17. Februar 2021. Mittwoch. Der Schwager hat mir einen Floh in den Kopf gesetzt mit seiner Frage nach dem Haus: Die Gedanken kreisten die halbe Nacht darum. Entsprechend unruhig geschlafen: Vor dem laufenden Fernseher bis Mitternacht, dann noch eine Stunde bei brennendem Licht, dann bis fünf. Vielleicht sieben Stunden. Aufgestanden dann um halb sechs.
Es regnet. Die Amsel singt. Es ist deutlich milder.
Die Überlegungen das Haus betreffend drehen sich um folgende Frage: Behalten ja oder nein. Wenn ja, wie?
Hintergrund: H. gehörten 3/4 des Hauses, mir 1/4. Es gab kein Testament, also gehören H.s 3/4 jetzt seiner Schwester. Diese möchte das Haus gerne als Geldanlage für ihre Kinder erhalten, ich möchte es u.a. erhalten, weil es unser Plan war, dort im Alter zu leben.
Mein 1/4 ist noch nicht abbezahlt. Dass ich der Schwester ihre 3/4 abkaufe, ist finanziell unrealistisch. Warum sollte ich das auch tun? Ich habe niemanden, dem ich ein Haus vererben wollen würde. Ich würde aber vielleicht tatsächlich gerne dort wohnen, das weiß ich eben noch nicht.
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Der Schwager hat einen Telefontermin mit einem Anwalt wegen der Krankenversicherung von H. Was, wenn der Anwalt wenig Hoffnung macht? Steht dann alles wieder in Zweifel? Kommt der ganze Stress nochmal auf den Tisch? – Wohnungs- und Hausauflösung in den nächsten zwei Wochen? Ich halte das nicht aus.
Es ist unerträglich, wenn einem jede Zuversicht fehlt, man wie ein Blatt im Wind von jeder Sorge fortgeblasen wird und sich immer und immer wieder das gesamte Leben auf den Kopf stellt.
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Ich lenke mich ab: Arbeite ein wenig für Kunden, schreibe Begleitbriefe zu den Traueranzeigen, tüte Trauerkarten ein. Hefte Unterlagen ab.
P. ruft an: Ob er H.s Handy bekommen kann, seins fängt an zu macken. Ich sage zu und bereue es kurz darauf. Wie kann ich einfach sein Handy weggeben? Das ist doch ein heiliger Gegenstand! Ich muss nachdenken.
Die Nachbarin aus dem Dorf ruft an, wir sprechen eine Stunde. Ums Haus kreisen schon die Geier, das war ja klar. Das „Wir wollen Dich!“ nehme ich ihr nur halb ab, aber es ist nett.
Die Familie des Sohnes hat Corona, die britische Variante. Alle sind in Aufregung und Angst, verständlicherweise. Es scheint bisher aber keinen allzu schweren Verlauf zu nehmen.
Der Schwager ruft an: Der Anwalt hat keine Ahnung, muss sich einlesen. Wieder alles auf der Kippe.
Der Schwager jammert, weil er sechs (!) Telefonate führen musste (mit der Krankenkasse, mit der Klinik, mit dem Bestatter…). Mein Mitleid hält sich in Grenzen: „Da siehst Du mal, wie es mir in den zwei Wochen ergangen ist als H. im Krankenhaus lag. Das Programm hatte ich jeden Tag!“
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Die gute Bekannte aus dem Nachbarhaus ruft an, fragt, ob wir nochmal spazieren gehen wollen. Ich will! Der Rücken fühlt sich fit, und ich muss diese Anspannung aus dem Körper kriegen.
Wir treffen einen Bekannten, der noch nichts weiß und ehrlich geschockt auf die Todesnachricht reagiert. Ich wirke nicht wie eine trauernde Witwe, das erklärt vielleicht einen Teil seiner Verwirrung.
Wir gehen fast zwei Stunden am Kanal entlang, das tut gut, auch wenn bei Schneematsch und tiefen Pfützen und eisigem Boden das Gehen zuweilen schwer fällt. Außerdem dachte ich, es ist schon alles weggetaut und habe normale Schuhe an, also in kürzester Zeit nasse Füße.
Aber das Gehen selbst ist wunderbar, und der Rücken hält gut durch. Nur tut mir zu Hause die Ferse wieder weh, da scheint es doch einen Zusammenhang zu geben, denn es schmerzt immer entweder das eine oder das andere.
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Eine Kundin von H. bittet mich um Zusendung sämtlicher bei H. gespeicherter Zugangsdaten. Legitimer Wunsch, ich wundere mich, dass sonst noch niemand auf diese Idee gekommen ist.
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Nachmittägliches Telefonat mit M., die ein kleines Handling-Problem in ihrer Textverarbeitung hat.
Versuch, den abendlichen Anruf heute stattdessen ausfallen zu lassen.
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Müde. Vom Spaziergang. Von der psychischen Anspannung am Morgen. Von allem, was zu tun ist. Von den eigenen Gefühlen.
Räume den Feedreader auf. Vier Wochen gesammelte Beiträge.
Keine Kraft für Gefühle, nicht mal für Traurigkeit. Taub.
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Ich schneide die Pellkartoffeln von gestern der Länge nach durch und brate sie auf der Schnittfläche an. Sie schmecken heute fast süß, eine leckere Sorte, obwohl sie hässlich aussahen und schon am Austreiben waren (Bio-Kartoffeln von der Food-Saving-Fensterbank im Treppenhaus letzte Woche). Dazu Buletten von gestern und frisch gekochte Möhren. Ich schlage zu und esse wieder eine „normale“ Portion, wie gestern schon.
Im Fernsehen „Mit siebzehn„. Gut erzählte Geschichte, hervorragende jugendliche Darsteller. Das afrikanische Lied reißt mich.
Trauer.
Nach dem Essen denke ich: Schau, ich habe mich schon an seine Abwesenheit gewöhnt. Im selben Moment wird mir klar, dass das natürlich nur äußerlich ist. Klar, nach fünf Wochen habe ich mich daran „gewöhnt“, allein zu sein, bzw. bin in bekannte Verhaltensmuster gefallen, wenn ich allein bin.
Das heißt aber nicht, dass ich die Ungeheuerlichkeit der Situation – er kommt nie, nie wieder – auch nur ansatzweise begreife oder gar akzeptiere.
Warum wohl kann ich nicht in seine Wohnung gehen? Warum kann ich seine zuletzt getragenen Sachen nicht waschen? Warum verursacht mir der Gedanke, P. sein Handy zu schenken, körperliche Übelkeit?
Im Bett endlich wieder ein paar Tränen weinen können.
Woran ich mich erinnern will:
Mit Menschen reden können, als wäre alles ganz normal.
What I did today that could matter a year from now:
Rausgehen mit B. Eine Umarmung mit angehaltenem Atem.
Was wichtig war:
Mich ablenken.
Hoffen.
Sprechen.
Rausgehen.
Kontakt.
Anrufen.
Kochen.
Essen.
Nachdenken.
Begegnungsnotizen:
Freundin B. (Gemeinsamer Spaziergang, ohne Maske, mit Abstand).
Bekannter R. (ohne Maske, Abstand)
Menschen auf der Straße.