Anführungsstriche, weil bei all dieser Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben das Wort „Tod“ nie erwähnt wurde.)

Als H. Anfang letzten Jahres starb, schrieb er alles nochmal um, erstellte alles nochmal neu. Strich H.s Namen und den des Bruders aus allen Verfügungen, übertrug nun die gesamte Verantwortung mir allein.
Und ordnete alle seine Angelegenheiten. Erstellte auf seinem Rechner einen Notfallordner, darin alle wichtigen Unterlagen zu Kranken- und Pflegeversicherung und Rente und Beihilfe, zu Bankkonten, Versicherungen, Mitgliedschaften. Erstellte einer Liste seiner Verwandten, Freunde und Bekannten mit Telefonnummern und Adressen, die im Todesfall zu benachrichtigen seien. Markierte farbig, wer, sofern möglich, unbedingt zur Beerdigung kommen solle. Er ließ seine Wohnung neu streichen – was er seit Jahren vorgehabt hatte, aber nun war klar, dass er das alleine nicht mehr schaffen würde. Er mistete aus, verpackte wohl erstmalig in seinem Leben Geräte und Werkzeuge in beschriftete Kartons und trennte sich von Unmengen Zeug, was er sowieso nicht mehr benutzen würde.

Und er begann, mit mir zu sprechen. Zeigte und erklärte mir alles, ließ mich nach und nach an allen Angelegenheiten teilhaben. Teils, weil es ihm tatsächlich langsam zuviel wurde, aber größtenteils, um vorzusorgen: Dass ich wisse, was ablaufe und was zu tun sei.

Wir hatten zwei lange und anstrengende „Sitzungen“, eine kurz nach H.s Beerdigung und eine im letzten Herbst, weil ich bei der ersten aus nachvollziehbaren Gründen vielleicht 10 Prozent des Gesagten aufnehmen und behalten konnte.
Bei diesen Treffen zeigte und erklärte er mir alles, angefangen bei seinem Medikamentenplan bis hin zur Sterbegeldversicherung. Schlug vor, dass er zu einem Bestatter gehen und alles vorab regeln würde. Ich riet ab, hatte ich doch durch H.s Tod einen wunderbaren Bestatter gefunden, dem ich alles übertragen und bei dem ich mich gut aufgehoben fühlen würde.

Er hatte Zeit, sich auf seinen Tod vorzubereiten – und er hat diese Zeit genutzt. Hat aufgeräumt in seinem Leben, hat sich von Dingen und Träumen und Wünschen und Zukunftsvorstellungen getrennt, hat seine Beziehungen zu anderen Menschen geklärt und alte Konflikte ausgeräumt, hat für mich als seine Nachlassverwalterin alles geordnet und vorbereitet.

Er ist trotzdem nicht leichten Herzens gestorben. Er hing am Leben wie alle anderen, auch wenn sein Aktionsradius immer kleiner wurde, seine Kraft kontinuierlich nachließ und am Ende der Gang zur Toilette einem Marathonlauf gleichkam, so anstrengend wurde ihm die kleinste Tätigkeit.

Er ist sehenden Auges gestorben. Und obwohl er bis zuletzt nicht gehen wollte – wenigstens noch durchhalten bis zum Geburtstag in der kommenden Woche, nochmal Sahnetorte essen, vielleicht sogar nochmal nach Hause kommen und auf der Terrasse sitzen und in den Garten schauen können – frage ich mich:
War das nicht der „bessere“, der „schönere“ Tod? Lebenshungrig bis zum Schluss, die Augen vielleicht mit Bedauern aber in dem Wissen schließend, dass man alles getan hat, sein Leben zu einem „ordentlichen“ Abschluss zu bringen? Am Ende dann vielleicht nicht loslassen wollen, aber es dennoch in dem Wissen tun können, dass man „alles“ getan hat?

Und ich frage mich: Wäre H. nicht auch viel lieber so gestorben?
Würde ich selbst nicht viel lieber so sterben?

Nicht „einfach“ tot umfallen und weg, sondern sehenden Auges und mit der Gewissheit, meinen Lieben kein komplettes Chaos hinterlassen und alles geklärt zu haben?

Ich frage mich.

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Was Kraft gibt

27. Juli 2022. Mittwoch. Schlafen (wenn ich kann). Lesen. Der Kontakt mit ganz bestimmten (wenigen) Menschen. Die Trauergruppe. Die Trauerbegleiterin. Gartenarbeit. In der Natur sein. Sonne. Wind. Wasser. Essen, das ich nicht selber kochen muss. Zeichen der Zuneigung. Eine zärtliche Berührung am Arm. Neubeginn. Klarheit. Ordnung. Ein Gefühl von Kontrolle. Raum und Zeit zur freien Verfügung.

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Alles anstrengend

27. Juli 2022. Mittwoch. Schlafen, träumen, aufwachen, wieder einschlafen, aufstehen, Kaffee kochen, wach bleiben, Mails lesen, Telefonate führen, Menschen treffen, keine Menschen treffen, arbeiten, Briefe lesen, Anfragen beantworten, nachdenken, sich erinnern, schreiben, zusammen sein, allein sein, Termine planen, überhaupt irgendwas planen, fernsehen, einkaufen, abwaschen, aufräumen, irgendwo hinfahren, zu warm, zu kalt, Essen kochen, genug trinken, Müll runterbringen, Ordnung halten, nicht verwahrlosen.

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