10. Februar 2022. Donnerstag. Der erste Termin bei der Trauerbegleiterin seit Anfang Januar.
Ausgerechnet in diesem für mich kritischen Monat, in dem sich H.s Zusammenbruch und sein Tod das erste Mal jährten, war sie krank geworden und ausgefallen. Richtig dramatisch mit Krankenhaus, Not-OP und Komplikationen.
Für mich hieß das: Alleine klarkommen. Es irgendwie von Tag zu Tag schaffen. Wieder mit der Arbeit durchstarten. Die Gedenktage für mich gestalten. Eine Balance finden zwischen äußeren Anforderungen (arbeiten, Geld verdienen, einkaufen, kochen, Termine wahrnehmen, mich um Dinge und Menschen kümmern) und inneren Bedürfnissen (nachdenken, Antworten finden, reden, gehört werden, Zuwendung, Zuspruch, Trost, Rat, Schutz).
Wie immer versuche ich, den Termin vorzubereiten, indem ich aufschreibe, was seit dem letzten Mal passiert ist. Dieser kleine Rückblick leitet unsere Treffen in der Regel ein, bevor wir zu meinem „Thema der Woche kommen, über das ich reden will, an dem ich knabbere, zu dem ich ihre Meinung hören will.
Als ich das Geschriebene ausdrucke, sind es vier Seiten. So viel ist passiert. Und das sind greifbare Ereignisse, nicht Gedanken, die ich mir gemacht habe. Kein Wunder, dass ich erschöpft bin.
Und ich denke: Wenn ich ihr das alles erzähle, ist die Stunde rum – und was habe ich davon? Ich bin Geld los, das ich im Moment eigentlich nicht habe, nur um ihr zu erzählen, was sie „versäumt“ hat.
Also denke ich nach, was mein Thema in diesen vergangenen fünfeinhalb Wochen war.
Die Antwort fällt nicht schwer: Überforderung und das Gefühl, allein gelassen worden zu sein. Nicht allein zu sein, sondern allein gelassen. Verlassen. Im Stich gelassen. Ein wichtiger Unterschied.
Und ich sitze im Sessel und lasse nochmal Revue passieren, wie diese beiden Gefühle meine letzten Wochen bestimmt haben, und wie sie letztendlich dazu geführt haben, dass ich nun – endlich! – beginne, aktiv um Unterstützung zu bitten.
Und mein Blick fällt auf meinen „Altar der Liebe und der Kraft“, den ich an H.s Todestag auf meinem Wohnzimmertisch errichtet habe: Eine Ansammlung von Gegenständen, die für Gesten von lieben Menschen stehen, die mir Kraft gegeben und mir gezeigt haben, dass ich gemocht und geschätzt und angenommen werde.
Und genau diese Menschen sind es, die mir jetzt völlig selbstverständlich und unaufgeregt die Unterstützung geben, um die zu bitten ich mich endlich durchgerungen habe.
Obwohl alle selbst furchtbar angestrengt in ihren eigenen Leben und mit ihren eigenen Dingen, Nöten und Sorgen sind.
Und ich spüre, dass die stützenden Säulen, die ich im Januar eine nach der anderen einknicken sah, immer noch da sind und vielleicht stärker dastehen als zuvor.
Und plötzlich weiß ich, wie ich diesen Termin heute nutzen will, und ich packe alles ein, H.s Foto und den Fahrradschlüssel von Freundin B. und den Glücksengel der Lieblingskundin und TSOs Foto und sein „Heul doch!“-Taschentuch und die Steine und den Samen von Freundin K., und ein Taschentuch mit bunten Herzen. Und ich packe das alles in die Dose, in der die Kekse waren, die ich voller Vorfreude auf die Adventszeit in der Galerie gekauft und dorthin mitgenommen hatte (ein erster Ansatz von „Weihnachten macht wieder Sinn, wenn ich es mit diesen Menschen teilen kann“). Und ich packe die Fotoalben ein, das eine, das ich für H.s Geburtstagsfeier gemacht hatte, und das andere, das ich für die Galerie angelegt habe. Und ich denke: Etwas fehlt noch, nämlich ich – und ich nehme ein Kinderfoto, das mich zeigt als ich vielleicht drei Jahre alt bin und strahlend in Gummistiefeln und vom Spielen dreckigen Hosen auf einem Baumstamm sitze und selbstbewusst und offen in die Kamera schaue.
Und ich habe keinen Plan, aber ich will diese Dinge mitnehmen und erzählen: Was gerade wichtig für mich ist und warum. Menschen. Beziehungen. Säulen. Ein Netz. Trost, Rat, Schutz. Unterstützung. Halt.
Und warum es für mich eine große Sache ist, mir diese Dinge zu erlauben. Sie zu suchen. Sie anzunehmen.
Und auf dem Weg zum Termin denke ich nach über diese Dreijährige und wie sie die Welt sah. Und wie sie lernte, mit dem, was sie sah und erlebte, klarzukommen. Wie sie lernte, mit den Gefühlen von Zurückweisung und Enttäuschung zu leben. Und welche Glaubenssätze sie dabei aufstellte, die sie lange begleiteten, teilweise bis heute.
Einige dieser Glaubenssätze sind:
Letztendlich bist Du auf Dich gestellt.
Nur auf Dich selbst kannst Du Dich wirklich verlassen – Verlass Dich auf andere und Du bist verlassen.
Du kannst nicht darauf vertrauen, dass jemand bei Dir bleibt. Du wirst verlassen werden.
Du zählst nicht als Person, Du erfüllst im Leben des anderen eine Funktion.
Du wirst nur so lange geliebt, wie Du dem anderen nützlich bist und die Dir zugedachte Funktion erfüllst.
Deine Bedürfnisse zählen nicht.
Jede Beziehung zu einem anderen Menschen endet früher oder später in einer Enttäuschung für Dich.
Und ich denke an diese Zeit mit Anfang Dreißig, als ich entschied, dass ich ein anderes Leben als bisher führen möchte, dass ich die Welt sehen und die Menschen kennenlernen möchte, als ich ganz plötzlich voller Lebenshunger war, meine Beziehung beendete, meinen Job hinschmiss, reiste, Menschen kennenlernte, viel zuviel trank, in Konzerte ging und lebte, lebte, lebte. Wie ich mehrmals die Woche in meiner Stammkneipe war, unserem „Wohnzimmer“, wo ich andere Leute traf, redete, weinte, lachte, feierte, trauerte. Wo ich meine erste „richtige“ Familie fand – Menschen, die mich mochten und nahmen, wie ich bin. Menschen, die mit mir zusammen sein wollten. Natürlich auch Menschen, die versuchten, mich auszunutzen, für ihre Zwecke einzuspannen. Aber diese Menschen erkannte ich gut und ließ sie nicht zu nahe an mich heran.
Und in diesem Wohnzimmer lernte ich H. kennen, und wir waren mehrere Jahre wirklich gute Freunde, wir lachten zusammen, sponnen herum, diskutierten. Er bot mir Rat und Unterstützung an als ich mich selbstständig machte und voller Fragen und Unsicherheiten war. Im Gegenzug unterstützte ich ihn bei seinem Marketing. Ein Jahr lang stützten wir uns gegenseitig in unserem jeweiligen Liebeskummer mit anderen Partnern, bevor wir dann endlich zusammenfanden, für alle überraschend, denn da deutete sich vorher keine schwärmerische Verliebtheit an, da wurde nicht geflirtet und geworben.
Wir bauten uns über Jahre und Gespräch für Gespräch unsere eigene feste Beziehung und Liebe. Herzklopfende Verliebtheit war nicht unser Ding, wir wollten „the real thing“, wir wollten „Glück“. Und fanden es. Schufen es uns.
Und wir bildeten eine eigene Einheit, die Stammkneipe schloss, das Publikum zog weiter, zerstreute sich, ein Teil fand Herberge in anderen „Wohnzimmern“, ein Teil verschwand, alles löste sich so ein bisschen auf. Natürlich, der harte Kern bewahrte ein Zusammengehörigkeitsgefühl, man knüpfte sofort an, wenn man sich nach Monaten zufällig irgendwo traf, man hatte ja eine gemeinsame Geschichte. Aber man verabredete sich nicht, wir beide zogen uns zurück, trafen die anderen immer seltener, andere neue und alte Paare machten es ähnlich.
Und H. wurde für mich der Mensch, der mich wirklich um meiner selbst willen liebte. Für den ich keine Funktion erfüllte, um sein Ego zu stärken. Dem es um mich ging, um uns. In seinen Armen konnte ich die alten Glaubenssätze ergänzen um: „…außer mit H.“
Dann sein plötzlicher Tod. Der Zusammenbruch meines Lebens.
Und die Seele erinnerte sich: Das letzte Mal, als Dein ganzes Leben umgekrempelt wurde, warst Du Anfang Dreißig und begannst, in die Welt hinauszugehen, Dich den Menschen zu öffnen, zu viel zu trinken und eine neue „Familie“ zu finden.
Und unbewusst tat ich dasselbe, was schon einmal funktioniert hatte: Ich öffnete mich weit wie ein Scheunentor, entwickelte geradezu eine Gier nach Menschen, nach Eindrücken, nach Ideen, nach Kontakt, nach Leben. Suchte händeringend nach einer neuen Familie, nach einem Ort, wo ich mich zu Hause fühle, wo ich Trost, Rat, Schutz und Geborgenheit finde, wo ich angenommen und gemocht werde, wie ich bin.
Ich fand zurück zu Freundin B. aus dem alten „Wohnzimmer“. Und zu anderen Menschen aus dieser Zeit. Ich fand neue Menschen. Und sehr schnell fand ich TSO, klammerte mich mit aller Macht an ihn, verliebte mich umstandslos: Er würde mir geben können, was mir durch H.s Tod entrissen worden war. Und ich fixierte mich auf die Galerie: Hier würde ich die Menschen und das Umfeld finden, wo ich angenommen bin, aufgehoben, gewertschätzt, geborgen. Hier würde ich andocken können.
Ich fand einen Platz in der Galerie. TSO ließ mich bis zu einem gewissen Grad in sein Leben, verhält sich bei aller emotionaler Distanz sehr fürsorglich und beginnt gerade, so etwas wie ein Freund zu werden. Die Freundinnen B. und K. sind meine fast alltäglichen Wegbegleiterinnen geworden. Die Trauerbegleiterin unterstützt und stärkt mich. Andere Bekannte lassen mich spüren, dass sie da sind, dass sie an mich denken, dass ich nicht allein bin. Dass ich geschätzt und gemocht werde.
Aber die alten Glaubenssätze erwachen auch wieder zum Leben:
Liebe und Zuwendung gibt es nur mit Gegenleistung.
Du wist verlassen werden. Hat Dich nicht sogar H. verlassen? Der einzige Mensch, dem Du wirklich vertraut hast?
Du verdienst es nicht.
Der/ die macht sich nicht wirklich was aus Dir, Du bist ihm/ ihr nur nützlich. Sie werden Dich fallenlassen.
Klammer Dich besser nicht zu sehr an diese Menschen, Du wirst nur wieder verlassen und enttäuscht werden.
Und dieser Januar schien alle schwarzen Gedanken zu bestätigen: Freundin B. zog sich aus eigener Überforderung (beruflich, privat) mehr und mehr zurück – nicht meinetwegen natürlich, aber dennoch fühlte ich mich verlassen. Die Trauerbegleiterin wurde krank, ausgerechnet in dieser für mich so schweren Zeit. Auch ihr machte ich natürlich keinen Vorwurf, sorgte mich stattdessen sehr um ihr Wohlergehen (nicht aus Eigennutz, sondern weil ich sie wirklich mag). Aber auch hier fühlte ich mich allein gelassen. Freundin K. war in ihrer eigenen Trauer gefangen, sie war zwar körperlich anwesend (immerhin dringend benötigte Gesellschaft und Ansprache), aber sie brauchte dringend Zuhörer, konnte selbst nicht zuhören. Auch hier: Kein Vorwurf, allergrößtes Verständnis – aber ich blieb mit meinen Sorgen allein. In der Galerie gab es zwar ein paar schöne Begegnungen, aber letztendlich waren alle mit ihren Dingen beschäftigt und drehten am Rad.
So taumelte ich durch den Januar, war komplett überfordert von den ganzen Anforderungen (Arbeit, Eltern, Hausräumung, Geldstress) und fühlte mich gleichzeitig von aller Welt allein gelassen.
Und ich begann nachzudenken. Wurde mir dieser Glaubenssätze bewusst, die mal ein Kind retten sollten, aber nun eine Erwachsene daran hindern, anderen Menschen zu vertrauen, sie in ihr Leben zu lassen, sich dringend benötigte Hilfe zu holen.
Und ich bemerkte Muster. Wurde mir bewusst, welche übergroßen emotionalen Bedürfnisse TSO und die Galerie für mich befriedigen sollten. Was ich mir von den Menschen ersehnte und mir andererseits selbst den Zugang dazu versperrte.
Und ich begann, besser auf meine Bedürfnisse zu hören. Machte den Mund auf, wenn ich mich überfordert fühlte. Bat um konkrete Hilfe und Unterstützung, obwohl ich eine Riesenangst davor hatte – getreu dem Glaubenssatz: Du wirst verlassen, wenn Du nicht mehr nützlich bist. Meine Hilfe eingestehen und damit „nicht mehr nützlich“ sein? Viel zu riskant!
Aber ich wagte es. Bat um Unterstützung.
Und bekam sie umstandslos.
Ich bin ins Nichts gesprungen und wurde aufgefangen. Von Freundin K. Von TSO. Von einer Bekannten, die ich um eine konkrete Hilfestellung bat.
Ich hatte es gewagt, hatte den Mund aufgemacht, meine Schwäche und Hilfsbedürftigkeit eingestanden, und wurde umarmt und gehalten.
TSO fasste es in dem Satz zusammen „Ich bin ja für Dich da, aber ich muss auch wissen, was los ist.“
Und da muss ich mir selbst an die Nase fassen, denn ein alter Glaubenssatz lautet auch:
Zeige nicht, dass Du einen Menschen brauchst. Stell ihn auf die Probe: Wenn er sich wirklich für Dich interessiert, wird er sich um Dich bemühen, wird selbst herausfinden, was Du brauchst und wird es Dir geben. Tut er dies nicht, ist die Beziehung zu ihm nichts wert.
Nun lerne ich, was das für ein toxischer Quatsch ist.
Denn TSO bemüht sich nicht um mich, versucht nicht, herauszufinden, was ich vielleicht brauchen könnte – Trotzdem hat er mich gern und hilft mir bereitwillig, wenn er weiß, was er tun soll.
Anstatt nun herumzusitzen und damit zu hadern, dass er mich nicht „liebt“, sich nicht um mich „bemüht“, sich nicht für mich „interessiert“, setze ich mich hin, überlege, was ich brauche und bitte ihn darum. Und bekomme es umstandslos.
Und selbst Freundin K. stand mir mit Rat und Tat zur Seite, als ich ihr mein Herz ausschüttete – obwohl sie mit ihrer eigenen Trauer kämpft und damit genug zu tun hat. Und die Bekannte hat ebenfalls mehr als genug um die Ohren – und trotzdem tut sie mir den Gefallen, um den ich sie bat.
Und ich merke, wie die alten Glaubenssätze immer noch aktiv sind, denn schon beginne ich, all die Unterstützung, die ich bekomme, wieder zu entwerten:
Ich bin halt doch ganz schön nützlich, da gibt man dann halt ein wenig nach, um mich zu halten.
Es geht im Grunde nicht um mich, sondern um sein Helfersyndrom.
Sie hat ein schlechtes Gewissen und will sich nur revanchieren.
Einfach mal annehmen, dass es Menschen gibt, die mich mögen und mir Gutes wollen?
Fast unmöglich.
Aber bei H. konnte ich das, warum also nicht auch bei anderen?
Und ich beschließe, dass das im Moment mein Thema ist und breite mein kleines „Psychodrama“ vor der Trauerbegleiterin aus.
Und sie ist sehr beeindruckt: Wieviel Mut und Kraft ich beweisen würde, mich diesen alten „Wahrheiten“ entgegenzustellen, sie auf den Prüfstand zu stellen und mich zu trauen, etwas Neues zu versuchen. Etwas für mich zu tun. Für die Kleine, die einmal aus Selbstschutz diese Glaubenssätze aufgestellt hat.
Vertrauen zu wagen und Liebe und Schwäche – auch auf die Gefahr hin, verletzt und verlassen zu werden.
TSO nicht zu zürnen, wenn er das festgesetzte Treffen absagt, weil er einen „besseren“ Weg gefunden hat, die Aufgabe zu erledigen, für die wir uns treffen wollten. Nicht zu hadern, weil mir dadurch eine Begegnung mit ihm entgeht und die Aussicht auf ein gemeinsames Kaffeetrinken und Gespräch, sondern wertschätzen, dass er sich Gedanken macht, wie er mich entlasten kann, indem er mir einen Weg und Zeitaufwand erspart. Sicher zu sein: Wenn das Treffen und das gemeinsame Kaffeetrinken wirklich, wirklich wichtig für mich sind, kann ich ihn darum bitten, es ihm erklären, und er wird kommen, ohne zu maulen.
Alte Glaubenssätze werden gerade erschüttert, und es fühlt sich an wie ein inneres Erdbeben.
Die heutigen Glücksperlen:
- weinen können
- Klarheit gewinnen
- mich sicher und aufgehoben fühlen
- Erinnerungen
- Kraftquellen
- Amselgesang am Morgen
- unser gemeinsam so wunderschön hergerichtete Raum
- seine Wertschätzung
- ein Telefonat – normal, warm, freundschaftlich, respektvoll, unaufgeregt
- eine freudige Begrüßung
- eine Verabredung für morgen
Außerdem:
- Gesehen: Die Eröffnung der 72. Internationalen Filmfestspiele Berlin (Berlinale) – stinklangweilig ohne Anke Engelke. Systemsprenger
- Gehört: Seine Stimme
- Gelesen: Nelson DeMille: Das Spiel des Löwen; immer wieder seine Nachricht
- Geräumt: Im Kopf aufgeräumt und durchgefegt