Anna denkt nach, Anna schreibt, Miniaturen

Raum und Zeit

16. Juli 2022. Samstag. Den Vormittag gesessen, erinnert, geweint, aufgeschrieben. Ich schreibe meine Gedanken auf, Erinnerungen, Ideen für die Trauerrede oder die Beisetzung. Versuche, bestimmte Bilder und Erinnerungsfetzen einzuordnen: Bei welchem Besuch haben wir dieses gemacht? Wie ging es ihm da? Wann hat er jenes zum ersten Mal angesprochen? Wann war xy?

Es tut gut, die Zeit und den Raum für diese Gedanken und Erinnerungen zu haben, und sie füllen Zeit und Raum auch aus. Ich vergesse das Essen, irgendwann bekomme ich Hunger, bewege mich in Richtung Küche, dann kommt mir ein Gedanke, dem ich folgen will und den ich aufschreiben möchte, und eine Stunde später denke ich ‚Ich könnte eigentlich mal was essen…‘.

Mittags beschließe ich, meinem ursprünglichen Plan zu folgen und auf dem Friedhof ein wenig zu gärtnern – ich hatte das die ganze Woche geplant und gestern ein paar Pflanzen besorgt, die ich nun nicht auch wieder wegwerfen wollte wie all die Pflanzen vor ihnen, die ich gekauft hatte und die dann eingegangen waren, weil ich nie die Zeit oder Energie fand, hinzufahren und sie einzusetzen.

Ich verabrede mich mit Freundin K., die noch kränklich ist, aber „raus muss“. Ich jäte und pflanze, sie gießt, wir reden über dies und das, auch über den Tod, aber nicht nur. Es ist einfacher mit jemandem, dem es genauso oder ähnlich geht, da steht nicht ständig dieser Elefant im Raum, man kann zusammen lachen, und ein plötzlicher Tränenausbruch führt nicht zu Betroffenheit und Hilflosigkeit – in den Arm nehmen, drücken, weiter geht’s.

Gemeinsam besuchen wir Freundin M., die auch halbkrank zu Hause sitzt. Wir sitzen draußen, schauen in den blauen Himmel, begrüßen Nachbars Katze und später eine vorwitzige Maus, reden über gemeinsame Bekannte. Auch hier ist der Tod kein Thema, aber nicht, weil er vermieden wird, sondern weil es einfach mal gut tut, über anderes zu sprechen.

Abends versinke ich wieder in Erinnerungen. Ich sehe alle meine digitalen Fotos seit 2008 durch und bin ein bisschen erschüttert, dass ich in den letzten zwei Jahren praktisch keine Bilder mehr vom Vater gemacht habe. Gerade in den letzten Monaten, wo er sich so verändert hat – aber ich habe seit H.s Tod generell sehr wenig fotografiert, und die wöchentlichen (oder öfter) Besuche beim Vater waren mir so selbstverständlich, so Alltag geworden, dass ich gar nicht daran dachte, Fotos zu machen. Beim Geburtstag nächste Woche hätte ich ihn fotografiert, aber sonst? Nun tut es mir natürlich leid, denn ich hätte gerne eine Erinnerung gehabt, wie er zuletzt aussah.

Aus seiner Krankenhaus-Tasche ziehe ich die Fleece-Jacke, die er am Freitag auf dem Weg zum Krankenhaus (zur Therapie) anhatte, in der einen Jackentasche eine Packung Taschentücher und einen Inhalator, in der anderen den Schlüssel und ein Spucktuch.

Ich beschließe gleich, dass er diese letzten Klamotten im Sarg tragen soll. Er hätte zu diesem Anlass sicher etwas Formales gewählt, sich in Hemd und Stoffhose gequält, aber ich möchte, dass er es bequem und kuschelig hat, also bekommt er das, was er gern getragen hat. Und er wählte für diesen „offiziellen“ Termin eine „gute“ Jogginghose und ein „gutes“ T-Shirt, nicht das verwaschene, abgetragene Zeug, was er zu Hause anhatte. Und die wärmende Jacke. Also soll er das auch auf seinem letzten Weg tragen.

In der Jacke steckt sein Geruch, der Geruch seiner Wohnung. Er hat nie gestunken, nicht ungewaschen oder nach altem Mann, nach Krankheit und Verfall gerochen. Er roch nach sich, nach Haarwasser oder Deo, nach Rauch.
So riecht auch seine Jacke, ein sehr vertrauter Geruch.
So vertraut, dass ich mit dem Gedanken spiele, die Jacke zu behalten. Aber sein Geruch wird verfliegen, und die Jacke ist mir eigentlich zu klein, und wenn ich sie das erste Mal gewaschen habe, ist es nur eine Jacke, die nicht richtig passt.

Im Moment ist das Bedürfnis stark, ihn in Form dieser Jacke, die seinen Geruch trägt, bei mir zu behalten, aber das wird nachlassen. Und dann stehe ich hier mit einer Jacke, die ich nicht tragen, aber auch nicht weggeben kann, das ist irgendwie auch doof.

Bei H. habe ich gemerkt, dass die Bedeutung von Dingen, von Kleidungsstücken nachlässt. Mit bestimmten Stücken verbindet man konkrete Erinnerungen, da ist das anders, aber nur weil etwas ihm gehört hat, muss ich es nicht behalten.

Aber im Moment möchte ich seinen Geruch aufsaugen, mich erinnern, trauern.
Es wird der Moment kommen, wenn ich loslassen kann.

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